Entscheidungsstichwort (Thema)
Entziehung einer Knappschaftsrente. gleichartige Verweisungstätigkeit
Orientierungssatz
Aufsichtstätigkeiten im Steinkohlenbergbau und im Braunkohlenbergbau können einander trotz der Unterschiedlichkeit der beaufsichtigten technischen Arbeitsvorgänge gleichartig iS von RKG § 35 sein. Daher kann ein Reviersteiger aus dem Steinkohlenbergbau auf eine entsprechende Tätigkeit im Braunkohlenbergbau verwiesen werden und ihm die Knappschaftsrente entzogen werden, wenn sein Gesundheitszustand die Ausübung einer solchen Tätigkeit noch ermöglicht.
Normenkette
RKG § 35
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 21.01.1960) |
SG Köln (Entscheidung vom 13.12.1956) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Januar 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Beklagte hatte dem Kläger mit Bescheid vom 5. April 1954 die Knappschaftsrente alten Rechts wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls - Bruch des 2. und 4. Lendenwirbelkörpers und der 8. Rippe - vom 1. November 1953 ab bewilligt. Auf Grund einer Nachuntersuchung vom 1. Februar 1956, wonach der Kläger wieder einsatzfähig für Steigerarbeiten über Tage, jedoch nicht einsatzfähig als Steiger in niederen Streben unter Tage war, entzog sie ihm mit Bescheid vom 17. Februar 1956 die Rente ab 1. April 1956. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 13. Dezember 1956 antragsgemäß verurteilt, über den Entziehungszeitpunkt hinaus Knappschaftsrente zu gewähren. Es ging bei Prüfung der Berufsunfähigkeit von der Tätigkeit des Klägers als Reviersteiger aus, die er bis zu einem früheren Unfall im Dezember 1942 etwa ein Jahr lang ausgeübt hatte. Dieser Tätigkeit gegenüber seien die im Aachener Bergbaugebiet vorkommenden Angestelltentätigkeiten, die er noch verrichten könne, entweder nicht gleichartig oder nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 21. Januar 1960 die Berufung der Beklagten unter Zulassung der Revision zurückgewiesen. Zwar sei durch das ärztliche Gutachten eine wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des Klägers nachgewiesen; diese habe aber nicht dazu geführt, daß er wieder berufsfähig i. S. des alten Rechts geworden sei. Hierbei sei es unerheblich, ob man von der Tätigkeit als Reviersteiger, Grubensteiger oder Fahrhauer ausgehe; denn auch wenn man den am geringsten entlohnten Beruf des Fahrhauers zugrunde lege, den der Kläger bis 1953 ausgeübt habe, sei er nach wie vor berufsunfähig. In Bezug auf die Gleichartigkeit i. S. von § 35 des Reichsknappschaftsgesetzes alter Fassung (RKG aF) könne ein Fahrhauer nicht anders behandelt werden als ein Revier- oder ein Grubensteiger. Nach den Ausführungen der ärztlichen Sachverständigen brauche der Kläger einen Arbeitsplatz, an dem er sich im wesentlichen aufrecht bewegen könne. Aus den vom Unternehmensverband des Aachener Steinkohlenbergbaus e. V. eingeholten Auskünften ergebe sich aber, daß solche Arbeitsplätze praktisch nicht zur Verfügung ständen. Von einer Aufsichtsperson unter Tage müsse mit Rücksicht auf die nicht selten wechselnden Situationen im allgemeinen verlangt werden, daß sie an allen Betriebspunkten eingesetzt werden könne. Bei der geringen Flözmächtigkeit im Aachener Steinkohlenbergbau, die ein Arbeiten vornehmlich in gebückter Haltung verlange, seien Aufsichtspersonen mit so stark eingeschränkter Verwendungsmöglichkeit wie der Kläger nicht einsatzfähig. Auch auf Tätigkeiten über Tage könne der Kläger nicht verwiesen werden. Für die Tätigkeit als Waschmeister oder Wäschesteiger fehle ihm die erforderliche Ausbildung oder Erfahrung. Die Tätigkeiten der Platz-, Holz- und Wiegemeister seien denen der Steiger und Fahrhauer unter Tage nicht gleichartig. Die Tätigkeit als Brückenaufseher scheide aus, weil sie zu selten vorkomme. Auch auf Tätigkeiten im Braunkohlentagebau könne der Kläger nicht verwiesen werden. Die Abbaumethoden in den beiden Bergbauarten seien so verschieden, daß eine Artverwandtschaft zwischen den typisch bergmännischen Berufen des Steinkohlenbergbaus und des Braunkohlentagebaus nicht angenommen werden könne. Der Kläger würde auch einer längeren Einarbeitung und Umschulung bedürfen, um den Anforderungen im Braunkohlenbergbau gewachsen zu sein.
Gegen das ihr am 18. Mai 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13. Juni 1960 Revision eingelegt und sie am 13. Juli 1960 begründet. Sie rügt die Verletzung des § 36 Abs. 2 RKG aF i. V. m. § 35 RKG aF sowie der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das Berufungsgericht habe in fehlerhafter Beweiswürdigung aus den Auskünften des Unternehmensverbandes geschlossen, daß Aufsichtstätigkeiten unter Tage, bei denen der Kläger sich im wesentlichen aufrecht bewegen könne, praktisch nicht zur Verfügung ständen. Tatsächlich sei die entsprechende Anfrage weder positiv noch negativ beantwortet worden. Das Berufungsgericht hätte daher die Einsatzmöglichkeit des Klägers unter Tage näher aufklären müssen. Im Gegensatz zur Ansicht des Berufungsgerichts seien die Aufsichtstätigkeiten über Tage als Waschmeister, Platzmeister, Holzmeister und Brückenaufseher der Tätigkeit unter Tage als Reviersteiger, Grubensteiger und Fahrhauer gleichartig, weil das Schwergewicht bei beiden Tätigkeitsgruppen in der Aufsichtsfunktion liege. Die Annahme, daß die Zahl der entsprechenden Arbeitsplätze zu gering sei, um auf diese Tätigkeiten verweisen zu können, entbehre jeder Grundlage. Das gelte insbesondere auch für die Tätigkeit als Brückenaufseher. Wenn nach der Entscheidung BSG 3, 171/180 die Zahl der benötigten Ersten Anschläger über Tage groß genug sei, um frühere Hauer auf diese Tätigkeit verweisen zu können, müsse das erst recht für die Verweisung früherer Steiger und Fahrhauer auf die Tätigkeit als Brückenaufseher gelten, weil das zahlenmäßige Verhältnis dabei noch günstiger sei. Schließlich sei auch die Verweisung auf Aufsichtstätigkeiten im Braunkohlentagebau möglich. Es bestehe eine Artverwandtschaft zwischen den entsprechenden Tätigkeiten im Steinkohlenbergbau und im Braunkohlentagebau, weil beide der Gewinnung und Förderung von Mineralien dienten. Die von der Bergschule in Aachen ausgestellten Zeugnisse enthielten auch die Befähigung zur Tätigkeit als Steiger im linksrheinischen Braunkohlenbergbau. Eine Umschulung oder längere Einarbeitung sei hierfür nicht erforderlich.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Köln, Zweigstelle Aachen, vom 13. Dezember 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger, der inzwischen seit dem 1. Februar 1961 die Rente wegen Berufsunfähigkeit nach neuem Recht bezieht, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
II.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und auch begründet.
Es geht nur um die Frage, ob der Kläger trotz Besserung seines Gesundheitszustandes knappschaftlich berufsunfähig i. S. von § 35 RKG aF geblieben ist. Nicht zu beanstanden ist zunächst die Annahme des Berufungsgerichts, daß der Kläger auf Grund der nach ärztlicher Feststellung noch vorliegenden Einschränkungen seiner körperlichen Fähigkeiten nicht auf die Tätigkeit als Aufsichtsperson unter Tage verwiesen werden kann. Es genügt hierzu nicht, daß es, wie es in der Auskunft des Unternehmensverbandes vom 28. Oktober 1959 heißt, "theoretisch und vom bergtechnischen Standpunkt aus" Einsatzmöglichkeiten für nicht in niederen Streben einsetzbare Steiger gibt. Mit Recht hat das Berufungsgericht betont, daß die Besonderheiten des Steinkohlenbergbaus wegen der wechselnden Situationen unter Tage eine gewisse Breite der Einsatzmöglichkeiten für Aufsichtspersonen erfordern. Die Beschränkung auf einzelne Arbeitsplätze mit besonders günstigen örtlichen und technischen Bedingungen schließt die Verweisung auf solche Tätigkeiten jedenfalls dann aus, wenn dem Versicherten kein solcher Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Insoweit bedurfte es auch keiner weiteren Ermittlungen des Berufungsgerichts.
Zuzustimmen ist dem Berufungsgericht auch darin, daß bezüglich der "Gleichartigkeit" i. S. von § 35 RKG aF kein Unterschied zwischen den Tätigkeiten der Reviersteiger, Grubensteiger und Fahrhauer zu machen ist. Durch die Forderung der Gleichartigkeit nach altem Recht soll, wie der Senat bereits in BSG 3, 171/177 ausgeführt hat, i. S. einer echten Berufsversicherung gewährleistet werden, daß der Versicherte immer nur auf solche anderen Tätigkeiten verwiesen werden kann, die sich noch innerhalb "seines Berufs" halten und keine Artverschiedenheit zu diesem aufweisen. Der Hauerarbeit als der wichtigsten Tätigkeit im Rahmen des eigentlichen Bergmannsberufes sind hiernach nur die "typisch bergmännischen Arbeiten" gleichartig. Hierzu hat der Senat alle diejenigen gerechnet, denen der Bergbau das Gepräge gibt, die unmittelbar auf die Gewinnung und Förderung der Mineralien gerichtet und nur und gerade dem Bergbau eigen sind und die in anderen industriellen Betrieben nicht oder doch nicht in gleicher Weise vorkommen. Von den Übertagetätigkeiten für Arbeiter sind das nur die des Ersten Anschlägers, des Reservefördermaschinisten und des Brückenaufsehers (BSG 5, 84). Entsprechendes muß auch für die Tätigkeit der Steiger (Reviersteiger, Grubensteiger und Fahrhauer) im Rahmen der Angestelltentätigkeiten gelten. Die Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter scheidet hiernach ohne weiteres aus. Aber auch die Aufsichtstätigkeiten als Kokereisteiger, Waschmeister, Platzmeister und Holzmeister sind der Tätigkeit des Grubensteigers ebensowenig "gleichartig" wie die Arbeiten der von ihnen beaufsichtigten Tagesarbeiter der Arbeit des Gedingehauers. Das gemeinsame Merkmal der "Aufsicht" als solcher allein begründet ebensowenig eine Gleichartigkeit i. S. von § 35 RKG aF wie das Merkmal der körperlichen Arbeit bei den entsprechenden Arbeiterdienstgraden. Eine Verweisung auf diese Tätigkeiten scheidet daher bei nach altem Recht (§ 35 RKG aF) zu beurteilenden Versicherungsfällen aus. Hierfür käme im Übertagebetrieb des Steinkohlenbergbaus nur noch die Tätigkeit des Brückenaufsehers (im Angestelltenverhältnis) in Betracht. Das Berufungsgericht hat die Verweisung auf diese Tätigkeit zwar mit der Begründung abgelehnt, sie komme zu selten vor; hiermit wollte das Berufungsgericht aber offensichtlich keine Feststellung tatsächlicher Art treffen, sondern sich auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. März 1957 (BSG 5, 84) beziehen. Dort handelte es sich indessen um die Verweisung eines Hauers auf die Tätigkeit des Brückenaufsehers als Arbeiterdienstgrad der Lohngruppe I über Tage (Hängebankaufseher), und die Seltenheit dieser Arbeitsplätze wurde u. a. gerade damit begründet, daß sie vielfach von Angestellten besetzt seien. Daß auch die Zahl der Stellen für Brückenaufseher im Angestelltenverhältnis im Verhältnis zur Zahl der für sie in Betracht kommenden Steiger und Fahrhauer zu gering sei, besagt diese Entscheidung keineswegs. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger könne nicht auf die Tätigkeit als Brückenaufseher verwiesen werden, wird also nicht durch tatsächliche Feststellungen getragen. Die für diese Feststellung erforderlichen Ermittlungen würden sich allerdings dann erübrigen, wenn der Kläger im Hauptberuf nicht als Fahrhauer, sondern als Steiger oder Reviersteiger anzusehen wäre und ein Vergleich der tariflichen Bezüge ergeben würde, daß diejenigen der als Brückenaufseher über Tage tätigen Aufsichtspersonen so wesentlich niedriger als die der Steiger bzw. Reviersteiger lägen, daß eine wirtschaftliche Gleichwertigkeit i. S. von § 35 RKG aF nicht mehr angenommen werden könnte. Das Berufungsgericht hat die Frage offengelassen, ob als "bisherige Tätigkeit" des Klägers i. S. von § 35 RKG aF die des Reviersteigers, des Grubensteigers oder des Fahrhauers zu gelten hat. Es liegen auch keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen über die berufliche Entwicklung des Klägers und insbesondere darüber vor, ob er die Tätigkeit als Revier- oder Grubensteiger aus unfallbedingten oder sonstigen gesundheitlichen Gründen aufgegeben und nicht wieder aufgenommen hat, die es dem Senat ermöglichen würden, den Hauptberuf des Klägers bei Eintritt des Versicherungsfalls im Jahre 1953 zu bestimmen.
Die Revision wendet sich auch mit Recht gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, es könne keine Artverwandtschaft zwischen den typisch bergmännischen Berufen des Steinkohlenbergbaus und denen des Braunkohlentagebaus angenommen werden. Trotz unterschiedlicher technischer Methoden sind beide in gleicher Weise auf die Gewinnung der Kohle gerichtet und daher ihrem Wesen nach gleichartig. Dementsprechend können auch Aufsichtstätigkeiten in beiden Bergbauarten trotz der Unterschiedlichkeit der beaufsichtigten technischen Arbeitsvorgänge einander i. S. von § 35 RKG aF gleichartig sein. Dafür gelten die oben angeführten Grundsätze, die der Senat in der Entscheidung BSG 3, 177/178 niedergelegt hat. Es bedarf daher der Prüfung, welche im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertigen technischen Aufsichtstätigkeiten im Braunkohlentagebau, die ihrer Art nach der bisherigen Tätigkeit des Klägers im Steinkohlenbergbau entsprechen, für ihn nach seinem Gesundheitszustand sowie nach seinen durch Ausbildung und Erfahrung gewonnenen Kenntnissen und Fähigkeiten zur Entziehungszeit in Betracht kamen, ohne eine besondere Umschulung oder längere Einarbeitung zu erfordern. Allerdings heißt es in dem angefochtenen Urteil, "im übrigen" bedürfe es für den Kläger einer längeren Einarbeitung und einer Umschulung, um den Anforderungen im Braunkohlentagebau gewachsen zu sein. Hat das Berufungsgericht damit eine tatsächliche Feststellung treffen wollen, so ist diese mit Recht von der Revision angegriffen worden, weil dem Urteil nicht zu entnehmen ist, auf welchen Erkenntnisquellen sie beruht. Es ist weder ersichtlich, daß über diese Frage Beweis erhoben wurde, noch daß die Richter des Berufungsgerichts aus eigener Sachkunde die ausbildungsmäßigen Voraussetzungen für die in Frage kommenden Aufsichtstätigkeiten im Braunkohlentagebau beurteilen konnten und wollten. Das Revisionsgericht ist also an diese Feststellung nicht gebunden. Das gleiche gilt dann, wenn das Berufungsgericht damit nur einen allgemeinen Erfahrungssatz zum Ausdruck hat bringen wollen, den es nach Ansicht des Senats in diesem Umfang nicht gibt; ferner ebenso, wenn das LSG lediglich eine Vermutung äußern wollte, deren Nachprüfung sich deshalb erübrigte, weil nach seiner Rechtsansicht eine Verweisung auf Tätigkeiten im Braunkohlenbergbau wegen mangelnder Gleichartigkeit ohnehin nicht in Frage kam. - Wegen der noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen für die Frage, ob der Kläger auf die Tätigkeiten als Brückenaufseher im Steinkohlenbergbau oder auf Aufsichtstätigkeiten im Braunkohlentagebau verwiesen werden konnte, mußte die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten zu entscheiden hat.
Fundstellen