Orientierungssatz

Zum Begriff "Feindeinwirkung" iS des RVO § 1263a aF.

 

Normenkette

RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1945-03-17

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Februar 1960 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Kläger sind die Rechtsnachfolger der während des Revisionsverfahrens verstorbenen A K. Diese beanspruchte als Witwe eines im Januar 1945 verstorbenen Versicherten Witwenrente aus der Angestelltenversicherung. Ihr Antrag wurde erstmals 1953 abgelehnt, ohne daß sie den Bescheid anfocht. Den im April 1957 wiederholten Antrag lehnte die Beklagte erneut ab (Bescheid vom 19. Juli 1957). Auf die Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) zur Rentengewährung von April 1957 an. Die Berufung der Beklagten hatte Erfolg, das Landessozialgericht (LSG) hob das Urteil auf und wies die Klage ab. Da die Nichterfüllung der Wartezeit (60 Monate) unstreitig war, beschäftigte sich das LSG nur mit der Frage, ob die Wartezeit als erfüllt gelte; es prüfte sie nach § 1263 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF - eingeführt durch Art. 17 der Ersten Vereinfachungsverordnung (1. VereinfachungsVO) vom 17. März 1945 - (i. V. m. § 31 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - aF) und verneinte die drei Alternativen einer "Wartezeitfiktion": Für einen Arbeitsunfall (Abs. 1 Nr. 1) bestünden keine Anhaltspunkte. Die Tätigkeit des Versicherten in der Kriegsmarinewerft K und dem Kriegsmarinearsenal H von 1941 bis November 1944 habe auf einem - wenn auch durch Dienstverpflichtung zustande gekommenen - zivilen Arbeitsverhältnis beruht und sei darum kein Kriegs-, Sanitäts- oder ähnlicher Dienst i. S. der Nr. 2 gewesen. Der Versicherte sei auch nicht "infolge Feindeinwirkung" (Nr. 3) berufsunfähig geworden oder gestorben; im Versorgungsverfahren der Witwe habe das Versorgungsamt zwar angenommen, daß "Vernebelungen anläßlich der Fliegerangriffe auf H" die Erkrankung der Atmungsorgane und damit den Tod des Versicherten ungünstig beeinflußt hätten; dabei habe es sich jedoch nicht um eine Feindeinwirkung, sondern um Auswirkungen der eigenen Abwehr gehandelt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragten die Kläger,

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückzuverweisen.

Sie rügten ausschließlich eine Verletzung des § 1263 a RVO aF Abs. 1 Nr. 3 ; das LSG habe den Begriff der Feindeinwirkung verkannt.

Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.

Alle Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und auch begründet.

Die Auslegung des Begriffs "Feindeinwirkung" durch das LSG verletzt das Gesetz (§ 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF). Feindeinwirkungen sind nicht nur, wozu eine rein wörtliche Interpretation führen könnte, die unmittelbaren Einwirkungen feindlicher Kräfte; unter den Begriff der Feindeinwirkung fallen vielmehr auch die Auswirkungen eigener Kampf- und Abwehrmaßnahmen. Dies bestätigt die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 7, 159; 15, 182; 16, 26; SozR Nr. 1, 2, 10 - 12 zu § 1263 a RVO aF), die auch Schädigungen durch eigene Minen und durch Aufsuchen des Luftschutzkellers als Feindeinwirkung gewertet hat (BSG 7 und 16 aaO). Soweit in dieser Rechtsprechung von einem "aktiven Handeln des Feindes" die Rede ist, sollten damit lediglich die allgemeinen Kriegsverhältnisse (Nahrungsmangel, ungenügende Gesundheitsfürsorge, allgemeine Verdunklung) ausgeschieden, nicht aber ausschließlich Maßnahmen des Feindes als "Feindeinwirkung" angesehen werden. Eine solche Begrenzung würde der Entstehungsgeschichte (dargestellt in SozR Nr. 1 zu § 1263 a RVO nF und BSG 7, 159, 163) sowie dem Sinn und Zweck der Bestimmung widersprechen. Durch die Einführung der Wartezeitfiktion in § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF sollte die Zivilbevölkerung gegen die Folgen von Luftangriffen und anderen Kampfmitteln versicherungsrechtlich geschützt werden; man hatte damals (1945) die Regelung der Personenschädenverordnung vom 19. November 1940 vor Augen, die in § 2 Schäden durch militärische Maßnahmen deutscher Streitkräfte und durch Maßnahmen deutscher Behörden in die Versorgung einbezog; ihre Ausklammerung in § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO aF wäre sinnwidrig und unbillig; abgesehen davon, daß ein einheitliches Kriegsgeschehen die Trennung von gegnerischen und eigenen Kampf- und Abwehrmaßnahmen oft nicht ermöglicht, wäre auch eine unterschiedliche versicherungsrechtliche Entschädigung seiner Folgen nicht gerechtfertigt; es ist nicht einzusehen, inwiefern es hier einen Unterschied begründen soll, ob die Berufsunfähigkeit oder der Tod eines Versicherten durch feindliche oder durch eigene Kampf- und Abwehrmittel herbeigeführt worden ist. Entgegen der Ansicht des LSG sind deshalb die Auswirkungen eigener Abwehrmaßnahmen - hier die der Vernebelungen zur Verhütung gezielter Luftangriffe auf Hamburg - ebenfalls als Feindeinwirkung anzusehen.

Die Revision erweist sich damit als begründet. Der Senat kann die klageabweisende Entscheidung des LSG nicht aus anderen Gründen als richtig aufrechterhalten (§ 170 Abs. 1 SGG). Es mag zwar zweifelhaft sein, ob die Beklagte auf den erneuten Antrag im Jahre 1957 die Nichtanwendung des § 1263 a RVO aF ebenfalls überprüfen mußte; nachdem die Beklagte aber in dem zweiten Bescheid die Wartezeiterfüllung nach den im Todeszeitpunkt geltenden Vorschriften - zu denen auch § 1263 a RVO aF zählte, wie sich aus Art. 26 der. 1. VereinfachungsVO ergibt - erneut geprüft hat, läßt sich den Klägern nicht mehr entgegenhalten, daß nach Art. 2 § 43 Satz 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) i. V. m. Art. 2 § 17 AnVNG der Witwe des Versicherten ein so weitgehendes Nachprüfungsrecht gegenüber dem ersten Bescheid vom Jahre 1953 möglicherweise gar nicht zustand. Das Urteil des LSG ist somit aufzuheben. In der Sache selbst kann der Senat nicht entscheiden. Da die normale Wartezeit mit den anrechnungsfähigen Zeiten nicht erfüllt ist und das LSG die sonstigen Alternativen einer Wartezeitfiktion (beim Arbeitsunfall allerdings richtiger nach § 29 Nr. 1 AVG nF, vgl. Art. 2 § 10 Abs. 1 Nr. 1 AnVNG) zutreffend verneint hat, kommt es darauf an, ob die Wartezeit nach Nr. 3 des § 1263 a Abs. 1 RVO aF als erfüllt gilt. Insoweit fehlen noch tatsächliche Feststellungen darüber, ob der Versicherte "infolge" der Vernebelungen berufsunfähig geworden oder gestorben ist. Diese sind dem BSG verwehrt; deshalb muß der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Bei der neuen Entscheidung hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzubefinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325537

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