Entscheidungsstichwort (Thema)

Verkäuferin. Kassiererin. Sachkunde des Gerichts

 

Leitsatz (redaktionell)

Den in der RV tätigen Richtern muß insbesondere zugestanden werden, daß sie im allgemeinen in der Lage sind, die Merkmale der Tätigkeit und die Einsatzmöglichkeiten einer Verkäuferin oder Kassiererin selbständig ohne die Hilfe von Sachverständigen zu beurteilen. Eine andere Betrachtung ist aber geboten, wenn Besonderheiten des Falles dies erfordern.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 17. Februar 1966 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die im Jahre 1920 geborene Klägerin erhielt, nachdem sie an Thrombophlebitis erkrankt war, für die Zeit vom 24. April 1963 bis 31. Dezember 1964 von der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsrente (Bescheid vom 11. Dezember 1964); sie begehrt die Weitergewährung dieser Rente. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war die Klägerin im Anschluß an eine dreijährige Lehrzeit vom 1. Mai 1937 bis 31. August 1944 und später nochmals vom 1. Januar 1963 bis 5. Juni 1963 als Verkäuferin erwerbstätig. In der Zwischenzeit besorgte sie ihren ehelichen Haushalt. Die Klägerin hält sich für berufsunfähig, weil sie die fast ausschließlich im Stehen zu verrichtende Tätigkeit einer Verkäuferin wegen ihres Beinleidens nicht mehr ausüben könne. Nach der Meinung der Beklagten muß sie sich auf eine artverwandte Tätigkeit, wie die einer Kassiererin in einem Selbstbedienungsladen, verweisen lassen. Das Sozialgericht (SG) und das LSG haben im Sinne der Klägerin entschieden und ihr die Rente wegen Berufsunfähigkeit über den Monat Dezember 1964 hinaus zugesprochen.

Das LSG hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Die Beklagte hat gleichwohl dieses Rechtsmittel form- und fristgerecht eingelegt und beantragt,

die Urteile der ersten und zweiten Instanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Zur Begründung der Revision macht sie Verfahrensverstöße des Berufungsgerichts geltend (Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Klägerin hat beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen oder zurückzuweisen.

Das Rechtsmittel der Beklagten ist, obwohl das LSG in dem angefochtenen Urteil die Revision nicht zugelassen hat, statthaft, weil ein tatsächlich vorliegender wesentlicher Mangel des Berufungsverfahrens ordnungsgemäß gerügt wird (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 SGG).

Die Beklagte trägt vor, das LSG halte die Klägerin in ihrer früheren Tätigkeit als Verkäuferin, aber auch in einer vergleichbaren Tätigkeit als Kassiererin, für berufsunfähig, obwohl sie nach Ansicht des Gerichts durchaus noch in der Lage sei, mittelschwere Arbeiten im Wechselrhythmus zwischen Sitzen und Stehen sechs bis sieben Stunden täglich zu verrichten. Das Berufungsgericht begründe seine Entscheidung zu Unrecht damit, daß die Tätigkeit einer Verkäuferin grundsätzlich fortgesetztes Stehen und die einer Kassiererin, auf die die Klägerin verwiesen werden könne, entweder üblicherweise dauerndes Stehen oder dauerndes Sitzen erfordere. Mit diesen Feststellungen habe das LSG die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten (Verstoß gegen § 128 SGG). Denn einen derartigen Erfahrungssatz, daß die Tätigkeit einer Verkäuferin oder Kassiererin nicht in dem von dem medizinischen Gutachter geforderten Wechselrhythmus zwischen Sitzen und Stehen ausgeübt werde, gebe es nicht. Die Verkaufstätigkeit in großen Kauf- und Warenhäusern und demgegenüber in kleineren Einzelhandelsgeschäften sei sehr unterschiedlich; das gelte auch für eine Tätigkeit als Kassiererin. Es komme immer entscheidend auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an. Das LSG habe es versäumt, über die Arten der Verkaufstätigkeiten in den einzelnen Branchen geeignete berufskundliche Ermittlungen anzustellen, die zu einem anderen Ergebnis geführt hätten; es habe somit zugleich auch seine Sachaufklärungspflicht verletzt (Verstoß gegen § 103 SGG).

Die Richtigkeit des Revisionsvorbringens wird durch den Inhalt der Akten und die Gründe des angefochtenen Urteils im wesentlichen bestätigt. Danach ist das LSG davon ausgegangen, der Beruf einer Verkäuferin, wie ihn die Klägerin erlernt und während ihres Arbeitslebens ausschließlich ausgeübt habe, erfordere grundsätzlich fortgesetztes Stehen; die Klägerin könne aber nicht länger als 2 Stunden ununterbrochen stehen. Die Tätigkeit einer Kassiererin in einem der üblichen Ladengeschäfte verlange dagegen entweder ganz allgemein ein ununterbrochenes Sitzen auf ein und demselben Platz, oder aber wie z. B. in einem Selbstbedienungsladen dauerndes Stehen; beides sei der Klägerin angesichts ihres Gesundheitszustandes nicht zuzumuten. Abgesehen davon habe die Kassiererin in einem Selbstbedienungsladen nicht nur Kassengeschäfte, sondern auch anstrengende körperliche Arbeiten (Herausnahme der Waren aus den Körben und Weitergabe an Förderbänder oder in Behältnisse) zu verrichten; es handele sich dabei mindestens um mittelschwere Arbeiten, welche die Klägerin allenfalls zeitweilig und auch nur im Wechselrhythmus zwischen Sitzen und Stehen verrichten könne.

Gegen diese Auffassung bestehen, wie die Beklagte mit Recht geltend macht, deshalb Bedenken, weil das angefochtene Urteil nicht erkennen läßt, ob die Sachkunde des Gerichts für die Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts ausreichend gewesen ist. Die Sachkunde des Gerichts gehört zu den Gründen, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind und deshalb nach § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG im Urteil anzugeben sind. Allerdings sind die Anforderungen an den Ausweis der eigenen Sachkunde im Urteil geringer zu stellen, wenn es sich - anders als z. B. bei der Beurteilung rein medizinischer Fragen - um allgemeine Fragen auf dem Gebiet des Arbeitslebens handelt. So muß insbesondere den in der Rentenversicherung tätigen Richtern auf Grund ihrer besonderen beruflichen Erfahrungen zugestanden werden, daß sie im allgemeinen in der Lage sind, die Merkmale der Tätigkeit und die Einsatzmöglichkeiten einer Verkäuferin oder Kassiererin selbständig, d. h. ohne die Hilfe von Sachverständigen zu beurteilen. Hier wird - auch von den am Rechtsstreit Beteiligten - in der Regel nicht erwartet, daß das Gericht im Urteil ausdrücklich darlegt, daß und wie es das erforderliche Wissen von den Gegebenheiten des Erwerbslebens erlangt hat. Eine andere Betrachtung ist aber dann geboten, wenn Besonderheiten des Falles dies erfordern, wie hier die körperliche Behinderung der Klägerin (Notwendigkeit einer abwechselnd stehenden und sitzenden Beschäftigungsweise), die ihrem Einsatz als Verkäuferin und/oder Kassiererin - insoweit ist dem LSG recht zu geben - in vielen Betrieben entgegensteht. Bei der Vielfalt der in den einzelnen Handelsbetrieben bestehenden Gepflogenheiten ist eine umfassende Sachkunde erforderlich, um die vorwiegend auf arbeitstechnischem Gebiet liegende Frage der Verwendungsmöglichkeit der Klägerin zuverlässig beurteilen zu können. Daß das LSG auch diese besondere Sachkunde besessen und wodurch es sie erworben hat, ist den Gründen des angefochtenen Urteils nicht zu entnehmen. Deshalb ist es weder dem Revisionsgericht noch den Beteiligten möglich, nachzuprüfen, ob die Sachkunde des Berufungsgerichts ausreichend war oder ob es etwa noch der Anhörung einer berufskundlichen Stelle (Berufsverband, Arbeitsamt, Industrie- und Handelskammer oder dergl.) bedurft hätte zu der Frage, ob und wo die Klägerin als Verkäuferin oder Kassiererin in einer ihrer Gesundheit zuträglichen Weise berufstätig sein könnte. Eine solche Klärung ist möglicherweise notwendig, weil das LSG offenbar allein von den für die Allgemeinheit sichtbaren Tätigkeiten der Angestellten in größeren Handelsbetrieben (Kaufhaus, Warenhaus, größere Selbstbedienungsgeschäfte) ausgeht. Ob aber dieses Tätigkeitsbild in gleicher Weise auch für Verkäuferinnen und Kassiererinnen in kleineren und kleinen Geschäften gilt, ist fraglich.

Unter diesen Umständen leidet das Berufungsverfahren an einem wesentlichen Mangel, weil das LSG unter Verstoß gegen § 128 SGG sich zu einer außerhalb des Rahmens der allgemeinen richterlichen Sachkunde liegenden Frage eine eigene Meinung gebildet hat, ohne in den Urteilsgründen anzugeben, woher es die hierzu erforderliche Sachkunde besitzt (vgl. SozR Nr. 33 zu § 103 SGG; Nr. 61 zu § 128 SGG).

Die Beklagte hat diesen Verfahrensmangel dem § 164 Abs. 2 SGG entsprechend richtig gerügt.

Die Revision der Beklagten ist somit statthaft; sie ist auch begründet; denn es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG, wenn es richtig verfahren wäre, zu einer anderen Beurteilung der Verwendungsfähigkeit der Klägerin gekommen wäre. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und der Rechtsstreit, weil der Senat nicht selbst in der Sache entscheiden kann, zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Bei der neuen Verhandlung wird das LSG möglicherweise auch die Auffassung, daß die Klägerin zu einer täglichen Arbeit von 6 bis 7 Stunden, nicht aber zu der üblichen Arbeitszeit von 8 Stunden täglich fähig sein soll, nochmals zu überprüfen haben (vgl. auch das Gutachten des Dr. B vom 6. März 1965).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324107

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