Entscheidungsstichwort (Thema)
Freie Beweiswürdigung und MdE
Orientierungssatz
Ist das Gericht bei der Feststellung des Grades der MdE, nach welchem die Höhe der Rente des Beschädigten zu bemessen ist (§§ 29 bis 32 BVG), von der Schätzung eines medizinischen Sachverständigen abgewichen, so läßt dies nicht die Schlußfolgerung zu, daß das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten hat (vgl BSG 1958-01-17 10 RV 102/56 = SozR Nr 25 zu § 128 SGG).
Normenkette
SGG § 128 Fassung: 1958-08-23; BVG § 29
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.02.1960) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Februar 1960 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der 1907 geborene Kläger, von Beruf Drucker, erlitt während des militärischen Dienstes (1939 - 1945) eine Unfallverletzung, die zu einer "tuberkulösen Fisteleiterung am rechten Ellenbogengelenk mit Versteifung des Gelenks und Muskelatrophie des rechten Armes" führte. Diese Gesundheitsstörungen waren sowohl 1949 nach der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 wie auch 1951 durch Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) als Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. anerkannt worden. Auf Grund versorgungsärztlicher Nachuntersuchung setzte das Versorgungsamt dann mit Wirkung vom 1. März 1954 die MdE des Klägers auf 40 v. H. herab und bezeichnete das Schädigungsleiden als "Versteifung des rechten Ellenbogengelenks, etwa im rechten Winkel Muskelverschmächtigung des rechten Armes und Einschränkung der Unterarmdrehbewegung" (Neufeststellungsbescheid vom 27. Januar 1954). Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hingegen verurteilte den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide, dem Kläger ab 1. März 1954 für die anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer MdE von 60 v. H. zu zahlen. Im übrigen wurde die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. Dezember 1956). Das SG war der Auffassung, daß der tuberkulöse Prozeß im Arm des Klägers noch nicht völlig ausgeheilt und dieser durch die Schädigungsfolgen in seinen Arbeitsverrichtungen noch behindert sei. Es lehnte jedoch die Anerkennung eines besonderen wirtschaftlichen Schadens im Sinne des § 30 BVG ab.
II. Auf die Berufung des Beklagten änderte das Landessozialgericht (LSG) das sozialgerichtliche Urteil dahin ab, daß dem Kläger vom 1. März 1954 ab bis zum 30. September 1958 Rente nach einer MdE von 50 v. H. zu zahlen war. Im übrigen wurde die Klage ebenfalls abgewiesen (Urteil vom 11. Februar 1960). Die MdE des Klägers nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben sei von den im Laufe des Verfahrens gehörten ärztlichen Gutachtern teils mit 60 v. H., teils mit 40 v. H., teils mit 30 v. H. bewertet worden. Diese Bewertungsunterschiede ergäben sich daraus, daß Dr. St und Prof. K bei ihren Gutachten vom 6. Januar 1956 und vom 15. August 1959 davon ausgingen, der tuberkulöse Prozeß im rechten Ellenbogengelenk sei nicht zur Ruhe gekommen, während Oberarzt Dr. G und Dr. med. W jenen in ihren Gutachten vom 17. April 1959 und vom 11. Februar 1960 als ausgeheilt beurteilten. Unter freier Würdigung dieser Gutachten sei das LSG zu der Überzeugung gelangt, daß der tuberkulöse Prozeß beim Kläger, der 1949 zur Festsetzung der Versorgungsbezüge auf 80 v. H. geführt hatte, in den folgenden Jahren erst allmählich abgeklungen sei, so daß die Herabsetzung des Grades der MdE von 80 auf 40 v. H. ab 1. März 1954 vorerst noch nicht gerechtfertigt, sondern die Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. März 1954 bis zum 30. September 1958 zunächst noch mit 50 v. H. zu bewerten war. Für die Folgezeit erachtete das LSG, den Gutachtern Dr. W, Dr. G und Dr. W folgend, den tuberkulösen Prozeß - im Gegensatz zu dem Gutachten von Prof. K - zumindest seit Ende September 1958 als abgeheilt, weswegen nach dieser Zeit die MdE durch die Schädigungsfolgen nicht günstiger als mit 40 v. H. bewertet werden könne. Die Voraussetzungen für eine Erhöhung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit seien nicht gegeben, da der Kläger weiterhin als Facharbeiter in seinem erlernten Beruf tätig und damit sozial nicht abgesunken sei. Die vom 1. Oktober 1958 ab immerhin noch zugebilligte Rente nach einer MdE um 40 v. H. werde jedenfalls seiner beruflichen Situation gerecht. Revision wurde nicht zugelassen.
III. Der Kläger legte gegen das am 15. Juni 1960 zugestellte Urteil am 12. Juli Revision ein und begründete diese - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - am 14. September 1960. Er rügt Verletzung der Aufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG) sowie Überschreitung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 SGG). Da die Ärzte Dr. St und Prof. K in ihren Gutachten vom 6. Januar 1956 und vom 14. August 1959 davon ausgegangen seien, daß der tuberkulöse Prozeß im rechten Ellenbogengelenk noch nicht zur Ruhe gekommen sei, während die Ärzte Dr. G und Dr. W diesen in ihren Gutachten vom 17. April 1959 und vom 11. Februar 1960 als ausgeheilt bezeichneten, hätte das LSG sich der Meinung letzterer Sachverständigen nicht anschließen dürfen, solange aus den sich widersprechenden Gutachten noch Zweifel oder Unklarheiten erwuchsen. Bei einem im Ablauf begriffenen Tbc-Herde insbesondere sei für freie Beweiswürdigung kein Platz, weil es sich hier um Tatbestände handele, die nur durch entsprechende Befunde zu klären seien. Solche aber seien für die Vorderrichter durch Anhörung des zuständigen Gesundheitsamtes - Abteilung Tbc-Fürsorge - zu erreichen gewesen, bei dem der Kläger nach Vornahme einer Pirquet-Probe am 14. August 1959 durch Dr. med. S geführt worden sei. Auf einer derartigen Pirquet-Probe beruhe aber auch das Gutachten des Prof. K vom 14. August 1959; dieses sei demzufolge allen anderen Gutachten, die einen derartigen Test offensichtlich nicht durchgeführt hätten, an Beweiswert überlegen. Nach Sachlage hätten die Berufungsrichter die Bedeutung der einzelnen Befunde verkannt und damit ihre Entscheidung nicht dem Gesetz gemäß aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG vom 11. Februar 1960 die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Er hält die Sachaufklärung des LSG für vollständig und seine Beweiswürdigung für fehlerfrei. Auf eine Auskunft des Gesundheitsamtes bezüglich der Pirquet-Probe komme es für die Beurteilung der Schädigungsfolgen nicht an, weil selbst der vom Kläger benannte Gutachter Prof. K den Pirquet-Befund erkennbar nicht verwertet, sondern seine Beurteilung im wesentlichen auf die Röntgenaufnahmen abgestellt habe.
IV. Da die Revision vom LSG nicht zugelassen wurde, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammen hangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Diese Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt.
Das LSG hatte über die bereits vorliegenden Beweismittel hinaus sich das Gutachten des Dozenten und Oberarztes Dr. G (Chirurgische Universitätsklinik Marburg) vom 17. April 1959 erstatten lassen. Dieser war nach persönlicher Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt, daß nach dem klinischen und röntgenologischen Bild der tuberkulöse Prozeß im rechten Ellenbogengelenk zur Ruhe gekommen sei. Das LSG hatte weiter auf Antrag des Klägers (§ 109 SGG) das Gutachten des Prof. K (Städt. Krankenhaus Lüdenscheid) vom 14. August 1959 eingeholt, der darin u. a. erklärt hatte, daß beim Kläger im rechten Ellenbogengelenk eine Fisteleiterung oder Absonderung aus den Narben zur Zeit nicht nachweisbar, sonst frische tuberkulöse Herdbildungen oder Kavernen nirgends sichtbar seien sowie daß eine floride Lungentuberkulose nicht bestehe. Das LSG hatte ferner die schriftlichen Äußerungen des im Termin vom 11. Februar 1960 als Sachverständigen gehörten Facharztes für Chirurgie Dr. W vorliegen, der bekundet hatte, daß sich aus den vorhandenen Röntgenaufnahmen des rechten Ellenbogengelenks des Klägers röntgenologisch eine Sequesterbildung oder ein Anhalt für eine Entzündung nicht nachweisen lasse und daß die Blutuntersuchungen ebenfalls keinen Hinweis für einen entzündlichen Prozeß ergäben. Wenn das LSG alsdann nach eingehender Abwägung aller Umstände diesen auf mehrfach erhobenen Befunden sachlich beruhenden Gutachten bezüglich des Leidenszustandes des Klägers gefolgt und davon ausgegangen ist, daß die tuberkulösen Erscheinungen im rechten Ellenbogengelenk, die vor dem 1. März 1954 mit einer MdE um 80 v. H. bewertet worden waren, sich in den folgenden Jahren allmählich zurückentwickelt hatten und schließlich abgeklungen waren, so daß der tuberkulose Prozeß seit Ende September 1958 als abgeheilt zu betrachten war, so hielt es sich damit - was die tatbestandsmäßigen Faktoren anbelangt - im Rahmen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung. Eine solche kann vom Revisionsgericht nur unter dem Gesichtspunkt nachgeprüft werden, ob sie willkürlich ist oder gegen Denkgesetze verstößt. Dies ist aber hier nicht der Fall. Zudem hat das LSG die Gründe, die für eine richterliche Überzeugung leitend gewesen sind, im Urteil selbst ausführlich angegeben. Mithin war das Berufungsgericht von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus - und nur dieser, nicht jener des Revisionsgerichts ist diesbezüglich maßgebend (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 20) - nicht gezwungen, zum Tatbestand weitere Ermittlungen anzustellen oder Gutachten einzuholen. Insoweit kann auch die vom Kläger in der Revisionsbegründung benannte Pirquet-Probe des Dr. med. S vom 14. August 1959 oder eine diesbezügliche Auskunft des Gesundheitsamtes nicht als ein Umstand gewertet werden, der geeignet gewesen wäre, eine andere richterliche Überzeugung herbeizuführen. Dies muß um so mehr gelten, als Prof. K in seinem Gutachten ebenfalls einen Pirquet-Test (positiv) vom gleichen Zeitpunkt erwähnt, daraus aber Schlußfolgerungen auf das tatsächliche Vorhandensein akuter tuberkulöser Erscheinungen nicht gezogen hat. Die Revision hat überdies auch nicht im einzelnen dargelegt, welche medizinischen Tatsachen einer zusätzlichen Klärung hätten zugeführt werden müssen. Insoweit fehlt es an der ausreichenden Spezifikation (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Pirquet-Probe (Hauptimpfung mit Alt-Tuberkulin) besagt nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft bei positivem Ausgang regelmäßig nicht mehr, als daß der Betroffene irgendwann (in zurückliegender Zeit) mit einer Tbc infiziert war.
Die ärztlichen Gutachten unterscheiden sich im wesentlichen nur durch die verschiedenen Vorschläge für die Beurteilung des Grades der MdE, die sich zwischen 30 bis 60 v. H. bewegen. Wenn dabei das LSG unter Würdigung sämtlicher ärztlichen Befunde und der sonstigen persönlichen Verhältnisse des Klägers zu der Überzeugung gelangt ist, daß die für die Höhe der Rente maßgebende MdE im Zeitraum vom 1. März 1954 bis zum 30. September 1958 bei 50 v. H. und danach bei 40 v. H. gelegen hat, so wird hierzu ebenfalls weder aus den Entscheidungsgründen noch aus der Revisionsbegründung ersichtlich, daß das Gericht den Ermessensspielraum, der ihm bei Schätzung der Einbuße an Erwerbsfähigkeit eingeräumt ist, in unzulässiger Weise überschritten oder sein Ermessen sonstwie willkürlich ausgeübt hätte (vgl. BSG in SozR SGG zu § 128 Bl. DA 9 Nr. 25).
Nach alledem hat das LSG die Grenzen seiner Befugnis, nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens in freier richterlicher Überzeugung zu entscheiden, nicht verletzt.
V. Es liegen also weder Verstöße gegen §§ 103, 106 SGG noch gegen § 128 SGG vor.
Die Revision ist daher nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Eine Rüge nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ist nicht erhoben. Eine solche scheidet auch schon deshalb aus, weil der ursächliche Zusammenhang unter den Beteiligten im Umfange des angefochtenen Urteils nicht strittig ist.
Die Revision mußte mithin als unzulässig verworfen werden (§ 169 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen