Entscheidungsstichwort (Thema)

Kassiererin. Verkäuferin. Tätigkeitsmerkmal. Verweisung

 

Orientierungssatz

Zwar ist es den in Sachen der Rentenversicherung tätigen Richtern im allgemeinen möglich, die Tätigkeit einer Kassiererin oder Verkäuferin aus eigener Sachkunde zu beurteilen, besondere Fallgestaltungen erfordern jedoch die Hinzuziehung von Sachverständigen.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 13.07.1971)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 13. Juli 1971 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) arbeitete die 1915 geborene Klägerin zunächst als Sprechstundenhilfe und Haustochter. Von Oktober bis Dezember 1940 leistete sie als Verkäuferin Beiträge zur Angestelltenversicherung. In der Zeit von 1942 bis 1950 war sie als mithelfendes Familienmitglied im Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft ihres Mannes tätig und entrichtete Pflichtbeiträge zur Sozialversicherungsanstalt Sachsen. Schließlich war sie von 1952 bis 1960 als Schaufenstergestalterin und anschließend bis 1969 als Inhaberin eines Konfitürengeschäfts selbständig. Ihren Rentenantrag lehnte die Beklagte nach Einholung eines orthopädischen und eines innerfachärztlichen Gutachtens mit Bescheid vom 29. April 1970 ab. Das Sozialgericht (SG) Berlin ließ die Klägerin durch den Orthopäden Dr. B und den Internisten Dr. R begutachten; es verurteilte die Beklagte zur Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente ab 1. Dezember 1969 (Urteil vom 12. Februar 1971). Auf die Berufung der Beklagten wies das LSG Berlin mit Urteil vom 13. Juli 1971 die Klage ab und führte zur Begründung aus: Nach der Beurteilung von Dr. B könne die Klägerin insbesondere wegen der Veränderungen im Bereich ihrer Wirbelsäule schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten sowie solche Tätigkeiten nicht mehr leisten, die mit vielem Bücken oder mit Heben und Tragen verbunden seien; wohl aber könne sie leichte Arbeiten "im (gewissen) Wechsel von Stehen und Sitzen" mit den üblichen Unterbrechungen im Rahmen der vollen Arbeitszeit verrichten. Dr. B und Dr. R hätten darauf hingewiesen, daß die Klägerin als Kassiererin arbeiten könne, "wenn sie Gelegenheit habe, gelegentlich zu stehen". Damit vermöge die Klägerin in diesem Verweisungsberuf im Rahmen der vollen Arbeitszeit tätig zu sein; Kassiererinnen hätten in der Regel, insbesondere bei einer Tätigkeit im Warenhaus oder in einem größeren Schuhgeschäft die Möglichkeit, "ihre Arbeit im Sitzen gelegentlich durch Stehen zu unterbrechen". Die Klägerin sei demzufolge noch nicht berufsunfähig.

Mit der nicht zugelassenen Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß),

das vorinstanzliche Urteil zu ändern und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin bezeichnet zwar keine bestimmte Verfahrensvorschrift als verletzt; sie will aber offenbar Verstöße gegen die §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügen. Sie macht geltend, die Auffassung des LSG, eine Kassiererin habe die Möglichkeit, ihre sitzende Tätigkeit durch Stehen und Gehen zu unterbrechen, verstoße gegen die Denkgesetze. Das LSG hätte sich durch eine ggf. von der zuständigen Arbeitsverwaltung einzuholende Studie erläutern lassen müssen, wie der Berufstag einer Kassiererin tatsächlich aussieht. Die Hektik im heutigen Verkaufsleben lasse es nicht zu, daß die Kassiererin "sich gelegentlich ihrer Tätigkeit" die Beine vertreten könne; sie dürfe gerade im Einzelhandel ihre Kasse während der Arbeitszeit nicht verlassen. Erfordere der Geschäftsumfang aber keine besondere Kassiererin, dann müsse sie gleichzeitig im Verkauf tätig sein, also ständig auch Arbeiten verrichten, zu denen sie - die Klägerin - gesundheitlich nicht mehr in der Lage sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die nicht zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil die Klägerin einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG gerügt hat und dieser Mangel vorliegt (BSG 1, 150). Die Revision ist auch begründet insoweit, als der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, ob die Sachkunde des LSG für die Beurteilung des hier vorliegenden Sachverhalts ausreichend gewesen ist. Die Sachkunde des Gerichts gehört in aller Regel auch zu den Gründen, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind und deshalb nach § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG im Urteil angegeben werden müssen. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat, sind zwar an die Offenlegung der eigenen Sachkunde im Urteil dann geringere Anforderungen zu stellen, wenn es sich - anders als z. B. bei der Beurteilung rein medizinischer Fragen - um allgemeine Fragen auf dem Gebiet des Arbeitslebens handelt. Insbesondere den in der Rentenversicherung tätigen Richtern muß auf Grund ihrer besonderen beruflichen Erfahrungen zugestanden werden, daß sie im allgemeinen in der Lage sind, die Merkmale der Tätigkeit und der Einsatzmöglichkeiten z. B. einer Verkäuferin oder Kassiererin selbständig, d. h. ohne die Hilfe von Sachverständigen zu beurteilen. Es wird deshalb - auch von den am Rechtsstreit Beteiligten - in der Regel nicht erwartet, daß das Gericht insoweit im Urteil ausdrücklich darlegt, daß und wie es das erforderliche Wissen von den Gegebenheiten des Erwerbslebens erlangt hat. Eine andere Betrachtung ist aber dann geboten, wenn Besonderheiten des Falles dies erfordern, wie hier die durch die körperliche Behinderung der Klägerin bedingte Notwendigkeit einer abwechselnd sitzenden und stehenden Beschäftigungsweise. Bei der Vielfalt der in den einzelnen Handelsbetrieben bestehenden Gepflogenheiten ist eine umfassende Sachkunde erforderlich, um die vorwiegend auf arbeitstechnischem Gebiet liegende Frage der Verwendungsmöglichkeit einer derart behinderten Versicherten zuverlässig beurteilen zu können (BSG, Urteil vom 22.3.1968 - 1 RA 163/66 -). Daß das LSG diese besondere Sachkunde besessen und wodurch es sie erworben hat, ist den Gründen des angefochtenen Urteils nicht zu entnehmen. Deshalb ist es weder dem Revisionsgericht noch den Beteiligten möglich, nachzuprüfen, ob die Sachkunde des Berufungsgerichts ausreichend gewesen ist, oder ob es der Anhörung einer berufskundlichen Stelle, beispielsweise eines Berufsverbandes, des Arbeitsamtes oder der Industrie- und Handelskammer bedurft hätte zu der Frage, ob und wo die Klägerin als Kassiererin in einer ihrer Gesundheit zuträglichen Weise berufstätig sein könnte. Eine solche Klärung ist schon deshalb notwendig, weil das LSG offenbar allein von den für die Allgemeinheit sichtbaren Tätigkeiten der Kassiererin in größeren Einzelhandelsbetrieben ausgegangen ist; ob dieses Tätigkeitsbild ebenso für Kassiererinnen in kleineren und kleinen Geschäften gilt, ist fraglich. Das Berufungsverfahren leidet mithin an einem wesentlichen Mangel; das LSG hat sich unter Verstoß gegen § 128 SGG zu einer außerhalb des Rahmens der allgemeinen richterlichen Sachkunde liegenden Frage entgegen der Rechtsauffassung des SG eine eigene Meinung gebildet, ohne in den Urteilsgründen anzugeben, woher es die hierzu erforderliche Sachkunde besitzt (vgl. SozR Nr. 33 zu § 103 SGG; Nr. 61 zu § 128 SGG). Die insoweit erhobene Verfahrensrüge der Klägerin greift mithin durch; sie macht die Revision statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Annahme des LSG, die Klägerin könne trotz ihrer Gesundheitsstörungen als Kassiererin im Rahmen der vollen Arbeitszeit tätig sein, weil sie diese im Sitzen zu verrichtende Tätigkeit "gelegentlich durch Stehen" unterbrechen könne und die Gutachter Dres. B und R darauf hingewiesen hätten, sie müsse "Gelegenheit haben, gelegentlich zu stehen". Beide Gutachter haben sich jedoch nicht so geäußert; sie haben vielmehr übereinstimmend hervorgehoben, bei einer vorwiegend sitzenden Beschäftigung müsse der Klägerin "Gelegenheit gegeben werden, diese Arbeit durch Tätigkeiten im Stehen zu unterbrechen". Abgesehen hiervon läßt sich nicht ausschließen, daß das LSG bei Anhörung einer berufskundlichen Stelle, also bei richtiger Verfahrensweise, die Verwendungsfähigkeit der Klägerin anders beurteilt hätte.

Nach alledem muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden; der Rechtsstreit ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten; sie hängt vom Ausgang des Rechtsstreits ab (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651317

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