Orientierungssatz
Fortgeltung des NVG § 4 Abs 4 bei früheren Versicherungsfällen auch für Rentenbezugszeiten ab 1971-02-01.
Normenkette
NVG § 4 Abs. 4 Fassung: 1949-08-22; WGSVGÄndG Art. 4 § 1 Fassung: 1970-12-22, § 5 Fassung: 1970-12-22; WGSVG § 13 Abs. 2 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 01.11.1974; Aktenzeichen L 1 An 176/73) |
SG Berlin (Entscheidung vom 01.02.1973; Aktenzeichen S 1 An 2404/71) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 1. November 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Für den im Jahre 1904 in Gleiwitz geborenen Kläger waren von 1925 bis 31. März 1937 Pflichtbeiträge zur Deutschen Angestelltenversicherung (AnV) entrichtet worden, und zwar seit November 1932 fortlaufend in der Klasse E. Er verließ im April 1937 wegen rassischer Verfolgung Deutschland und wanderte nach Brasilien aus. Durch Bescheid vom 27. Oktober 1969 gewährte die Beklagte ihm Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres vom 1. Februar 1969 an. Der Rentenberechnung legte sie 140 Monate Beitragszeit, eine Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes von 153 Monaten für die Zeit vom 1. April 1937 bis 31. Dezember 1949 und 24 Monate Ausfallzeit zugrunde. Die Ersatzzeit wurde entsprechend der Klasse E bzw den Durchschnittsentgelten dieser Beitragsklasse (4.200,-- RM/DM jährlich) bewertet.
Im November 1969 entrichtete der Kläger 8 freiwillige Beiträge der Klasse 100 für die Zeit vom 1. Januar bis 31. August 1967 unter Berufung auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 18, 212. Ferner erklärte er sich nach Erlaß des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVÄndG) vom 22.Dezember 1970 (BGBl I 1846) mit Schreiben vom 22. Januar 1971 und 12. März 1971 zur Nachentrichtung von weiteren Beiträgen nach diesen Gesetzen bereit. Außerdem wünschte er nunmehr eine Verrechnung der 8 freiwilligen Beiträge für Zeiten ab 1950.
Durch Schreiben vom 2. April 1971 teilte die Beklagte dem Kläger mit, er sei zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG für den Zeitraum vom 1. Januar 1950 bis 31. Januar 1971 berechtigt, jedoch sei eine Umbuchung der am 2. Dezember 1969 eingegangenen Beiträge für Zeiten ab 1950 nicht möglich.
Durch Bescheid vom 8. Juli 1971 berechnete die Beklagte die Rente des Klägers für die Zeit vom 1. Februar 1969 an aufgrund der im November 1969 nachentrichteten Beiträge und für die Zeit vom 1. Februar 1971 an aufgrund des WGSVG neu. Für die Bezugszeiten bis zum 31. Januar 1971 bewertete sie die Verfolgungszeiten nach § 4 Abs 4 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) vom 22. August 1949 (Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes S 263), wobei sie wiederum, wie im Bescheid vom 27. Oktober 1969, von der Beitragsklasse E ausging. Die Rente erhöhte sich dadurch von bisher 650,30 DM auf 669,60 DM monatlich.
Für Bezugszeiten vom 1. Februar 1971 an (Art 4 § 2 WGSVÄndG) führte sie eine Vergleichsberechnung nach § 13 Abs 1 WGSVG durch. Hierbei stufte sie den Kläger in die Leistungsgruppe (LG) B 3 der Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) ein. Dabei ergab sich kein höherer Zahlbetrag. Deshalb wurde die bisherige Rente unter Berücksichtigung der jeweiligen jährlichen Rentenanpassungen weitergezahlt.
Hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin. Er begehrte ein höheres Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Februar 1971 an unter Zugrundelegung der LG 2 hinsichtlich der Bewertung der Zeiten seines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes. Außerdem entrichtete er nunmehr nach § 10 WGSVG 6 Beiträge für Januar bis März 1950 die Monate Januar 1951, 1952 und 1953.
Mit Rücksicht hierauf berechnete die Beklagte durch Bescheid vom 28. Januar 1972 die Rente vom 1. April 1971 an neu (Art 4 § 2 Abs 2 WGSVÄndG). Für die Bewertung der Ersatzzeiten stufte sie den Kläger wiederum unter Berufung auf § 13 Abs 1 WGSVG in die LG 3 ein. Damit mußte sie nach der Anlage 8 zu § 22 FRG für die Zeit vom 1. April 1937 bis 31. Dezember 1938 statt der bisherigen Beitragsklasse E die niedrigere Beitragsklasse D zugrunde legen. Außerdem ergab sich nunmehr eine persönliche Rentenberechnungsgrundlage von 189,89 Prozent statt bisher 199,16 Prozent. Gleichwohl erhöhte sich die Rente von monatlich 706,40 DM auf monatlich 747,-- DM vom 1. April 1971 an, weil die anrechnungsfähige Versicherungszeit länger geworden war.
Am 1. Februar 1973 erließ das SG folgendes Urteil:
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger auch für Bezugszeiten ab 1. Februar 1971 Altersruhegeld nach Maßgabe der im Bescheid vom 8. Juli 1971 enthaltenen Berechnungselemente zu gewähren.
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 28. Januar 1972 verurteilt, dem Kläger unter Beibehaltung der dem Bescheid vom 8. Juli 1971 zugrundeliegenden Berechnungselemente für Bezugszeiten ab 1. Februar 1971 die Nachentrichtung von Beiträgen zu gestatten.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Hiergegen legte die Beklagte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin erließ am 1. November 1974 folgendes Urteil:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Februar 1973 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Tenor des Urteils mit Ausnahme seiner Kostenentscheidung und seines Ausspruchs zur Abweisung der Klage wie folgt neu gefaßt wird:
Der Bescheid vom 28. Januar 1972 wird geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. Februar 1971 an ein höheres Altersruhegeld unter Berücksichtigung der nach dem WGSVG nachentrichteten - hinsichtlich der Höhe, Klasse und zeitlichen Zuordnung noch zu bestimmenden - Beiträge mit der Maßgabe zu gewähren, daß der Ersatzzeit vom 1. April 1937 bis zum 31. Dezember 1949 Werteinheiten zugeordnet werden, die der Beitragsklasse E (bis zum 30. Juli 1942) bzw einem Jahresarbeitseinkommen von 4.200,-- RM/DM entsprechen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die im zweiten Rechtszuge entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Zur Begründung führte das LSG aus, da der Kläger gegen das erstinstanzliche Urteil keine Berufung eingelegt habe, sei auf die Berufung der Beklagten Gegenstand des Berufungsverfahrens gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) lediglich der Bescheid vom 28. Januar 1972. Nur diesen Bescheid habe das SG abgeändert, nicht auch den Bescheid vom 8. Juli 1971, den der Kläger ursprünglich mit der Klage angefochten habe. Dies ergebe sich nicht nur aus dem Tenor des Urteils vom 1. Februar 1973, sondern auch aus den Entscheidungsgründen, wo es ausdrücklich heiße, der Bescheid vom 8. Juli 1971 stelle sich als rechtmäßig dar. Die Klage vor dem SG sei im übrigen nur auf Leistung eines höheren Altersruhegeldes gerichtet gewesen und nicht auf die Gestattung einer Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG. Dies gehe aus dem Antrag des Klägers in seinem Schriftsatz vom 17. August 1972 hervor. Hierüber hätte das SG nicht hinausgehen dürfen. Hinsichtlich der Beitragsnachentrichtung handele es sich um Vorbehalte und Überlegungen des Klägers zur Zahl und der Klasse der Beiträge sowie deren zeitliche Zuordnung, die er nicht zum Gegenstand des Verfahrens habe machen wollen. Hierdurch sei die vorgenommene Neufassung des Tenors des erstinstanzlichen Urteils bedingt.
In der Sache ist das LSG der Auffassung, bei vor dem 1. Februar 1971 eingetretenen Versicherungsfällen sei aufgrund der Übergangsregelungen des WGSVÄndG weiterhin l§ 4 Abs 4 NVG anwendbar. Es sei nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber durch das WGSVG für alte Versicherungsfälle die Vergünstigung des § 4 Abs 4 NVG habe beseitigen und gleichzeitig das Eingreifen des § 13 Abs 2 WGSVG habe verhindern wollen. Wenn die Beklagte sich darauf berufe, daß es sich für die Zeit vom Inkrafttreten des WGSVG an um eine "Neufeststellung" handele, bedenke sie nicht genügend, daß die Neuberechnung aufgrund einer Beitragsnachentrichtung für eine bereits gewährte Rente und nicht aufgrund eines neuen Versicherungsfalles erforderlich geworden sei.
Schließlich habe das SG die Beklagte zu Recht verurteilt, die höhere Rente bereits vom 1. Februar 1971 an zu gewähren und nicht erst vom 1. April 1971 an. In At 4 § 2 Abs 2 WGSVÄndG heiße es zwar, daß die höhere Rente in den Fällen der Nachentrichtung frühestens vom Ersten des Monats an zu gewähren sei, der auf die Beitragsnachentrichtung folge. Es erscheine jedoch sinnvoller, den Eingang des Antrages auf Nachentrichtung als Bereiterklärung im Sinne des § 142 Abs 1 Nr 2 AVG anzusehen und maßgebend sein zu lassen (so auch Knöbber/Schöning, Die Angestelltenversicherung 1971, 114, 116). Dieser Auffassung des SG sei die Beklagte im übrigen auch nicht ausdrücklich mit der Berufung entgegengetreten. Da die Bereiterklärung zur Nachentrichtung im Schreiben vom 22. Januar 1971 am 25. Januar 1971 bei der Beklagten eingegangen sei, müsse die höhere Rente ab 1. Februar 1971 gezahlt werden.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Berlin vom 1. Februar 1973 die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 4 Abs 3 NVG; dieser sei nicht mehr geltendes Recht.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
da der rechtlichen Bedeutung des LSG in vollem Umfang zu folgen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Da der Kläger selbst kein Rechtsmittel eingelegt hat und sich auch im übrigen nicht gegen die im von der Beklagten angefochtenen Urteil angeordnete Berechnungsweise wendet, ist der Senat zunächst an die Auffassung des LSG gebunden, daß es aufgrund des historischen Verfahrensablaufs jetzt noch ausschließlich um den Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 1972 geht. Er hat die Rente des Klägers aufgrund der von ihm nach Klageerhebung gemäß § 10 WGSVG in zulässiger Weise nachentrichteten Beiträge neu berechnet. Hierbei ist neben dem Beginn der danach erhöhten Rente (1. April oder 1. Februar 1971) vor allem die Bewertung der Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 4 AVG vom 1. April 1937 bis 31. Dezember 1949 zweifelhaft.
Hinsichtlich dieses zweiten Streitpunktes ist der Auffassung des LSG über die Fortgeltung des § 4 Abs 4 NVG in vollem Umfang zu folgen, wie der Senat im einzelnen in seinen Urteilen 1 RA 21/75 und 1 RA 5/75 vom 1. Oktober 1975 ausgeführt hat. Er ließ die Berechnung der früheren Steigerungsbeiträge nach einem höheren Arbeitsverdienst als dem zuletzt erzielten zu, wenn der Versicherte glaubhaft machte, daß er sonst während der Ersatzzeit einen höheren Verdienst gehabt hätte. Diese Vorschrift ist sinngemäß für vor dem 1. Februar 1971 eingetretene Versicherungsfälle weiterhin anzuwenden, soweit dies für den Rentenberechtigten günstiger ist als die Berechnung nach den allgemeinen Vorschriften, und zwar auch für Rentenbezugszeiten seit dem 1. Februar 1971. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck des WGSVG, die Entschädigung der Verfolgten in der Sozialversicherung zu verbessern und der Entstehungsgeschichte der Übergangsregelungen in Art 4 WGSVÄndG, wie der Senat im einzelnen aaO ausgeführt hat.
Da § 13 Abs 2 WGSVG, der inhaltlich dem § 4 Abs 4 NVG entspricht und an dessen Stelle getreten ist, nur für Versicherungsfälle gilt, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes eintreten (Art 4 § 1 WGSVÄndG), müßte die von der Beklagten vertretene gegenteilige Rechtsauffassung für Rentenbezugszeiten vom 1. Februar 1971 an zu einer - vom Eintritt des Versicherungsfalles abhängigen - unterschiedlichen Behandlung der rentenberechtigten Verfolgten führen. Danach könnten die Versicherten, die bereits vor dem 1. Februar 1971 Rentenbezieher waren, sich ihre gemäß der bisherigen Rechtsprechung des BSG durch die Anwendung des § 4 Abs 4 NVG erhöhte Rente (vgl BSG 27, 49 und 58) nur durch einen Verzicht auf die durch das WGSVG beabsichtigte Besserstellung der Verfolgten erhalten. Eine solche Benachteiligung eines Teils der versicherten Verfolgten wäre mit dem Sinn und Zweck des WGSVG, nämlich die Entschädigung der Verfolgten in der Sozialversicherung zu verbessern, nicht zu vereinbaren. Sie würde auch dem erklärten Willen des Gesetzgebers widersprechen, wie sich aus den Materialien zum WGSVÄndG ergibt. Danach kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber bei der Anwendung des WGSVG die versicherungsrechtliche Bewertung von Verfolgungszeiten für alte und neue Versicherungsfälle unterschiedlich regeln wollte, wofür auch keine sachlich gerechtfertigten Gründe angeführt werden könnten.
Die Rente des Klägers war vor allem deshalb neu zu berechnen, weil er von der Nachentrichtungsmöglichkeit des § 10 Abs 1 WGSVG Gebrauch gemacht hatte. Deshalb mußte seine Rente aufgrund des nunmehr veränderten Beitragsbildes neu berechnet werden. Dabei mußte aber aus den zuvor genannten Gründen die Ersatzzeit weiterhin nach § 4 Abs 4 NVG bewertet werden, da der Senat im übrigen gemäß § 163 SGG an die Feststellungen des LSG über den mutmaßlichen Arbeitsverdienst des Klägers während der Verfolgungszeit sowie daran gebunden ist, daß dies das für ihn günstigste Ergebnis liefert.
Sodann geht es um den Beginn der Rente (1. Februar 1971 oder 1. April 1971). Hier ist der Senat gemäß § 163 SGG an die vom LSG getroffene Feststellung gebunden, daß der Kläger bereits im Januar 1971 sich zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG bereit erklärt hat und daß diese in der Folgezeit innerhalb einer angemessenen Frist geleistet worden sind. Damit ist die Beklagte auch zutreffend zur Zahlung eines höheren Altersruhegeldes vom 1. Februar 1971 an verurteilt worden. Dies folgt aus der hier gebotenen entsprechenden Anwendung des § 142 Abs 1 Nr 2 AVG, wonach die Bereiterklärung zur Nachentrichtung unter den dort normierten Voraussetzungen der Entrichtung der Beiträge gleichsteht (vgl dazu BSG 33, 41, 46 am Ende und Knöbber/Schönig, Wiedergutmachung im Rentenrecht, Die Angestelltenversicherung 1971, 114, 116 unter C).
Somit erweist sich die Revision der Beklagten in vollem Umfang als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen