Leitsatz (amtlich)
Bei "Personen iS des HHG § 1", die bereits vor dem 1955-08-10 ihren ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des HHG genommen haben, sind Zeiten des Gewahrsams als Ersatzzeiten iS von HKG § 1251 Abs 1 Nr 5 RVO auch dann zu berücksichtigen, wenn diese Personen nicht Heimkehrer iS von HKG § 1 Abs 4 sind; durch HHG §9 Abs 3 wird die Zugehörigkeit zum Kreis der "Personen iS von HHG § 1" nicht berührt.
Normenkette
HHG § 1; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1957-02-23; HHG § 9 Abs. 3; HkG § 1 Abs. 4
Tenor
Die Revision der Beigeladenen gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. November 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, geboren am 19. November 1895, war nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft am 28. Juni 1945 vom 1. Juli 1945 bis zum 2. August 1948 im Konzentrationslager B in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) interniert. Mit Bescheid vom 13. Dezember 1961 bewilligte ihm die Beklagte vom 1. Oktober 1960 an Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Bei der Berechnung der Rente berücksichtigte sie ua als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Zeit vom 29. Juni 1945 bis 31. Dezember 1946 (Vertreibungszeit). Der Kläger erhob Klage und beantragte, weitere Beitragszeiten zur Invalidenversicherung und ferner als Ersatzzeit auch die weitere Zeit seiner Internierung im Konzentrationslager Buchenwald vom 1. Januar 1947 bis 2. August 1948 zu berücksichtigen. Das Sozialgericht (SG) Frankfurt lud die Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen zum Verfahren bei, da der Kläger vor und nach der streitigen Zeit Beiträge zu diesem Versicherungsträger entrichtet hatte. Am 28. November 1962 verurteilte es die Beklagte, auch die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 2. August 1948 als Ersatzzeit zu berücksichtigen, im übrigen wies es die Klage ab. Die Berufung der Beigeladenen, der sich die Beklagte angeschlossen hatte, wies das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. November 1963 zurück: Der Kläger erfülle sämtliche Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO; er gehöre zu dem Personenkreis des § 1 des Häftlingshilfegesetzes (HHG); aus § 9 Abs. 3 HHG in der Fassung vom 25. Juli 1960 ergebe sich nicht, daß § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO nur für solche Versicherten gelte, die frühestens am 10. August 1955 ihren Aufenthalt im Bundesgebiet oder im Lande Berlin genommen haben, § 9 Abs. 3 HHG sei lediglich eine Ergänzung zu § 1 Abs. 4 des Heimkehrergesetzes (HkG), sie sei notwendig geworden, weil der Personenkreis der in der SBZ interniert gewesenen Versicherten bis zum Inkrafttreten des HHG am 10. August 1955 über § 1 Abs. 4 HkG erfaßt worden, § 1 Abs. 4 HkG nicht außer Kraft getreten und dem HHG keine rückwirkende Kraft beigelegt worden sei. Der durch § 1 HHG abgegrenzte Personenkreis sei nicht durch § 9 Abs. 3 HHG ausgedehnt oder eingeschränkt worden; § 9 HHG sei für die Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO ohne Bedeutung. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Beigeladenen am 28. Januar 1964 zugestellt.
Am 8. Februar 1964 legte die Beigeladene Revision ein, sie beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verwies sie lediglich darauf, daß die Auffassung des LSG, die auch der Verwaltungsübung der Beklagten entspreche, sich nicht mit der Auffassung decke, die in mehreren Kommentaren zu § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO vertreten werde. Die Beklagte stellte keinen Antrag.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten, er erklärte sich - ebenso wie die Beklagte und die Beigeladene - mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.
II
Die Revision der Beigeladenen ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 75 Abs. 4 SGG; vgl. auch Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 4. Dezember 1957, BSG 6, 160, 161). Sie ist jedoch nicht begründet. Die Beklagte hat es in dem angefochtenen Bescheid vom 13. Dezember 1961 zu Unrecht abgelehnt, die Zeit des Gewahrsams des Klägers vom 1. Januar 1947 bis 2. August 1948 als Ersatzzeit im Sinne von § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO zu berücksichtigen.
Da es sich um einen Versicherungsfall handelt, der im Jahre 1960, also nach dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I 45) eingetreten ist, ist die Ersatzzeitenregelung in der ab 1. Januar 1957 geltenden Fassung der RVO maßgebend. Nach den §§ 1250 Abs. 1 Buchstabe b, 1251 Abs. 1 RVO gelten als anrechnungsfähige Versicherungszeiten (Ersatzzeiten) ua nach § 1251 Abs. 1 Nr. 2 Zeiten der Internierung oder der Verschleppung, "wenn der Versicherte Heimkehrer im Sinne des § 1 HkG ist;" ferner nach § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO "Zeiten des Gewahrsams bei Personen im Sinne des § 1 des Häftlingshilfegesetzes". Der Versicherte ist nicht Heimkehrer im Sinne des § 1 HkG. Nach § 1 Abs. 4 HkG vom 19. Juni 1950 (BGBl 221) in der Fassung der späteren Änderungs- und Ergänzungsgesetze vom 30. Oktober 1951 und vom 17. August 1953 gelten Deutsche, die in der SBZ interniert gewesen sind, als Heimkehrer nur, wenn sie nach dem 30. November 1949 entlassen worden sind (§ 1 Abs. 4 Buchstabe a) und die weiteren Voraussetzungen (Buchstaben b bis d) dieser Vorschrift erfüllen; unter § 1 Abs. 4 HkG fällt der Kläger schon deshalb nicht, weil er schon im August 1948 aus dem Konzentrationslager B entlassen worden ist. Er erfüllt aber die Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum Personenkreis des § 1 Abs. 1 des "Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen in Gebieten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) in Gewahrsam genommen wurden (Häftlingshilfegesetz)" in der Fassung vom 6. August 1955 (BGBl I 498). Unter den Personenkreis des HHG fallen ua nach der damaligen Fassung des § 1 Abs. 1 "deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige, wenn sie (Nr. 1) nach dem 8. Mai 1945 in der sowjetisch besetzten Zone ... aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam genommen wurden ... und ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt am Tage des Inkrafttretens dieses Gesetzes in seinem Geltungsbereich haben". Durch das HHG ist für den in § 1 HHG umschriebenen Personenkreis von ehemaligen Sowjetzonenhäftlingen eine neue Regelung getroffen worden, weil sich gezeigt hat, daß die Regelung des HkG für die Personen, die durch die politische Entwicklung während der Nachkriegszeit in der SBZ und damit von Verurteilungen und Verhaftungen in der SBZ aus politischen Gründen betroffen sind, nicht ausreichend ist (vgl. die nähere Begründung in Bundestagsdrucksache 1450 vom 11. Juni 1955, Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953 S. 6 u. S. 7); der "Anwesenheitsstichtag" hat die Bedeutung, eine "Sogwirkung auf entlassene, aber noch in der SBZ befindliche ehemalige Häftlinge zu vermeiden"; später zuziehende ehemalige politische Häftlinge fallen unter das HHG nur ausnahmsweise (§ 1 Abs. 2 HHG). Da das HHG am 9. August 1955 verkündet worden und (vgl. § 16) am 10. August 1955 in Kraft getreten ist, ist in der (Ersten) Neufassung des HHG vom 13. März 1957 (BGBl I 168) und ebenso in der für den vorliegenden Fall maßgebenden Fassung vom 25. Juli 1960 (BGBl I 579) an die Stelle der Worte "am Tage des Inkrafttretens dieses Gesetzes" das Datum dieses Tages, nämlich der 10. August 1955 eingesetzt worden. Der Kläger erfüllt nach der Bescheinigung des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 29. April 1958 die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG; die damals geltende Fassung des Gesetzes (vom 13. März 1957) stimmt insoweit mit der jetzigen Fassung vom 25. Juli 1960 überein. Der Kläger hat auch "am" 10. August 1955 seinen Wohnsitz im Geltungsbereich des HHG gehabt. Er erfüllt damit die Voraussetzungen für die Berücksichtigung der Zeit des Gewahrsams im Konzentrationslager Buchenwald als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO - soweit diese Zeit nicht bereits als Vertreibungszeit (29. Juni 1945 bis 31. Dezember 1946) nach § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO berücksichtigt ist -, also für die Berücksichtigung der noch streitigen Zeit vom 1. Januar 1947 bis 2. August 1948.
Hieran ändert, wie das LSG zu Recht angenommen hat, § 9 Abs. 3 HHG nichts. Nach dieser Vorschrift - in der jetzt maßgebenden Fassung - findet § 1 Abs. 4 HkG "nur noch Anwendung auf Personen, die bereits vor dem 10. August 1955 - nämlich dem Tag des Inkrafttretens des HHG - ihren Aufenthalt in seinem Geltungsbereich genommen haben". Durch § 9 HHG wird nur der Geltungsbereich des HkG, soweit schon dieses Gesetz in § 1 Abs. 4 auch einen - eingeschränkten - Kreis von ehemaligen Sowjetzonenhäftlingen erfaßt hat, abgegrenzt gegenüber dem Geltungsbereich des HHG, das sich nach seinem § 1 Abs. 1 Nr. 1 auf einen gegenüber § 1 Abs. 4 HkG erweiterten Personenkreis bezieht, aber erst am 10. August 1955 in Kraft getreten ist; dies ergibt schon die Überschrift zu § 9 HHG: "Anwendung der Vorschriften des Heimkehrergesetzes". § 1 Abs. 4 HkG bleibt nach § 9 Abs. 3 HHG weiterhin in Kraft für Sowjetzonenhäftlinge, die schon bisher die strengeren Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt und vor dem 10. August 1955 ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des HkG genommen haben; für diese Personen gilt - sofern es sich um einen nach neuem Recht zu beurteilenden Versicherungsfall handelt - auch die Ersatzzeitenregelung in § 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO, die auf § 1 HkG verweist. § 9 Abs. 3 HHG besagt jedoch nicht, daß Personen, die zwar nicht die strengeren Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 HkG erfüllt haben, aber die erleichterten Voraussetzungen des § 1 HHG erfüllen und "am" 10. August 1955 ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des HHG gehabt haben, nur deshalb nicht vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an zu dem von diesem Gesetz erfaßten Personenkreis gehören, weil sie auch schon vor dem 10. August 1955 im Geltungsbereich des HHG gewohnt haben. Durch § 9 Abs. 3 HHG haben nicht Personen, die schon vor dem 10. August 1955 im Geltungsbereich des HHG gelebt haben, aus dem Personenkreis des HHG herausgenommen werden sollen. Die Eigenschaft des Klägers als Häftling im Sinne von § 1 HHG wird sonach von § 9 Abs. 3 HHG nicht berührt. Dieser Ansicht steht auch nicht Art. 2 § 10 Abs. 2 ArVNG entgegen, weil er sich nur auf die Wartezeitfiktion für diejenigen Sowjetzonenhäftlinge bezieht, die bereits vor dem Inkrafttreten des HHG "Heimkehrer" im Sinne von § 1 Abs. (3 und) 4 HkG gewesen sind. Das LSG hat auch zu Recht darauf hingewiesen, es seien keine Gründe dafür ersichtlich, daß ehemalige Sowjetzonenhäftlinge, die zwar nicht Heimkehrer im Sinne von § 1 Abs. 4 HkG gewesen sind, aber "am" 10. August 1955 die Voraussetzungen des § 1 HHG erfüllt haben, von der Ersatzzeitenregelung des § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO haben ausgeschlossen werden sollen.
Das LSG hat sonach zu Recht die Berufung der Beigeladenen zurückgewiesen, die Revision der Beigeladenen ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen