Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeitsrente für einen Grubensteiger. zumutbare Verweisungstätigkeit
Orientierungssatz
Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung einer Knappschaftsrente gemäß RKG § 35 aF kann ein ehemaliger Grubensteiger aus dem Steinkohlenbergbau im Untertagebetrieb nur auf die Tätigkeit eines Brückenaufsehers im Angestelltenverhältnis verwiesen werden, um dem Erfordernis der Gleichartigkeit der Tätigkeit nach RKG § 35 Rechnung zu tragen.
Normenkette
RKG §§ 35, 36 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.01.1962) |
SG Aachen (Entscheidung vom 03.09.1959) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Januar 1962 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der im Jahre 1927 geborene Kläger im Bergbau
vom 14.3.1949 bis zum 6.8.1949 als Schlepper,
vom 7.8.1949 bis zum 28.2.1951 als Gedingeschlepper,
vom 1.3.1951 bis zum 24.11.1952 als Lehrhauer,
vom 25.11.1952 bis zum 30.11.1955 als Hauer
und nach erfolgreichem Besuch der Bergschule vom 1.12.1955 bis zum 30.6.1956 als Grubensteiger gearbeitet. Die Grubensteigertätigkeit mußte er aufgeben, weil er wegen sogenannter Frühsilikose nach Übertage verlegt wurde; seither ist er als kaufmännischer Angestellter tätig. Die beklagte Knappschaft lehnte seinen Antrag vom 5. Juli 1956 auf Gewährung der Knappschaftsrente ab; der Widerspruch blieb erfolglos. Auf seine Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) die Beklagte, vom 1. August 1956 an Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit (§ 35 des Reichsknappschaftsgesetzes alter Fassung - RKG aF -) zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen, wobei es vom Hauptberuf des Klägers als Grubensteiger ausging. Der Kläger sei mit 16 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen worden und nach Rückkehr aus der Gefangenschaft zunächst von 1947 bis 1948 bei der Polizei und anschließend kurze Zeit arbeitslos gewesen. Mit 22 Jahren habe er sich dem Bergbau zugewandt und sei dort nach weniger als sieben Jahren Bergarbeit und Absolvierung der Bergschule Grubensteiger geworden. Er habe also in klarer und zielstrebiger Entwicklung den Steigerberuf erreicht und noch über ein halbes Jahr lang ausgeübt. Das müsse genügen, um diese Tätigkeit als Hauptberuf anzusehen. Unter Tage dürfe er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tätig sein. Seine derzeitige Arbeit als kaufmännischer Angestellter sei der Tätigkeit des Grubensteigers nicht im wesentlichen gleichartig; aus dem gleichen Grunde könne er auch nicht auf eine Tätigkeit als Holz-, Wiege- und Platzmeister oder als Kokereisteiger verwiesen werden. Die Tätigkeit eines Brückenaufsehers scheide aus, weil sie zu selten vorkomme. Für die Tätigkeit als Fördermaschinist und Waschmeister schließlich fehlten dem Kläger die ausbildungsmäßigen Voraussetzungen. Der Kläger sei somit im Rahmen des § 35 RKG aF berufsunfähig, so daß ihm die beantragte Rente zustehe. Die Revision wurde zugelassen.
Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 35 RKG aF. Der Kläger sei über die bei einem Neubergmann übliche Berufsentwicklung Hauer geworden und habe diese Tätigkeit über drei Jahre lang verrichtet. Die insgesamt nur sieben Monate verrichtete Steigertätigkeit sei demgegenüber zu kurz gewesen, so daß vom Hauptberuf als Hauer auszugehen sei. Als Hauer könne der Kläger noch auf Tätigkeiten über Tage verwiesen werden. Aber auch als Grubensteiger sei er noch nicht berufsunfähig im Sinne von § 35 RKG aF. Er könne auf Aufsichtstätigkeiten über Tage verwiesen werden; die Artverwandtschaft zur Steigertätigkeit liege bei diesen Tätigkeiten in dem dominierenden Merkmal der Aufsicht als solcher. Ebenfalls könne der Kläger trotz der unterschiedlichen Abbaumethoden auf die Tätigkeit als Steiger im Braunkohlen-Tagebau verwiesen werden, wenn er bisher auch noch nicht in einem Braunkohlenbetrieb gearbeitet habe.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 3. September 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für richtig.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und zumindest teilweise begründet.
Mit Recht ist das Berufungsgericht beim Kläger von der Tätigkeit des Grubensteigers als seiner "bisher verrichteten knappschaftlichen Tätigkeit" (knappschaftlicher Hauptberuf) ausgegangen. Es handelt sich bei ihm nicht, wie die Beklagte meint, um ein "wechselndes Berufsbild", sondern um eine stufenweise aufsteigende Entwicklung innerhalb des Bergmannsberufs, wobei die jeweils vorhergehende Stufe zugleich der Vorbereitung für die folgende diente. Bei einem Bergmann, der sich nicht nur zum Hauer, sondern nach Absolvierung der Bergschule sogar zum Steiger qualifiziert hat, muß auch der Umstand, daß er - durch Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse bedingt - nicht als Berglehrling, sondern erst mit 22 Jahren als Neubergmann seine Laufbahn begonnen hat, bei Würdigung seiner beruflichen Stellung außer Betracht bleiben. Wenn bei einer solchen stufenweisen Berufsentwicklung die jeweils erforderliche besondere Qualifikation (zB Hauerprüfung, Bergschulabschluß) vorliegt, kann selbst eine nur kurze Tätigkeit in der neu erworbenen Stellung ausreichen, um die "bisher verrichtete knappschaftliche Tätigkeit" hiernach zu bestimmen. Die von der Revision angezogene Entscheidung des Senats vom 27. Juni 1963 (BSG 19, 218) besagt nichts anderes. Dort wurde - bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nach § 46 Abs. 2 RKG - zwar eine "aus dem Gesamtbild nur für kurze Zeit herausragende" Arbeitsperiode des Versicherten unberücksichtigt gelassen, die "zwischen Zeiten" einer Tätigkeit lag, die sich "nach dem Gesamtbild als der Normaltatbestand" erwiesen hatte. Dabei wurde jedoch ausdrücklich betont, daß es im Einzelfall geboten sein könne, dem Abschluß einer Aufwärtsentwicklung bereits Rechnung zu tragen, wenn die oberste Sprosse in der beruflichen Stufenleiter nur eine im Verhältnis zum ganzen Arbeitsleben relativ kurze Zeit eingenommen wurde. Das muß vor allem dann gelten, wenn der Verlust dieser Stellung - wie im vorliegenden Fall - aus gesundheitlichen Gründen eingetreten ist (s. Urteil vom 15. September 1964 in SozR § 45 RKG Nr. 15 und vom 1. Juni 1965 - 5 RKn 38/64). Wenn die Beklagte für ihre Ansicht, eine nur sieben Monate lang verrichtete Tätigkeit könne nicht Ausgangspunkt für die Prüfung eines Rentenanspruchs sein, auf die Regelung in anderen Rechtsgebieten - Beamtenruhegehalt, Jahresarbeitsverdienst bei der gesetzlichen Unfallversicherung - hinweist, so paßt dieser Vergleich nicht. Denn die Bestimmung der "bisher verrichteten knappschaftlichen Tätigkeit" ist nur für das Vorliegen des Versicherungsfalles von Bedeutung, nicht aber für die Höhe der Leistung, um die es bei den von der Beklagten genannten Vorschriften geht. Entsprechendes gilt für den Hinweis der Beklagten auf das für die deutsche Sozialversicherung geltende Versicherungsprinzip, das es nicht zulasse, für eine nur kurze Beitragszahlung auf viele Jahre Rente zu zahlen. Dieser Gesichtspunkt ist bei den Vorschriften über die Wartezeit berücksichtigt; es gibt aber keine besondere Wartezeit für einen bestimmten "Hauptberuf". Ist die für die Rentenart erforderte Wartezeit erfüllt, so genügt es in dieser Hinsicht, daß für die bestimmte Tätigkeit überhaupt Beiträge entrichtet worden sind.
Da der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr unter Tage arbeiten darf, kommt es für die Beurteilung, ob er berufsunfähig nach den §§ 35, 36 Abs. 2 RKG aF ist, darauf an, ob er noch auf "im wesentlichen gleichartige und wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben" verwiesen werden kann. Durch die - in § 35 RKG aF im Gegensatz zu § 45 RKG nF ausdrücklich aufgestellte - Forderung der "Gleichartigkeit" sollte, wie der Senat bereits früher ausgeführt hat (s. BSG 3, 171/177), im Sinne einer echten Berufsversicherung gewährleistet werden, daß der Versicherte immer nur auf solche anderen Tätigkeiten verwiesen werden konnte, die sich noch innerhalb "seines Berufs" hielten und keine Artverschiedenheit zu diesem aufwiesen. Der Hauerarbeit als der wichtigsten Tätigkeit im Rahmen des eigentlichen Bergmannsberufes "im wesentlichen gleichartig" sind hiernach nur die "typisch bergmännischen Arbeiten". Hierzu hat der Senat alle diejenigen gerechnet, denen der Bergbau das Gepräge gibt, die unmittelbar auf die Gewinnung und Förderung der Mineralien gerichtet sind und die nur und gerade dem Bergbau eigen sind, also in anderen industriellen Betrieben nicht oder doch nicht in gleicher Weise vorkommen. Von den Übertagetätigkeiten für Arbeiter sind das nur die des Ersten Anschlägers, des Reservefördermaschinisten und des Brückenaufsehers (s. BSG 5, 84). Entsprechendes muß auch für die Tätigkeit der Steiger (Reviersteiger, Grubensteiger und Fahrhauer) im Rahmen der Angestelltentätigkeiten gelten. Die Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter scheidet hiernach ohne weiteres aus. Aber auch Aufsichtstätigkeiten etwa auf der Kokerei, dem Versand und dem Holzplatz sind der Tätigkeit des Grubensteigers ebensowenig "gleichartig" wie die Tätigkeit der dort beschäftigten Arbeiter der Tätigkeit des Gedingehauers gleichartig ist. Das gemeinsame Merkmal der Aufsicht als solcher allein begründet ebensowenig eine Gleichartigkeit im Sinne von § 35 RKG aF wie das Merkmal der Handarbeit bei den entsprechenden Arbeiterdienstgraden. Mit Recht hat das Berufungsgericht daher die Verweisung des Klägers auf die Arbeiten als Holz-, Wiege- und Platzmeister sowie als Kokereisteiger für unzulässig erklärt. Die Feststellung des Berufungsgerichts, daß dem Kläger für die Tätigkeiten als Fördermaschinist und als Waschmeister (Wäschesteiger) die erforderliche Ausbildung fehlt, ist nicht zu beanstanden. Im Übertagebetrieb des Steinkohlenbergbaus käme deshalb für die Verweisung des Klägers nur noch die Tätigkeit des Brückenaufsehers im Angestelltenverhältnis in Betracht. Das Berufungsgericht hat diese Tätigkeit mit der Begründung ausgeschieden, sie komme zu selten vor. Dabei handelt es sich indessen nicht um eine das Revisionsgericht bindende tatsächliche Feststellung, sondern um eine Bezugnahme auf die bereits erwähnte Entscheidung des erkennenden Senats in BSG 5, 84, 86. Dort ging es aber um die Verweisung eines Hauers auf die Tätigkeit eines Brückenaufsehers im Arbeitsverhältnis. Daß auch die Zahl der Stellen für Brückenaufseher (Angestellte) im Verhältnis zur Zahl der Grubensteiger zu gering sei, um diese auf eine solche Tätigkeit verweisen zu können, kann den Gründen dieser Entscheidung nicht entnommen werden. Da die Tätigkeit des Brückenaufsehers im Angestelltenverhältnis derjenigen eines Grubensteigers als im wesentlichen gleichartig anzusehen sein dürfte, bedarf es vor allem noch der Feststellung, nach welcher Gehaltsgruppe die Tätigkeit des angestellten Brückenaufsehers vergütet wird, damit die wirtschaftliche Gleichwertigkeit im Sinne von § 35 RKG aF geprüft werden kann.
Das Berufungsgericht hat es ferner unterlassen zu prüfen, ob der Kläger nicht etwa auf Tätigkeiten im Rheinischen Braunkohlenbergbau verwiesen werden könnte. Das Erfordernis der Gleichartigkeit der Verweisungstätigkeit in § 35 RKG aF stände dem nicht grundsätzlich entgegen. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 6. Juli 1964 - 5 RKn 35/60 - ausgeführt hat, sind trotz unterschiedlicher technischer Methoden die Betriebe sowohl des Steinkohlen- wie des Braunkohlenbergbaus auf die bergmännische Gewinnung der Kohle gerichtet und daher ihrem Wesen nach gleichartig. Dementsprechend können auch die Tätigkeiten von Aufsichtspersonen in den beiden Bergbauarten trotz der Verschiedenheit der technischen Arbeitsvorgänge einander "im wesentlichen gleichartig" im Sinne von § 35 RKG aF sein. Es ist daher zu ermitteln, ob der Kläger auf Grund seiner bisherigen beruflichen Ausbildung und Erfahrung praktisch in der Lage ist, eine solche, seiner bisherigen Tätigkeit im Steinkohlenbergbau etwa entsprechende und ihr auch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeit im Braunkohlenbergbau zu verrichten, ohne dazu einer besonderen Umschulung oder einer mehr als kurzen Einarbeitung zu bedürfen. Da das Revisionsgericht die für diese Prüfung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen selbst nicht treffen kann, mußte es den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen. Das LSG hat in dem abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen