Leitsatz (amtlich)
1. Die Pflichtversicherung auf Antrag (RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 9) eines gemäß HwVG § 6 Abs 3 versicherungsfreien Handwerkers, der zugleich eine vom Handwerksbetrieb unabhängige, selbständige Tätigkeit ausübt, ist nicht schlechthin ausgeschlossen.
2. Eine vom Handwerksbetrieb unabhängige selbständige Tätigkeit liegt nur vor, wenn die andere selbständige Tätigkeit mit dem Handwerksbetrieb keine technisch-organisatorische (Betriebs-)Einheit bildet.
Normenkette
RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 Fassung: 1972-10-16; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 11 Fassung: 1972-10-16; HwVG § 6 Abs. 3 Fassung: 1960-09-08
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.09.1977; Aktenzeichen L 1 J 1101/75) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 18.06.1975; Aktenzeichen S 8b 270/75) |
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als selbständig Tätiger auf seinen Antrag versicherungspflichtig im Sinne des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 der Reichsversicherungsordnung (RVO) werden kann.
Der Kläger ist seit 1958 als selbständiger Brauermeister in die Handwerksrolle eingetragen. Mit seinem Unternehmen, in dem er neben einer Brauerei auch einen Getränkegroßhandel und eine seit 1959 konzessionierte Gaststätte betreibt, ist er unter der Firma "B. K., Inhaber F. K." als Einzelkaufmann in das Handelsregister eingetragen.
Der Kläger hat für weniger als 216 Kalendermonate Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 6. August 1963 die Versicherungsfreiheit des Klägers in der Handwerkerversicherung gemäß § 6 Abs 3 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) vom 8. September 1960 (BGBl I 737) festgestellt. Den vom Kläger am 24. September 1973 gestellten Antrag, seine Versicherungspflicht als selbständig Erwerbstätiger gemäß § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO festzustellen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Mai 1974 und Widerspruchsbescheid vom 27. September 1974 ab: Die Versicherungsfreiheit des Klägers nach dem HwVG erstrecke sich auch auf seine übrigen Tätigkeiten, so daß für ihn auch die Versicherungspflicht nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO entfalle. Demgegenüber hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 18. Juni 1975 die Antrags-Pflichtversicherung des Klägers bejaht; das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 20. September 1977 zurückgewiesen: Im Hinblick auf ihren Umfang seien der Betrieb der Gaststätte und der Getränkegroßhandel keine Nebentätigkeiten iS des § 1228 Abs 1 Nr 4 oder 5 iVm Abs 2 RVO (in der bis zum 30. Juni 1977 gültig gewesenen Fassung). Ebensowenig handele es sich dabei um dieselbe Beschäftigung oder Tätigkeit wie bei der Ausübung des Brauerhandwerks. Daher stehe die Versicherungsfreiheit des Klägers nach § 6 Abs 3 HwVG der Versicherungspflicht gem § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO nicht entgegen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Sie meint unter Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 1. Dezember 1977 - 12 RK 21/76 - (SozR 2200 § 1227 Nr 9), im Hinblick auf die umfassende Regelung der Handwerkerversicherung im HwVG könne ein Handwerker auch dann nicht über § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO in die Pflichtversicherung gelangen, wenn er neben dem Handwerk noch eine andere selbständige Tätigkeit ausübe. Überdies habe das LSG den in § 1227 Abs 1 Satz 1, Halbsatz 2 RVO normierten Begriff "dieselbe Tätigkeit" unzutreffend abgegrenzt. Brauerei, Gastwirtschaft und Getränkegroßhandel hingen so eng zusammen, daß es sich dabei um eine einheitliche Tätigkeit iS dieses Begriffes handele.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
II.
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO werden in der Rentenversicherung der Arbeiter alle Personen versichert, die nicht nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 bis 7 versicherungspflichtig sind und nicht nur vorübergehend im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, wenn sie innerhalb von zwei Jahren nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit oder dem Ende der Versicherungspflicht die Versicherung beantragen und ihren letzten wirksamen Beitrag zur Rentenversicherung der Arbeiter geleistet haben, sofern sie nicht wegen derselben Beschäftigung oder derselben Tätigkeit nach den Bestimmungen des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) oder des HwVG versicherungspflichtig oder versicherungsfrei oder auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit sind. Das LSG ist deshalb zutreffend davon ausgegangen, daß die Zulässigkeit der Antrags-Pflichtversicherung des Klägers davon abhängt, inwieweit dessen Tätigkeiten als Gastwirt und Getränkegroßhändler mit seiner gem § 6 Abs 3 HwVG versicherungsfreien Handwerkertätigkeit übereinstimmen, dh seinem Handwerksbetrieb, mit dem er in die Handwerksrolle eingetragen ist, zuzurechnen sind. Nur insoweit liegt "dieselbe" Tätigkeit iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO vor. Die weitergehende Auffassung im Schrifttum (Verbandskommentar, RVO - Stand 1. Januar 1978 - § 1227 Anm 30 f; Zweng/Scheerer, Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 2. Aufl, RVO § 1227 Anm II G 2a), wonach die Versicherungsfreiheit gem § 6 Abs 3 HwVG die "ganze Tätigkeit" des Handwerkers umfasse, ist im Rahmen des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO abzulehnen. Diese enge Abgrenzung wird weder dem Wortlaut noch dem Normzweck der genannten Vorschrift gerecht, wenn ein Handwerker neben seinem Handwerksbetrieb, mit dem er in die Handwerksrolle eingetragen ist, eine von diesem völlig unabhängige selbständige Tätigkeit - also nicht "dieselbe" Tätigkeit (= handwerkliche Tätigkeit) - ausübt. Es trifft allerdings zu, daß die dem Kläger erteilte Befreiung von der Versicherungspflicht in der Handwerkerversicherung nach § 3 des inzwischen außer Kraft getretenen Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 21. Dezember 1938 (RGBl I, 1900) - Handwerkerversorgungsgesetz - sich auf alle von dem Handwerker ausgeübten Tätigkeiten erstreckte, die er etwa neben seinem Handwerksbetrieb ausgeübt hat. Das galt auch dann, wenn diese Tätigkeiten in keinem Zusammenhang mit dem Handwerksbetrieb standen. Es ist ferner richtig, daß dieser Umfang der Befreiung auch nach Inkrafttreten des HwVG erhalten geblieben ist, soweit gem § 6 Abs 3 HwVG der Handwerker weiterhin versicherungsfrei blieb. Das gilt jedoch nur, soweit die nach den damaligen Rentenversicherungssystemen allein möglichen, kraft Gesetzes an bestimmte Tätigkeiten geknüpften Pflichtversicherungen in Betracht kommen. Der einmal befreite Handwerker sollte durch keine wie immer geartete Tätigkeit, mit Pflichtbeiträgen belastet werden. Bei der in diesem Verfahren streitigen Möglichkeit, durch Antrag gem § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO Aufnahme in die Pflichtversicherung zu finden, handelt es sich hingegen um eine ihrer Art nach völlig verschiedene Form der Pflichtversicherung, weil es dem Handwerker hier freisteht, darüber zu entscheiden, ob er der Pflichtversicherung beitreten will oder nicht. Da diese Form der Pflichtversicherung sowohl unter der Geltung des Handwerkerversorgungsgesetzes als auch bei Inkrafttreten des HwVG gesetzlich nicht vorgesehen war und auch ein Bedürfnis, die Befreiung auf diese Form der Pflichtversicherung zu erstrecken nicht besteht, kann § 6 Abs 3 HwVG auch die Möglichkeit von der Antragspflichtversicherung Gebrauch zu machen, nicht generell ausschließen. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Antragspflichtversicherung ist jedoch, daß es sich bei der selbständigen Tätigkeit für die die Pflichtversicherung beantragt wird, um eine von der handwerklichen Tätigkeit deutlich unterscheidbare Tätigkeit handelt.
Im Gesetz zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung - HwO -) in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Dezember 1965 (BGBl I - 1966 -, 1) wird zur Abgrenzung der handwerklichen Tätigkeit von anderen Tätigkeiten nur auf den Handwerksbetrieb abgestellt (§ 1 Abs 2 §§ 2 bis 4, 14, 15 und 17 HwO). Darunter ist die organisatorische Einheit zu verstehen, innerhalb derer ein (handwerklicher) Unternehmer allein oder mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe sächlicher oder sonstiger Mittel bestimmte arbeitstechnische - hier handwerkliche - Zwecke verfolgt (vgl Siegert/Musielak, Das Recht des Handwerks - Stand April 1976 -, HwO § 1 RNr 10; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl, Band I § 16 II - S. 93; Söllner, Arbeitsrecht, 6. Aufl, § 3 IV - S. 30 mwN). Maßgebliche Kriterien der technisch-organisatorischen Einheit, die der Betrieb darstellt, sind die Einheit des Betriebsinhabers, der Betriebsleitung, des Betriebszweckes, eine einheitliche Personalverwaltung, gemeinsame Arbeitsmittel und das Ausmaß der betriebsorganisatorischen Verflechtung (BSG SozR 4670 § 2 Nr 2 S. 5). Soweit eine derartige organisatorische Einheit besteht, handelt es sich auch bei der Tätigkeit des Inhabers eines handwerklichen Betriebes um seine handwerkliche Tätigkeit. Eine andere Abgrenzung würde weder dem Zweck der Versicherungspflicht in der Handwerkerversicherung, die allein von der Eintragung in die Handwerksrolle abhängt, gerecht, noch dem Normzweck des § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO entsprechen, der die bisherige gesetzliche Regelung der Handwerkerversicherung unberührt lassen wollte. Demgemäß ist die Antrags-Pflichtversicherung eines Handwerkers nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO, der zugleich eine von dem Handwerksbetrieb unabhängige selbständige Tätigkeit ausübt, nicht schlechthin ausgeschlossen. Eine von dem handwerklichen Betrieb unabhängige selbständige Tätigkeit kann allerdings erst angenommen werden, wenn zwischen dem handwerklichen Betrieb und anderen Tätigkeiten des Handwerkers keine technisch-organisatorische Einheit besteht. Erst dann handelt es sich nicht mehr um "dieselbe" Tätigkeit iS des § 1227 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 RVO.
Bei Zugrundelegung dieser Abgrenzungsmerkmale reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus, um den Rechtsstreit abschließend entscheiden zu können. Die Feststellungen zur Rechtsform des Unternehmens des Klägers sind nur für die rechtlich-wirtschaftliche Seite von Bedeutung, die hier außer Betracht zu bleiben hat (vgl dazu auch BSG SozR 4670 § 2 Nr 2 S. 5). Die Feststellungen des LSG zu den Erlösen - die vom LSG ermittelten Beträge betreffen offenbar die Umsätze in den einzelnen Sparten - sind für die Abgrenzung der betrieblichen Tätigkeit des Klägers allein nicht ausreichend. Unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats wird das LSG nunmehr zu ermitteln haben, ob die Gastwirtschaft und der Getränkegroßhandel nicht nur eine wirtschaftliche Einheit - also ein Unternehmen -, sondern auch eine technisch-organisatorische Einheit mit dem Handwerksbetrieb des Klägers bilden. Nur dann ist der Kläger von der Antrags-Pflichtversicherung nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 9 RVO ausgeschlossen. Ergeben die weiteren Ermittlungen des Berufungsgerichts, daß die Tätigkeit als Gastwirt oder als Getränkegroßhändler in einer selbständigen organisatorisch-technischen Einheit - sei es als Hauptbetrieb oder als Nebenbetrieb - geführt wird, handelt es sich um eine selbständige Tätigkeit, die mit der handwerklichen Tätigkeit nicht identisch ist und - weil ohne Antrag bis heute nicht pflichtversichert - auch von der nach § 6 Abs 3 HwVG aufrechterhaltenen umfassenden Versicherungsfreiheit nach dem System des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 21. Dezember 1938 (RGBl I 1900) nicht erfaßt wurde.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen