Leitsatz (amtlich)
1. Die Nichtzulassung der Berufung (SGG § 150 Nr 1) ist für das LSG bindend.
2. Hat das SG die Voraussetzungen für die Zulassung geprüft, die Berufung aber zu Unrecht nicht zugelassen, so liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des SGG § 150 Nr 2 nicht vor.
Ist nicht erkennbar, daß das SG die Zulassungsprüfung unterlassen hat, so ist anzunehmen, daß es diese Prüfung vorgenommen hat.
Normenkette
SGG § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das am 17. Mai 1955 verkündete Urteil des Landessozialgerichts ... wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I. Die Beklagte hatte den vier Klägern vom 1. Februar 1952 an die Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihres verschollenen und für tot erklärten Vaters gewährt. Die Kläger beantragten Anfang 1954 bei der Beklagten die Vorverlegung des Rentenbeginns auf Grund des Kriegsfristengesetzes; sie drangen mit ihrer gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten erhobenen Klage vor dem Sozialgericht ( SGer .) durch, das die Beklagte am 21. Oktober 1954 zur Gewährung der Waisenrente schon vom 1. Januar 1946 an verurteilte. Am Schluß der Entscheidungsgründe ist gesagt:
"Diese Entscheidung ist nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) endgültig, weil sie den Beginn der Rente betrifft."
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt; sie hat neben der Verletzung materiellen Rechts insbesondere die Nichtzulassung der Berufung nach § 150 Abs.1 Nr.1 SGG als wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Nr.2 a.a.O. gerügt; da es sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele, habe die Berufung zugelassen werden müssen.
Das Landessozialgericht (LSGer.) ... hat durch Urteil vom 26. April 1955 die Berufung als unzulässig verworfen. Es geht in seiner Entscheidung davon aus, daß das SGer . das Vorliegen eines Falles des § 146 SGG zu Recht angenommen hat. Das Urteil fährt dann fort:
"Durch die Bezeichnung des Urteils als endgültig hat der Vorderrichter ausdrücklich erklärt, daß er die an sich unzulässige Berufung gegen sein Urteil nicht nach § 150 Abs.1 SGG zulassen wolle; aber auch wenn er geschwiegen hätte, wäre damit das gleiche eingetreten, nämlich die Nichtzulassung der Berufung gegen ein aus relativen Berufungsausschlußgründen nicht berufungsfähiges Urteil."
Unter eingehender Würdigung der in den Kommentaren zum SGG und in der Rechtsprechung (insbesondere Urteil des LSGer. Schleswig vom 15.10.1954, Breithaupt 1955 S. 432 ff., Urteil des LSGer. Baden-Württemberg in Stuttgart vom 15.10.1954 - IVa Av 1313/54 - und Urteil des Bayer.LSGer. in München vom 8.10.1954 - AR 34/54 -) vertretenen, sich widersprechenden Auffassungen kommt das LSGer. zu dem Schluß, daß es die Nachprüfung der Nichtzulassung einer nach §§ 144 ff. SGG an sich berufungsunfähigen Sache durch das LSGer. für rechtlich unzulässig halte. Es begründet seine Auffassung im wesentlichen damit, daß eine Zulassung der Berufung auf dem Umweg über die Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens mit dem Wortlaut und Sinn des Gesetzes unvereinbar sei. Die Entscheidung über die Frage, ob die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache gegeben sei, habe der Gesetzgeber bewußt in die ausschließliche Zuständigkeit des LSGer. gelegt. Eine Verlagerung der Prüfung der Zulässigkeit auf die Berufungsinstanz würde diese der Gefahr einer Überbürdung aussetzen und damit den mit dem § 150 SGG gebilligten notwendigen Schutz der Berufungsausschließungsgründe der §§ 144 ff. SGG zerstören. Das LSGer. hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen, weil es die Frage der Nachprüfbarkeit der Zulassungsentscheidung als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ansieht.
II. Gegen das am 16. Juni 1955 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 28. Juni 1955 Revision mit dem Antrag eingelegt:
"unter Aufhebung der Urteile des LSGer. ... vom 26. April 1955 und der 3. Kammer des SGer . ... vom 21. Oktober 1954 die Klage abzuweisen,
hilfsweise das Urteil des LSGer. ... vom 26.April 1955 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSGer. zurückzuverweisen."
Die Beklagte hat diese Revision am 11. Juli 1955 begründet. Sie hält das LSGer. für verpflichtet, die Zulassungsentscheidung des SGer . zu überprüfen. Da die Auslegung des § 2 des Kriegsfristengesetzes eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betreffe, habe das SGer . gegen die ihm im § 150 Abs.1 SGG auferlegte Pflicht zur Berufungszulassung verstoßen und damit einen Verfahrensverstoß begangen. Das LSGer. hätte die Berufung als zulässig ansehen und sachlich entscheiden müssen.
Darüber hinaus ergebe der Wortlaut des Urteils des SGer ., daß dieses die Zulassungsmöglichkeit offensichtlich übersehen und daher gar nicht geprüft habe. Hierin liege wegen der dadurch entstehenden Unvollständigkeit des Urteils ein zusätzlicher Verfahrensmangel. Sachlich sei die Entscheidung des SGer . unrichtig.
Die Kläger haben demgegenüber beantragt:
"Die Revision zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, den Klägern die außergerichtlichen Kosten zu erstatten."
Sie halten eine Entscheidung der umstrittenen grundsätzlichen Rechtsfrage für wesentlich, ohne im einzelnen dazu Stellung zu nehmen. In der Sache selbst berufen sie sich auf die ihrer Auffassung nach zutreffende Entscheidung des SGer . ....
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist vom LSGer. zugelassen und daher statthaft.
Die Revision erscheint jedoch nicht begründet.
I. Mit den Fragen, ob im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens die Nichtzulassung eines Rechtsmittels für das zur Entscheidung über das Rechtsmittel berufene Gericht bindend ist und ob eine Überprüfung jener Nichtzulassung über die Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens möglich ist, hat sich das Bundessozialgericht ( BSGer .) für das Rechtsmittel der Revision bereits mehrfach befaßt:
Einmal hat das BSGer ., insbesondere aus dem Wortlaut des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in Verbindung mit der Tatsache, daß im SGG bewußt kein besonderes Rechtsmittel gegen die Nichtzulassung der Revision vorgesehen ist (anders: Nichtzulassungsbeschwerde im § 53 Abs. 3 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23.9.1952 BGBl. I S. 625 ff.), den Schluß gezogen, daß die Nichtzulassung der Revision für das BSGer . bindend sei (vgl. Beschluß vom 11.6.1955 - 5 RKn 2/54 - Soz.R.SGG § 162 Da 1; Urteil vom 29.11.1955 - 1 RA 15/54 - ebenda Da 3).
Zum anderen hat das BSGer . verneint, daß ein Mangel des Verfahrens in einer unrichtigen Entscheidung des LSGer. über die Frage der Zulassung der Revision erblickt werden könne; bei dem zweiten Halbsatz des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG handele es sich nicht um eine verfahrensrechtliche Vorschrift, sondern um den Inhalt der vom LSGer. zu treffenden Entscheidung. Werde diese Entscheidung sachlich falsch getroffen, so liege darin kein Verfahrensmangel, der eine Rüge nach § 162 Abs.1 Nr. 2 SGG rechtfertigen könne (Urteil vom 23.11.1955 - 7 RAr 30/55 - Soz. R. SGG § 162 Da 3 und Urteil vom 29.11.1955 - 1 RA 15/54 - ebenda).
Der erkennende Senat schließt sich wie bereits in seinem Beschluß vom 17. Februar 1956 - 4 RJ 9/55 - in beiden Fragen der Auffassung der angeführten Entscheidungen an.
II. Ein Vergleich der Vorschriften des § 162 Abs.1 SGG und des § 150 Abs.1 SGG zeigt, daß sie für die hier zu entscheidenden Fragen inhaltlich übereinstimmen. Weder die verschiedene Formulierung des einleitenden Satzes ("ist ... zulässig" bzw. "findet ... statt") noch die Wahl einer anderen Zeit im ersten Halbsatz der Nr.1 ("zugelassen hat" bzw. "ist ... zulässig") bedeuten mehr als rein äußerliche Fassungsverschiedenheiten; der sachliche Unterschied des zweiten Halbsatzes der jeweiligen Nr.1 betrifft einzig den Inhalt der Entscheidung, nicht jedoch das Verfahren; Nr. 2 schließlich stimmt wörtlich überein.
Der Senat hat daher kein Bedenken, die für die Überprüfung der Nichtzulassung der Revision maßgebenden Grundsätze gleicherweise auch auf die Frage anzuwenden, ob die Nichtzulassung der Berufung für das LSGer. bindend ist und ob diese Nichtzulassung als wesentlicher Verfahrensmangel gemäß § 150 Abs.1 Nr. 2 SGG gerügt werden kann.
Da demnach beide Fragen zu verneinen sind, kann insoweit dem LSGer. der Vorwurf unrichtiger Rechtsanwendung nicht gemacht werden.
III. Es bleibt noch zu prüfen die Rüge der Beklagten, das SGer . habe die Zulassungsmöglichkeit gar nicht geprüft; es habe im vorliegenden Fall überhaupt keine - auch keine negative - Entscheidung über die Zulassung treffen wollen oder getroffen und deshalb nur ein unvollständiges und insoweit mangelhaftes Urteil erlassen.
In diesem Vorbringen könnte eine Rüge der Verletzung der im ersten Halbsatz des § 150 Abs. 1 Nr. 1 SGG enthaltenen Vorschrift erblickt werden, die die Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung dem SGer . überträgt. Ob eine Verletzung dieser Bestimmung als Verfahrensmangel anzusehen wäre, braucht im vorliegenden Fall jedoch nicht entschieden zu werden, da die von der Beklagten behauptete Unterlassung der Prüfung der Zulassung durch das SGer . nicht erwiesen ist. Das SGG schreibt nicht vor, daß die Nichtzulassung im Urteil überhaupt zu erwähnen, geschweige denn zu begründen ist. Grundsätzlich muß davon ausgegangen werden, daß die Gerichte die für sie maßgeblichen Vorschriften kennen und beachten; aus der Nichtanwendung einer nur für bestimmte Fälle erlassenen Vorschrift kann daher nicht gefolgert werden, daß diese Vorschrift übersehen wurde, sondern vielmehr nur, daß eine vorgenommene Prüfung ihre Unanwendbarkeit ergeben hat. Für den gegenteiligen Schluß müßten zwingende Anhaltspunkte vorliegen. Diese lassen sich aus dem Wortlaut des Urteils des SGer ., auf den sich die Beklagte einzig beruft, nicht entnehmen; auch der sonstige Akteninhalt, insbesondere die Verhandlungsniederschrift, läßt einen derartigen Schluß nicht zu. Begründete Bedenken gegen die im Ergebnis hiermit übereinstimmende Auffassung des LSGer. sind daher auch insoweit nicht zu erheben.
IV. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen