Leitsatz (amtlich)

Beiträge können nach WGSVG § 8 Abs 1 S 1 auch dann nachentrichtet werden, wenn der Altersversicherungsfall erst am oder nach dem Stichtag des WGSVG § 8 Abs 1 S 2 (1967-01-01) eingetreten ist und der Altersruhegeldbescheid bereits bindend geworden ist. Dies gilt jedenfalls für Altersversicherungsfälle, die noch vor dem Inkrafttreten des AVG § 10 Abs 2a idF des RRG vom 1972-10-16 (1972-10-19) eingetreten sind (Ergänzung zu BSG 1975-10-01 1 RA 203/74).

 

Normenkette

WGSVG § 8 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1970-12-22; AVG § 10 Abs. 2a Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs. 2a Fassung: 1972-10-16; WGSVG § 8 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-22

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. Februar 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die am 18. Dezember 1904 in B. geborene Klägerin ist Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Im Juni 1933 war sie wegen rassischer Verfolgung nach Brasilien ausgewandert. Von ihren für die Zeit vom 1. Juni 1922 bis 31. August 1933 entrichteten Pflichtbeiträgen zur deutschen Angestelltenversicherung (AnV) hatte sie sich Ende 1934 ihre Arbeitnehmeranteile wegen Heirat erstatten lassen.

Aufgrund des Art X des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965 (BGBl I 1315) entrichtete sie im November 1967 einen Beitrag der höchsten zulässigen Klasse H im Betrage von 105,-- DM für Mai 1933 und begründete damit die sogen Vorversicherung für die Anrechnung von Ersatzzeiten, § 28 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Durch Bescheid vom 22. Oktober 1969 bewilligte ihr die Beklagte Altersruhegeld vom 1. Januar 1970 an in Höhe von ursprünglich 370,90 DM monatlich. Dabei berücksichtigte sie einen freiwilligen Beitrag für Mai 1933 und 199 Monate Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 4 AVG für Juni 1933 bis Dezember 1949. Die Ersatzzeit wurde bei bei der Rentenberechnung entsprechend dem Wert des geleisteten freiwilligen Beitrages der Klasse H für 1957 bewertet (Art X Abs 2 Buchst b BEG-Schlußgesetz).

Aufgrund des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVÄndG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) gestattete ihr die Beklagte die im Mai 1972 beantragte Nachentrichtung von Beiträgen lediglich nach § 10 WGSVG und nur für die Zeit vom 1. Januar 1933 bis 30. April 1933 und vom 1. Januar 1950 bis 31. Dezember 1969 (Bescheid vom 14. Juli 1972, Widerspruchsbescheid vom 15./22. September 1972). Eine Nachentrichtung nach § 8 WGSVG lehnte sie grundsätzlich ab (Bescheid vom 27. Dezember 1972, Widerspruchsbescheid vom 5. April 1973). Nach zunächst erfolglosem Klageverfahren verurteilte das Landessozialgericht (LSG) Berlin die Beklagte in Abänderung des sozialgerichtlichen Urteils vom 14. Februar 1974 und unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Dezember 1972 und des Widerspruchsbescheides vom 5. April 1973, die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 8 WSGVG zuzulassen. Es war der Auffassung, es gehe in der Berufungsinstanz nur noch um die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 7, 8 WGSVG. Dies ergebe sich aus dem in der Berufungsinstanz gestellten Antrage der Klägerin,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Februar 1974 abzuändern, den Bescheid vom 27. Dezember 1972 sowie den Widerspruchsbescheid vom 5. April 1973 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Nachentrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Zeit vom 1. Januar 1928 bis zum 31. Dezember 1932 zuzulassen.

Dieses Begehren sei nach den angeführten Vorschriften berechtigt. Daß der Klägerin bereits ein Altersruhegeld bewilligt worden sei, stehe dem nicht entgegen. In § 8 Abs 1 Satz 2 WGSVG sei § 141 Abs 1 und 2 AVG für entsprechend anwendbar erklärt worden. Hier sei aber ein grundsätzliches Nachentrichtungsverbot nach Eintritt des Versicherungsfalles des Alters nicht vorgesehen. Auch § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) stehe einer Nachentrichtung nicht entgegen. Der Auffassung der Beklagten, daß nach bindender Bewilligung des Altersruhegeldes keine Nachentrichtung mehr möglich sei, könne nicht gefolgt werden.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrage,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 8 WGSVG und der §§ 140, 141 AVG.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

da dem angefochtenen Urteil zuzustimmen sei.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Klägerin erfüllt aufgrund ihrer Anerkennung als Verfolgte und wegen ihrer früheren Beitragserstattung wegen Heirat die Voraussetzungen für eine Weiterversicherung nach § 7 WGSVG. Damit kann sie nach § 8 Abs 1 Satz 1 WSGVG auf Antrag abweichend von der Regelung des § 140 AVG Beiträge für Zeiten vor Vollendung des 65. Lebensjahres und nach Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück nachentrichten, soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeiten anzurechnen sind. Dazu bestimmt § 8 Abs 1 Satz 2, "der Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 1. Januar 1967 steht der Nachentrichtung von Beiträgen nicht entgegen; im übrigen gelten ... und § 141 Abs 1 und 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes entsprechend".

Eine entsprechende Regelung findet sich in § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG für Verfolgte, die zur Weiterversicherung nach § 9 befugt sind und nach § 10 Abs 1 Satz 1 WGSVG Beiträge bis zum 1. Januar 1933 zurück nachentrichten können. Dort ist als Stichtag der 1. Februar 1972 vorgesehen (Ablauf der ersten zwölf Monate nach Inkrafttreten des WGSVG, 1. Februar 1971).

Hierzu hat der Senat in seinem Urteil 1 RA 203/74 vom 1. Oktober 1975, auf das im einzelnen Bezug genommen wird, ausgeführt, Beiträge können nach § 10 Abs 1 Satz 1 WGSVG auch dann nachentrichtet werden, wenn der Versicherungsfall des Alters erst am oder nach dem Stichtag des § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG (1. Februar 1972) eingetreten und der Altersruhegeldbescheid bereits bindend geworden ist. Dies gilt jedenfalls für alle Altersversicherungsfälle, die noch vor dem Inkrafttreten des § 10 Abs 2a AVG idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965), dh vor dem 19. Oktober 1972 eingetreten sind. § 10 Abs 1 Satz 2 WGSVG kann nur so verstanden werden, daß bei Versicherungsfällen vor dem 1. Februar 1972 die Beiträge anders als nach § 141 Abs 1 AVG auch nach Eintritt des Versicherungsfalles für Zeiten vorher nachentrichtet werden können und zu einer entsprechenden Erhöhung der bereits laufenden Rente führen, während bei späteren Versicherungsfällen lediglich die sich aus § 141 Abs 1 AVG ergebenden Einschränkungen gelten sollen. In § 141 Abs 1 AVG ist aber der Altersversicherungsfall nicht erwähnt, wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat. Daraus folgt, daß sein späterer Eintritt eine Nachentrichtung nicht ausschließt, wie im einzelnen aaO ausgeführt ist.

Diese Grundsätze müssen für § 8 Abs 1 Satz 2 WGSVG entsprechend gelten. Es ist kein Grund ersichtlich, beide Fälle unterschiedlich zu behandeln. Die Klägerin hatte ihr 65. Lebensjahr im Dezember 1969 vollendet. Dementsprechend hat sie seit dem 1. Januar 1970 Altersruhegeld erhalten. Auf die Frage, ob sich die Rechtslage vom 19. Oktober 1972 an etwa infolge des Inkrafttretens des § 10 Abs 2a AVG idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 geändert hat, kommt es somit auch hier nicht an.

Somit muß die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden.

 

Fundstellen

BSGE, 258

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge