Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachschaden. mittelbare Schädigung. Schädigungsfolge behindert ordentliche medizinische Behandlung einer Krankheit
Orientierungssatz
Für die Anerkennung eines ursächlichen Zusammenhang einer mittelbaren Schädigung kann es ausreichend sein, wenn die Verletzungsfolgen ein Hindernis zur Vermeidung oder Milderung weiterer Folgen darstellen.
Normenkette
BVG § 62 Abs 1, § 30 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 10.06.1980; Aktenzeichen L 12 V 1102/77) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 22.04.1977; Aktenzeichen S 5 V 1493/71) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt als Witwe des am 17. August 1976 verstorbenen Josef K die Neufeststellung seiner Versorgungsbezüge. K hatte zuletzt unter Einschluß eines besonderen beruflichen Betroffenseins eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vom Hundert (vH) bezogen. Als Schädigungsfolgen waren ua chronische Bronchitis mit Lungenemphysem und Trachealprolaps sowie beginnende Rechtsüberlastung des Herzens anerkannt. Einen Neufeststellungsantrag des K vom Dezember 1969 lehnte der Beklagte ab, weil eine Verschlechterung des Lungenbefundes nicht vorliege und die geltend gemachten Herzbeschwerden auf eine schädigungsunabhängig entstandene Coronarsklerose zurückzuführen seien. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Bescheid vom 21. Oktober 1970, Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1971). Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten, der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes ab 1. Dezember 1969 Rente nach einer MdE um 90 vH zu gewähren. Es hat die Berufung zugelassen. Es ging davon aus, daß das KB-Leiden eine optimale Behandlung der coronaren Herzkrankheit verhindert habe. Als Folge der mangelhaften Durchblutung des Herzmuskels sei es gehäuft zu Stenokardien und Angina-pectoris-Anfällen gekommen. Die einzig wirksame medikamentöse Therapie dieser Erscheinungen sei wegen der obstruktiven Emphysembronchitis kontraindiziert gewesen. Die Schädigung habe sich mithin im Ergebnis dahin ausgewirkt, daß K von seiten des schädigungsunabhängigen Herzleidens zusätzliche und vermehrte Beschwerden zu erdulden gehabt habe. Hierin sah das SG eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt: Die seit 1968 bekannte coronare Herzkrankheit habe nicht im Zusammenhang mit der Schädigung gestanden. Deshalb sei es nicht Rechtens, die MdE anzuheben. Daran ändere nichts, daß die Herzerkrankung wegen der Schädigungsfolgen nicht habe optimal behandelt werden können. Allerdings bestehe eine Ursachenkette, die von der Schädigung über die Nichtanwendbarkeit der erforderlichen Medikamente bis hin zum Auftreten von Stenocardien und Angina-pectoris-Anfällen reiche, denen der Beschädigte sonst nicht oder nicht in dieser Stärke ausgesetzt gewesen wäre. Schädigungsfolgen und Nachschaden seien in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt dieses Zustandes auch annähernd gleichwertig in dem Sinne, daß die eine ohne die andere nicht wirksam geworden wäre. Nachträglich aufgetretene, schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen (sogenannte Nachschäden) könnten die Höhe der MdE aber auch dann nicht beeinflussen, wenn sie im Zusammenspiel mit den Schädigungsfolgen zu Auswirkungen führten, die ohne die jeweils andere Gesundheitsstörung nicht bestehen würden. Um eine weitere oder mittelbare Schädigungsfolge, die bei der MdE mitzubewerten wäre, handele es sich hier nicht. Die Kriegsbeschädigung habe selbst keinen zusätzlichen gesundheitlichen Schaden hervorgerufen; sie habe insbesondere nicht den organischen Befund am Herzen und seinen Gefäßen verändert. Die Existenz der Schädigungsfolgen hätte lediglich dazu geführt, daß bestimmte Auswirkungen (Symptome) der schädigungsunabhängigen Coronarsklerose nicht adäquat behandelt werden konnten und deshalb stärker zum Tragen kamen, K also Beschwerden zu ertragen hatte, die sonst einer vorbeugenden oder lindernden Behandlung zugänglich gewesen wären.
Die Klägerin hat gegen das Urteil des LSG Revision eingelegt. Sie rügt die fehlerhafte Anwendung der §§ 1, 30 Abs 1 und § 32 Abs 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sowie der Nr 10 Abs 1 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen. Sie ist der Meinung, die Schädigungsfolgen hätten ursächlich eine fachgerechte Behandlung verhindert. Der vom LSG aufgestellte Grundsatz, daß nachträglich schädigungsunabhängig aufgetretene Gesundheitsstörungen und deren Auswirkungen im Rahmen der Bewertung der medizinischen MdE nach § 30 Abs 1 BVG keine Berücksichtigung finden könnten, sei nicht überzeugend. Gesundheitsstörungen, bei deren Auftreten keine schädigenden Einwirkungen mitbeteiligt gewesen seien, seien nämlich, wenn - wie hier - die Schädigungsfolgen eine dringend erforderliche fachgerechte und wahrscheinlich ansprechende Behandlung grundsätzlich verhindert hätten, als in einem ursächlichen Zusammenhang mit schädigenden Einflüssen stehend anzusehen.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung
des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG hat bei der rechtlichen Einordnung des festgestellten Sachverhaltes unrichtig die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) über den Nachschaden angewandt. Die Herzerkrankung des K wurde durch die anerkannten Schädigungsfolgen beeinflußt; sie muß deshalb zu einem Teil als mittelbare Schädigungsfolgen angesehen werden. Über das Ausmaß dieser mittelbaren Schädigungsfolgen hat das LSG noch keine Feststellungen getroffen.
Das LSG ist zu Recht für das Begehren der Klägerin von § 62 Abs 1 BVG ausgegangen. Hiernach ist ein Anspruch entsprechend neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung dieser Verhältnisse ist für das Versorgungsrecht nur insoweit von Belang, als das Kriegsleiden sich verschlimmerte oder verbesserte oder als zu den anerkannten Gesundheitsstörungen ein Leiden hinzutrat, das ebenfalls durch wehrdienstliche Faktoren hervorgerufen oder verstärkt worden ist. Bedeutsam kann außerdem der Tatbestand der mittelbaren Schädigung sein, wenn die anerkannte Schädigung Ursache oder Mitursache für die Entstehung oder Verschlimmerung der weiteren körperlichen Beeinträchtigung war (BSGE 27, 75, 78).
Das LSG hat unbeanstandet festgestellt, daß sich die bereits anerkannten Schädigungsfolgen des K zu seinen Lebzeiten nicht mehr verschlimmert hatten. Richtig ist auch, daß die seit 1968 bekannte coronare Herzkrankheit des K schicksalsmäßig ohne Einwirkung einer Schädigung oder einer Schädigungsfolge aufgetreten ist. Dem LSG kann jedoch nicht darin zugestimmt werden, daß der durch schädigungsunabhängige Vorgänge diktierte Ablauf der Coronarsklerose nicht durch die als Schädigungsfolgen anerkannten Bronchial- und Lungenleiden beeinflußt worden wäre. Ohne eine derartige Beeinflussung handelte es sich um einen sogenannten Nachschaden, der entsprechend der Rechtsprechung zu einer höheren Bewertung der MdE nach § 30 Abs 1 BVG nicht herangezogen werden könnte (BSGE 17, 99, 100 f; 17, 114, 116 f). Zu diesen sogenannten Nachschäden gehören aber Gesundheitsstörungen nicht schon dann, wenn sie zeitlich nach der Schädigung eingetreten sind, sie müssen vielmehr auch unabhängig von der Schädigung oder den Schädigungsfolgen entstanden sein und sich entwickeln; wenn also der ursprüngliche Kriegsschaden nicht mehr zur Wirkkraft für die Endverhältnisse geworden ist (BSG 9 RV 21/79 vom 28. Oktober 1980). Bei derartigen nebeneinander stehenden Gesundheitsstörungen wird die MdE im Sinne des § 30 Abs 1 BVG durch Auswirkungen der schädigungsunabhängigen Krankheit selbst dann nicht erhöht, wenn erst durch ihr Zusammenwirken ungünstigere Auswirkungen der Schädigungsfolgen auftreten (BSGE 41, 70 71). Den sogenannten Nachschadensfällen ist gemeinsam, daß Schädigungsfolgen und schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen sich in ihrem gesundheitlichen Erscheinungsbild gegenseitig nicht beeinträchtigen, vielmehr eine gemeinsame Verbindung nur über ihre Beeinflussung der MdE haben.
Um das Nebeneinander zweier statischer Gesundheitszustände ging es hier jedoch nicht. Das LSG hat richtig erkannt, daß in der Tat eine Ursachenkette, die von der Schädigung über die Nichtanwendbarkeit der erforderlichen Medikamente bis hin zum Auftreten von Stenocardien und Angina-pectoris-Anfällen reichte, bestand. Es ist auch davon ausgegangen, daß die sogenannte Nachschadensregelung nicht anzuwenden ist, wenn die Schädigungsfolgen neue oder zusätzliche gesundheitliche Schäden schaffen, weil sich in diesem Fall der schädigende Vorgang fortsetzt und die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung selbst erweitert werden. Tatsächlich ist hier ein ursächlicher Zusammenhang im Sinne der im Recht der Kriegsopferversorgung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung zwischen der Schädigung und einem Mehr im Leidenszustand der Coronarsklerose des K zu erkennen. Dabei ist es nicht entscheidend, daß die anerkannten Schädigungsfolgen Bronchial- und Lungenleiden nicht durch aktives Einwirken eine Verschlimmerung der Coronarsklerose hervorriefen, sondern daß diese Verschlimmerung eintrat und beibehalten wurde, weil Bronchial- und Lungenleiden eine optimale Therapie verhinderten, die ihrerseits eine Besserung des Leidenszustandes hätten bewirken können (vgl BSGE 40, 273, 274 = SozR 2200 § 589 Nr 2). Für die Anerkennung eines ursächlichen Zusammenhangs einer mittelbaren Schädigung kann es ausreichend sein, wenn die Verletzungsfolgen ein Hindernis zur Vermeidung oder Milderung weiterer Folgen darstellen. Bei verständiger Würdigung ist davon auszugehen, daß der schicksalsmäßige Verlauf der Coronarerkrankung des K durch die den behandelnden Ärzten bekannte Medikation gemildert worden wäre, falls sie nicht wegen der Schädigungsfolgen davon hätten Abstand nehmen müssen. Bei dieser Sachlage kommt der Behinderung der optimalen Behandlung zumindest eine gleichwertige Qualität zu wie dem schicksalsmäßigen Krankheitsverlauf (vgl Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausgabe 1973 Nr 10). Bei diesem Krankheitsverlauf mußte K infolge der unterlassenen indizierten Behandlung häufigere Stenocardien und Angina-pectoris-Anfälle als Auswirkungen seiner coronaren Herzkrankheit ertragen, als dies bei gehöriger Medikation nötig gewesen wäre. Dieses überschießende Leidensausmaß ist als mittelbare Schädigungsfolge zu bewerten. Es geht also hier nicht darum, nur die Auswirkungen der bereits anerkannt gewesenen Gesundheitsstörungen im allgemeinen Erwerbsleben nach Auftreten einer schädigungsunabhängigen Erkrankung neu zu bewerten (vgl BSGE 41, 70, 73; 41, 80, 85).
Das LSG kann sich für seine entgegenstehende Meinung nicht auf das in BSGE 41, 70, 75 angeführte Beispiel berufen. An der Stelle wurde auf den von Feldges in KOV 1971, 5 geschilderten Fall hingewiesen, in dem durch Schädigungsfolgen die erfolgsversprechende Operation von Nichtschädigungsfolgen behindert wurde. Der Hinweis erfolgte im Zusammenhang mit den mannigfaltigen Einwirkungsmöglichkeiten zwischen mehreren Krankheiten. Feldges hat aaO S 6 im übrigen mitgeteilt, daß die wegen der unterbliebenen Operation fortbestehende Verschlimmerung vom Landesversorgungsamt mit einer Erhöhung der MdE bewertet worden ist (vgl BSG Urt 1959-05-06 - 11 RV 212/58 in SozEntsch BSG IX/3 § 1 -b 2- BVG Nr 6).
Schließlich ist es unbedeutend, daß die Verschlimmerung im vorliegenden Fall eine Krankheit betraf, die erst nach dem schädigenden Ereignis aufgetreten war.
Das LSG wird nunmehr über das Ausmaß der mittelbaren Schädigungsfolgen Feststellungen zu treffen und je nach dem dann gewonnenen Ergebnis die Einschätzung der MdE neu zu prüfen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen