Leitsatz (amtlich)
Unter "Feindeinwirkung" iS des RVO § 1263a Fassung: 1945-03-17 ist ein Ereignis zu verstehen, das vom Gegner selbst mit seinen Mitteln hervorgerufen wird, die er im Rahmen seines Kriegsplans einsetzt und lenkt.
Der Begriff der "Feindeinwirkung" kann deshalb nicht mit der "unmittelbaren Kriegseinwirkung" iS des BVG gleichgesetzt werden.
Normenkette
AVG § 31 Fassung: 1945-03-17; RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1945-03-17
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 13. Januar 1956 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrt Witwenrente aus der Angestelltenversicherung (AV.). Ihr Ehemann ist im Jahre 1921 an einem Lungenleiden gestorben. Für ihn sind in den Jahren 1919 bis 1921 insgesamt 19 Monatsbeiträge zur AV. entrichtet worden. Vor 1919 war der Verstorbene weder in der Invalidenversicherung noch in der AV. versichert. In den Jahren 1917/18 hat er 13 Monate Kriegsdienst geleistet. Sein Lungenleiden wurde als Wehrdienstbeschädigung anerkannt.
Die Klägerin stellte den Rentenantrag am 30. Juni 1952. Die Versicherungsanstalt B lehnte ihn ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei und auch nicht als erfüllt gelten könne. Aus den gleichen Gründen wies der Beschwerdeausschuß der nunmehr zuständig gewordenen Landesversicherungsanstalt Berlin die Beschwerde der Klägerin zurück (Bescheid vom 19. Dezember 1952). Ihre weitere Beschwerde ging nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht Berlin über. Sie wurde abgewiesen, weil der Ehemann der Klägerin nicht "infolge Feindeinwirkung" gestorben sei (Urteil vom 1. April 1955). Inzwischen war die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als Beklagte in den Rechtsstreit eingetreten.
Das Landessozialgericht Berlin wies die Berufung der Klägerin zurück: Der Tod sei zwar durch ein Kriegsleiden herbeigeführt worden, dieses habe jedoch nicht auf einer "Feindeinwirkung" beruht, sondern sei die Folge der Kälteeinwirkung während des Rußlandfeldzuges 1917/18 gewesen; im übrigen habe der Verstorbene zur Zeit seines Kriegsdienstes auch nicht zu den "Versicherten" gehört. Das Landessozialgericht ließ die Revision zu (Urteil vom 13. Januar 1956).
Die Klägerin legte gegen das ihr am 13. Februar 1956 zugestellte Urteil am 13. März 1956 Revision ein und begründete sie gleichzeitig. Sie ist der Ansicht, das Landessozialgericht habe den Begriff der "Feindeinwirkung" im Sinne des § 1263 a RVO a. F. zu eng ausgelegt. Sie beantragte, die Vorentscheidungen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Witwenrente aus der AV. zu gewähren.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet.
Der Versicherungsfall ist 1921 eingetreten. Die Beurteilung dieses Rechtsstreits richtet sich deshalb nach dem Recht, das vor dem Erlaß des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 gegolten hat (Artikel 2 §§ 6, 17, 43; Artikel 3 § 7 AnVNG). Nach diesem Recht darf eine Witwenrente aus der AV. - beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen - nur gewährt werden, wenn die Wartezeit erfüllt ist oder als erfüllt gilt (§§ 1, 54 RVÜG , §§ 28 Abs. 2, 31 AVG a. F.). Beides ist nicht der Fall.
Für den 1921 eingetretenen Versicherungsfall beträgt die regelmäßige Wartezeit 60 Beitragsmonate (§ 31 AVG a. F. in Verbindung mit § 1262 RVO a. F. und Artikel 26 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung vom 17. März 1945). Sie ist mit 19 Monatsbeiträgen nicht erfüllt.
Die Wartezeit kann auch nicht als erfüllt gelten. Die Voraussetzungen, die das Gesetz in § 1263 a RVO a. F. für diese Vergünstigung aufgestellt hat, liegen nicht vor. Zwar enthält diese Vorschrift keine zeitliche oder persönliche Beschränkung (§§ 1, 54 RVÜG , § 31 AVG a. F., Artikel 26 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung vom 17. März 1945). Sie ist deshalb, wie das LSG. mit Recht angenommen hat, auch in den Fällen anwendbar, in denen der Versicherungsfall während des ersten Weltkrieges hervorgerufen worden ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung 5. Aufl., S. 670; Warda, Arbeit und Sozialpolitik 1956, S. 230). Nach § 1263 a RVO a. F. gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte "infolge Feindeinwirkung gestorben ist". Die übrigen Tatbestände, die noch in dieser Vorschrift geregelt sind ("Tod durch Arbeitsunfall" und "Tod während der Ableistung von Kriegsdiensten"), können außer Betracht bleiben, weil sie durch den gegebenen Sachverhalt ausgeschlossen sind. Die Revision hat auch nur die Auslegung des Begriffs "Feindeinwirkung" gerügt.
"Feindeinwirkung" bedeutet sprachlich eine "Einwirkung" des "Feindes", das heißt ein Handeln des Kriegsgegners. Dem Wortlaut nach ist ein Ereignis erforderlich, das vom Gegner selbst mit seinen Mitteln hervorgerufen wird, die er im Rahmen seines Kriegsplans einsetzt und lenkt. Ereignisse, die - wie etwa Naturereignisse - außerhalb der menschlichen Einflußnahme liegen, sind keine Feindeinwirkungen, mag der Gegner ihre vielleicht schädigenden Folgen auch erwarten und möglicherweise voraussehen.
Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt. Dem älteren Recht der Rentenversicherung war eine fiktive Erfüllung der Wartezeit fremd. Eine solche Erleichterung brachte erstmals § 17 Abs. 1 des "Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges" vom 15. Januar 1941. Danach galt bei Versicherten, die während des Krieges als Soldaten gestorben oder infolge einer Beschädigung bei besonderem Einsatz oder einer Wehrdienstbeschädigung berufsunfähig (invalide) geworden waren, die Wartezeit als erfüllt. Der Reichsarbeitsminister beabsichtigte 1943, diese Vergünstigung auch auf Personen zu erstrecken, die nicht Soldaten waren, aber bei ähnlichen Diensten berufsunfähig wurden oder starben. Er hat diese Absicht damals zwar nicht verwirklicht, war aber damit einverstanden, daß im Sinne seiner Absicht tatsächlich verfahren wurde (Bescheid vom 29. Juli 1943 - AN. 1943 S. 370). 1944 erklärte das Reichsversicherungsamt im Einverständnis mit dem Reichsarbeitsminister, daß es nichts dagegen einzuwenden habe, wenn die Wartezeit als erfüllt angenommen werde, wenn der Versicherte infolge von Luftangriffen berufsunfähig geworden oder gestorben sei (AN. 1944 S. 124). Die Erste Vereinfachungs-Verordnung vom 17. März 1945 faßte diese Tatbestände (einschließlich des § 1262 Abs. 5 RVO in der Fassung der Verordnung vom 22. Juni 1942) mit sinngemäßen Erweiterungen zum § 1263 a RVO a. F. zusammen, wobei mit Rücksicht darauf, daß 1945 die Zivilbevölkerung nicht mehr allein durch Luftangriffe, sondern wegen der zusammengebrochenen Fronten auch durch andere Kampfmittel (z. B. Artilleriebeschuß) gefährdet war, der Begriff "Feindeinwirkung" (anstelle von "Luftangriffe") verwendet und als selbständige Nummer in den § 1263 a RVO a. F. aufgenommen wurde. Das läßt erkennen, daß die Wartezeit-Vergünstigung nur dann gewährt werden soll, wenn der Versicherungsfall durch ein aktives Handeln ("Einwirken") des Feindes verursacht worden ist, nicht aber durch irgendwelche ungünstigen Kriegsverhältnisse, etwa durch Kohlenmangel, Nahrungsmangel oder ungenügende Gesundheitsfürsorge.
(Im Ergebnis ebenso: Bayer. LVAmt in Breithaupt 1952 S. 725, 1953 S. 411 und 1127; LVAmt Württemberg-Baden in Breithaupt 1952 S. 896; Verbandskommentar, 5. Auflage, § 1263 a Anmerkung 6; Koch-Hartmann, AVG, 2. Auflage, § 31 mit § 1263 a RVO Anmerkung 6).
Der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des § 1263 a RVO a. F. sprechen auch dagegen, den Begriff "Feindeinwirkung" in Anlehnung an den Begriff "unmittelbare Kriegseinwirkung" des Versorgungsrechts zu deuten oder beide Begriffe gleichzusetzen. Die Fiktion einer Wartezeiterfüllung widerstrebt grundsätzlich dem Wesen der Rentenversicherung. Sie ist eine Ausnahme und kann nur - und zwar ausdrücklich - vom Gesetzgeber angeordnet werden. Vom Versorgungsrecht her, in dem der Begriff der "unmittelbaren Kriegseinwirkung" eine besondere Ausweitung erfahren hat, kann deshalb nicht ohne Ausspruch des Gesetzgebers eine Ausweitung der Wartezeit-Vergünstigung herbeigeführt werden. Der Gesetzgeber hat nun zwar in den Neuregelungsgesetzen zur Rentenversicherung die Parallele zum Versorgungsrecht gezogen (Artikel 1 § 29 Nr. 3 AnVNG), diese Regelung aber auf neue Versicherungsfälle beschränkt (Artikel 2 §§ 6, 10, Artikel 3 § 7 AnVNG). Soweit auf alte Versicherungsfälle § 1263 a RVO a. F. anzuwenden ist, muß der Begriff "Feindeinwirkung" in dem dargelegten Sinn verstanden werden.
Der Versicherte ist 1921 an einem Leiden gestorben, das er sich, wie das Landessozialgericht festgestellt hat, durch Kälteeinwirkungen während des Rußlandfeldzuges 1917/18 zugezogen hatte. Einwirkungen dieser Art stellen keine "Feindeinwirkung" im Sinne des § 1263 a RVO a. F. dar, so daß diese Vorschrift nicht zu Gunsten der Klägerin angewendet werden kann. Entfällt schon aus diesem Grunde eine fiktive Erfüllung der Wartezeit, dann darf die Frage offen bleiben, ob der Ehemann der Klägerin bereits zur Zeit des schädigenden Ereignisses - das heißt im Winter 1917/18 - "Versicherter" gewesen sein mußte oder ob es genügte, daß er es zur Zeit seines Todes im Jahre 1921 war.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind deshalb im Ergebnis richtig. Die Revision war zurückzuweisen (§§ 170, 193 SGG).
Fundstellen