Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsnachentrichtung durch Verfolgte nach Eintritt des Versicherungsfalles
Leitsatz (amtlich)
Beiträge können nach WGSVG § 10 Abs 1 S 1 auch dann nachentrichtet werden, wenn der Versicherungsfall des Alters nach dem Stichtag des WGSVG § 10 Abs 1 S 2 (1972-02-01) eingetreten und der Altersruhegeldbescheid bereits bindend geworden ist. Dies gilt jedenfalls für Altersversicherungsfälle bis zum Inkrafttreten des AVG § 10 Abs 2a (1972-10-19 - RRG Art 6 § 8 Abs 2).
Normenkette
WGSVG § 10 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-22, S. 2 Fassung: 1970-12-22; AVG § 10 Abs. 2a Fassung: 1972-10-16; RRG Art. 6 § 8 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; AVG § 141 Abs. 1 Fassung: 1967-12-21; RVO § 1233 Abs. 2a Fassung: 1972-10-16, § 1419 Abs. 1 Fassung: 1967-12-21
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. November 1974 aufgehoben.
2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juni 1974 wird zurückgewiesen.
3. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger berechtigt ist, gemäß § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) idF des Änderungs- und Erwägungs*-gesetzes (WGSVÄndG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) Beiträge nachzuentrichten.
Der am 10. April 1907 geborene Kläger ist anerkannter Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er bezieht von der Beklagten seit dem 1. Mai 1972 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Im Rentenbescheid vom 6. Juli 1972 hatte die Beklagte für die Zeit ab Oktober 1923 Pflichtbeiträge für 115 Monate und eine Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts von 198 Monaten (von Juli 1933 bis Dezember 1949) sowie eine pauschale Ausfallzeit von 8 Monaten berücksichtigt. Der dem Kläger am 19. Juli 1972 zugestellte Bescheid enthält den Hinweis, daß er unter Berücksichtigung des am 1. Februar 1971 in Kraft getretenen WGSVG ergehe.
Im Juni 1973 erklärte sich der Kläger bereit, weitere Beiträge zu leisten, und beantragte insoweit die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung. Dies lehnte die Beklagte ab, weil der Versicherungsfall des Alters nach dem 31. Januar 1972 eingetreten und der Bewilligungsbescheid bereits bindend geworden sei. Insoweit habe für sie keine Veranlassung bestanden, den Kläger rechtzeitig auf die allgemeine Möglichkeit hinzuweisen, daß Beiträge nachentrichtet werden könnten (Bescheid vom 16. August 1973, Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1973).
Im Klageverfahren trug der Kläger vor, § 10 WGSVG lasse die Nachentrichtung von Beiträgen für Zeiten vor Eintritt des Versicherungsfalles des Alters zu. Dies ergebe sich aus der Verweisung in der Vorschrift auf § 141 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Im übrigen könne sich die Beklagte wegen der Verletzung ihrer Aufklärungspflicht nicht darauf berufen, daß der Zulassungsantrag verspätet gestellt worden sei. Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte, die Nachentrichtung von Beiträgen gemäß § 10 WGSVG zuzulassen (Urteil vom 26. Juni 1974). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus:
Der Kläger gehöre zwar zu dem in § 9 WGSVG bezeichneten Personenkreis. Er erfülle jedoch nicht die Voraussetzungen des § 10 Abs 1 WGSVG. Diese Vorschrift erweitere das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen gegenüber der allgemeinen Vorschrift des § 140 AVG nur insoweit, als Beiträge auch dann nicht als unwirksam anzusehen seien, wenn sie für einen Zeitpunkt entrichtet würden, der über den in § 140 Abs 1 AVG abgegrenzten hinausgehe. § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG stelle hierbei klar, daß hinsichtlich der Zulässigkeit der Nachentrichtung von Beiträgen nach Eintritt des Versicherungsfalles - Versicherungsfälle bis zum 31. Januar 1972 ausgenommen - dieselben Regeln gelten wie bei der Beitragsnachentrichtung nach den allgemeinen Vorschriften. Der beim Kläger im April 1972 eingetretene Versicherungsfall des Alters liege außerhalb des Zeitraumes, der in § 10 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 WGSVG bestimmt sei, so daß diese Ausnahmeregelung für ihn nicht anwendbar sei. Eine Möglichkeit einer Beitragsentrichtung für Zeiten vor Beginn des Altersruhegeldes bestehe gemäß § 10 Abs 2a Satz 2 AVG iVm Art 6 § 8 Abs 2 des Rentenreformgesetzes (RRG) seit dem 19. Oktober 1972 nicht mehr, wenn das Altersruhegeld - wie hier durch den Rentenbescheid vom 6. Juli 1972 - bindend festgestellt worden sei. §§ 10 Abs 2a Satz 2 AVG gelte für jede Art von freiwilliger Versicherung, wie sie beispielsweise auch die hier begehrte Nachentrichtung darstelle. Um eine freiwillige Versicherung handele es sich letztlich auch bei den in § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG ausdrücklich erwähnten Vorschriften des § 141 Abs 1 und 2 AVG. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seiner Entscheidung vom 25. Juni 1971 (BSGE 33, 41, 44, 45) lediglich aus dem Fehlen einer speziellen Regelung gefolgert, daß § 141 AVG für die Frage, wann eine dem Grunde nach vorhandene Versicherungsberechtigung nicht mehr ausgeübt werden dürfe, allein maßgeblich sei. Diese gesetzliche Lücke sei nunmehr jedoch durch § 10 Abs 2a Satz 2 AVG geschlossen, so daß die vom BSG in der genannten Entscheidung entwickelten Grundsätze für die Zeit vom Inkrafttreten der Verbotsvorschrift (19. Oktober 1972) an keine Anwendung mehr finden könnten. Schließlich könne der Kläger ein Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen auch nicht aus einer Pflichtverletzung der Beklagten ihm gegenüber herleiten (Urteil vom 22. November 1974).
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt Verletzungen des materiellen Rechts sowie einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör durch das Berufungsgericht.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 26. Juni 1974 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet. Entgegen der Auffassung des LSG ist der Kläger berechtigt, gemäß § 10 Abs 1 WGSVG Beiträge nachzuentrichten.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger zu den gemäß 9 WGSVG zur Weiterversicherung berechtigten Personen gehört, die gemäß § 10 Abs 1 Satz 1 WGSVG grundsätzlich auf Antrag abweichend von der Regelung des § 140 AVG für Zeiten vor Inkrafttreten des WGSVG (1. Februar 1971) und vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1933, längstens jedoch bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres zurück Beiträge nachentrichten können, soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeiten anzurechnen sind. Zu Unrecht hat das LSG indes der Vorschrift des § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG entnommen, daß diese erweiterte Nachversicherungsberechtigung im Hinblick auf das dem Kläger mit Bescheid vom 6. Juli 1972 bewilligte Altersruhegeld beseitigt sein soll. Nach § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG steht der Eintritt des Versicherungsfalls bis zum 31. Januar 1972 (= "vor Ablauf der ersten zwölf Monate nach Inkrafttreten dieses Gesetzes") der Beitragsnachentrichtung nach Satz 1 der Vorschrift nicht entgegen, und im übrigen gilt § 141 Abs 1 und 2 AVG entsprechend. Wie der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 6. Februar 1975 - 1 RA 161/74 - zu der Stichtagsregelung in § 8 Abs 1 Satz 2 WGSVG entschieden hat, kann diese Regelung nur so verstanden werden, daß bei Versicherungsfällen vor dem 1. Februar 1972 die Beiträge anders als nach § 141 Abs 1 AVG auch nach Eintritt der Berufsunfähigkeit, der Erwerbsunfähigkeit oder des Todes für Zeiten vorher nachentrichtet werden dürfen, während bei den danach eingetretenen Versicherungsfällen die sich aus der allgemeinen Regelung des § 141 Abs 1 und 2 AVG ergebende Einschränkung der zulässigen Nachentrichtung von Beiträgen entsprechend gelten soll. Im Regierungsentwurf (BT-Drucks VI/175 S 10) heißt es zu § 8 Abs 1 Satz 2, der wie § 10 Abs 1 Satz 2 ungeändert Gesetz geworden ist, der letzte Halbsatz der Vorschrift stelle klar, daß hinsichtlich der Zulässigkeit der Nachentrichtung von Beiträgen bei Eintritt des Versicherungsfalls nach dem im ersten Halbsatz der Vorschrift genannten Stichtag dieselben Regeln gelten wie bei der Beitragsentrichtung nach den allgemeinen Vorschriften. Auch ohne eine derartige Klarstellung hat das BSG im Urteil vom 20. September 1973 (SozR Nr 16 zu Art 2 § 52 ArVNG) die Bedeutung der - insoweit inhaltsgleichen - Bestimmung eines Endtermins für den Eintritt des Versicherungsfalls bei der erweiterten Beitragsnachentrichtung gemäß Art 2 § 50 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes im gleichen Sinne ausgelegt. Aus dem letzten Halbsatz des § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG folgt daher lediglich, daß die Nachentrichtungsmöglichkeit bei nach dem 31. Januar 1972 eingetretenen Versicherungsfällen entsprechend der in § 141 Abs 1 AVG getroffenen Regelung eingeschränkt, nicht aber, daß sie bei diesen Versicherungsfällen ganz ausgeschlossen sein soll. Anderenfalls wäre der letzte Halbsatz der Vorschrift nicht sinnvoll und schlechthin überflüssig.
Zu § 141 Abs 1 AVG hat der erkennende Senat aber bereits mit Urteil vom 25. Juni 1971 (BSGE 33, 41) entschieden, daß diese Vorschrift die wirksame Nachentrichtung von Beiträgen nach § 140 Abs 1 AVG durch Bezieher von Altersruhegeld selbst dann nicht hindert, wenn der das Altersruhegeld bewilligende Bescheid bindend geworden ist. Da der Versicherungsfall wegen Vollendung des 65. Lebensjahres beim Kläger nach dem 31. Januar 1972 eingetreten und deswegen gemäß § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG die entsprechende Anwendung des § 141 Abs 1 AVG geboten ist, muß Gleiches auch hier gelten (ebenso ausdrücklich Verbandskommentar zur Reichsversicherungsordnung - RVO -, 13. Ergänzung 1. Juli 1973, Anm 50 zu §§ 8, 10 WGSVG bei § 1418 RVO/§ 140 AVG). Insoweit hat der Senat bereits in dem eine Beitragsnachentrichtung nach § 8 Abs 1 WGSVG betreffenden Urteil vom 6. Februar 1975 (BSGE 39, 126 = SozR 5070 § 8 Nr 1) die in der genannten Entscheidung vom 25. Juni 1971 vertretene Rechtsauffassung bestätigt und betont, daß sich aus dem Eintritt der Bindungswirkung eines ein Altersruhegeld bewilligenden Bescheides keine entscheidenden Schlüsse ziehen lassen.
Der Berechtigung des Klägers zur Beitragsnachentrichtung gemäß § 10 Abs 1 WGSVG steht auch nicht - wie das LSG meint - § 10 Abs 2a AVG idF des RRG entgegen. Danach ist zwar die Entrichtung freiwilliger Beiträge im Sinne des § 10 Abs 1 AVG nach der bindenden Bewilligung eines Altersruhegeldes auch für Zeiten vor dem Rentenbeginn ausgeschlossen. Diese Regelung gilt indes erst für Versicherungsfälle, die seit dem Inkrafttreten des RRG am 19. Oktober 1972 (Art 6 § 8 Abs 2 des Gesetzes) eingetreten sind (so ausdrücklich BSG in SozR Nr 16 zu Art 2 § 52 ArVNG; vgl auch BSG in SozR Nr 68 zu § 1251 RVO). Beim Kläger ist der Versicherungsfall des Alters aber bereits vorher (10. April 1972) eingetreten.
Bei diesem Sachverhalt kann offenbleiben, ob die - sich lediglich auf die durch das RRG neu gestaltete freiwillige Versicherung beziehende - Regelung des § 10 Abs 2a AVG überhaupt auf die Nachentrichtung nach § 10 Abs 1 WGSVG erstreckt werden könnte oder ob es hierfür der ausdrücklichen Anordnung der entsprechenden Anwendung des § 10 Abs 2a AVG bedürfte. Nach Inkrafttreten des RRG ist jedenfalls eine dahingehende Ergänzung des WGSVG - auch unter Berücksichtigung der Änderung dieses Gesetzes durch § 19 des Achtzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 28. April 1975 (BGBl I 1018) - bisher unterblieben.
Da somit die Berechtigung des Klägers zur Beitragsnachentrichtung gemäß § 10 Abs 1 WGSVG durch das Inkrafttreten des § 10 Abs 2a AVG idF des RRG am 19. Oktober 1972 nicht beseitigt worden ist, kann es nicht mehr darauf ankommen, ob die Beklagte vor diesem Zeitpunkt - unter Beachtung der grundsätzlichen Ausführungen des BSG in der Entscheidung vom 14. Juni 1962 (SozR Nr 3 zu § 1233 RVO) - anläßlich des Rentenfeststellungsverfahrens den Kläger auf die zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten durch die neue Nachversicherungsberechtigung nach dem WGSVG hätte hinweisen müssen oder ob sie sich auf den bloßen Vermerk im Rentenbescheid vom 6. Juli 1972 über die "Berücksichtigung" des WGSVG beschränken durfte.
Da die Revision wegen der aufgezeigten unrichtigen Anwendung des materiellen Rechts durch das LSG begründet ist und bereits deswegen das angefochtene Urteil aufzuheben sowie die Berufung der Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückzuweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), braucht der von der Revision außerdem noch gerügte Verfahrensmangel (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör) nicht mehr geprüft zu werden.
Fundstellen