Leitsatz (redaktionell)
Geltung des AVG § 28 Abs 1 Nr 5:
Die Ersatzzeitenregelung in AVG § 28 gilt nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die seit dem Inkrafttreten des AnVNG eingetreten sind. Hiervon macht Abs 1 Nr 5 keine Ausnahme.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Oktober 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Rechtsstreit wird um die Gewährung von Hinterbliebenenrenten aus der Angestelltenversicherung geführt. Die Entscheidung hängt davon ab, ob Internierungszeiten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) für die Erfüllung der Wartezeit zu berücksichtigen sind.
Der Versicherte (Ehemann und Vater der Kläger) war vom 13. November 1945 bis 27. Juli 1948 aus politischen Gründen in Bautzen (SBZ) interniert. Im Februar 1949 kam er mit den Klägern nach Bayern; er starb im März 1950. Die Kläger beantragten die Hinterbliebenenrenten im April 1957. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Wartezeit mit den nachgewiesenen 30 Beitragsmonaten nicht erfüllt sei und die Zeit der Internierung des Versicherten nicht als Ersatzzeit angerechnet werden könne (Bescheid vom 23. August 1958). Klage und Berufung der Kläger waren erfolglos.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragten die Kläger, unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrenten zu verurteilen. Sie rügten die Verletzung von § 29 Nr. 5 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sowie der §§ 1 und 9 Häftlingshilfegesetz (HHG), §§ 1 Abs. 3 und 4, 24 Heimkehrergesetz (HkG).
Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig aber unbegründet. Das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Die von den Klägern im Jahre 1957 geltend gemachten Ansprüche auf die Hinterbliebenenrenten sind, obwohl der Versicherungsfall (Tod des Versicherten) bereits im März 1950 eingetreten ist, nach § 40 Abs. 2 AVG zu beurteilen (Art. 2 §§ 6, 17 Satz 1 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz - AnVNG -). Danach werden die Hinterbliebenenrenten gewährt, wenn für den Versicherten zur Zeit seines Todes eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist oder die Wartezeit nach § 29 AVG als erfüllt gilt. Weder die eine noch die andere Voraussetzung ist gegeben.
Da der Versicherte nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nur 30 Beitragsmonate zurückgelegt hat, wäre die Wartezeit mit Versicherungszeiten nur dann erfüllt, wenn die Internierungszeit als Ersatzzeit anzurechnen wäre. Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Nr. 5 AVG bezeichnet zwar als Ersatzzeiten die Zeiten des Gewahrsams bei Personen im Sinne von § 1 des HHG vom 6. August 1955 (BGBl. I S. 498 - spätere Fassungen vom 13. März 1957 - BGBl. I S. 168 - und vom 25. Juli 1960 - BGBl. I S. 579). Die Ersatzzeitenregelung im § 28 AVG gilt aber, wie das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt entschieden hat (BSG 9, 92; 10, 151), nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die seit dem Inkrafttreten des AnVNG (1. Januar 1957) eingetreten sind. Hiervon macht Nr. 5 in § 28 AVG keine Ausnahme.
Auch die unmittelbare Anwendung des HHG führt zu keinem für die Kläger günstigeren Ergebnis. Das Gesetz bringt für die hier zu entscheidende Frage keine eigene Regelung. Es verweist vielmehr insoweit auf die Vorschriften des HkG vom 19. Juni 1950 (BGBl. I S. 221 - i. d. F. des Ergänzungs- und Änderungsgesetzes hierzu vom 30. Oktober 1951 - BGBl. I S. 875 und vom 17. August 1953 - BGBl. I S. 931 - und des Gesetzes vom 23. Dezember 1956 - BGBl. I S. 1018, 1053), das in § 24 eine besondere Ersatzzeitenregelung enthält. Beide Gesetze - das HHG und das HkG - waren aber beim Tode des Versicherten im März 1950 noch nicht ergangen. Zur Zeit des Versicherungsfalles bestanden daher aus Anlaß der Internierung weder für den Versicherten noch für die Kläger irgendwelche Vergünstigungen bei der Erfüllung der Wartezeit. Die Gesetze enthalten insoweit auch keine Rückwirkungsanordnung. Da Hinterbliebenenrenten nach der ersten, in § 40 Abs. 2 AVG genannten Voraussetzung nur gewährt werden, wenn für den Verstorbenen zur Zeit seines Todes eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist, das damals geltende Recht aber keine Anrechnung der Internierungszeiten kannte, können sich die Kläger auf die 1. Alternative des § 40 Abs. 2 AVG nicht mit Erfolg berufen.
Im übrigen würde auch § 9 HHG im Falle der Anwendbarkeit dieses Gesetzes, wie das LSG mit Recht entschieden hat, den Klägern keine Vorteile bringen. Zwar erfüllte der Versicherte in seiner Person die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG. Die in § 9 Abs. 1 und 2 HHG für solche Berechtigte verfügte Anwendung des HkG (§ 24) gilt jedoch - was § 9 Abs. 3 bestätigt - nur für nach dem 9. August 1955 in seinen Geltungsbereich zuziehende ehemalige Häftlinge (vgl. amtliche Begründung in BTDr. 1450 vom 11. Juni 1955). Wie das LSG zutreffend dargelegt hat, ist schon aus dem Wortlaut von § 9 Abs. 2 - dem dort gebrauchten "... findet auch dann Anwendung" - zu folgern, daß Abs. 2 - der gegenüber Abs. 1 für die Anwendung von § 24 HkG einen Gewahrsam von weniger als 12 Monaten und eine Aufenthaltsnahme später als 6 Monate nach der Entlassung genügen läßt - nur im Zusammenhang mit dem vorausgehenden Abs. 1, der die Grundsatzregelung enthält, zu verstehen ist. Selbst wenn in ihm nicht nochmals auf Berechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG abgestellt wäre, könnte deshalb § 9 Abs. 2 HHG nicht selbständig und als von Abs. 1 losgelöste Bestimmung angewendet werden. Seine Anwendung setzt vielmehr voraus, daß im übrigen Abs. 1 erfüllt ist, also auch der Berechtigte erst nach dem 9. August 1955 seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des HHG genommen hat. Die unmittelbare Anwendung des § 24 HkG zugunsten der Kläger würde somit auch am Fehlen dieser Voraussetzung scheitern.
Die Wartezeit gilt aber auch nicht nach § 29 AVG als erfüllt. Die allein in Betracht kommende Vorschrift des § 29 Nr. 5 AVG (i. V. m. Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG) ist hier nicht anwendbar. Zunächst steht nicht fest, daß der Tod des Versicherten eine Folge der Internierung war. Aber selbst wenn dies unterstellt würde, steht der Anwendung dieser Vorschrift entgegen, daß sie - ebenso Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG - eine Internierung oder Verschleppung im Sinne des § 1 Abs. 3 und 4 des HkG voraussetzt. Diese an zwei Stellen des Gesetzes erwähnte ausdrückliche Verweisung auf § 1 Absätze 3 und 4 HkG bedeutet nach der Ansicht des Senats eine solche hinsichtlich Grund, Ort, Zeit und Dauer der Internierung, wie sie in den genannten Absätzen des § 1 HkG festgelegt ist (so auch Verb. Komm. Anm. 19 zu § 1252 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Jedenfalls kann aus dem Wortlaut und Sinn von § 29 Nr. 5 AVG nicht - wie die Kläger meinen - gefolgert werden, der Hinweis auf die Absätze 3 und 4 des § 1 HkG diene nur der Erläuterung der Begriffe "Internierung" und "Verschleppung". Die genannten Bestimmungen des HkG enthalten nämlich gar nicht eine solche allgemeine Begriffsdefinition, sondern Einzelheiten darüber, unter welchen besonderen Umständen die Heimkehrereigenschaft als erfüllt angesehen wird. Gegen die Annahme der Kläger spricht im übrigen auch der Wortlaut des Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG, der es auf "Internierte oder Verschleppte (§ 1 Abs. 3 und 4 des HkG)" abstellt. In Übereinstimmung mit dem LSG kann deshalb der Hinweis in § 29 Nr. 5 RVO und in Art. 2 § 10 Abs. 2 AnVNG nur dahin verstanden werden, daß eine Heimkehrereigenschaft im Sinne des § 1 Absätze 3 und 4 HkG vorausgesetzt wird. Der verstorbene Versicherte erfüllte aber weder den Tatbestand des § 1 Abs. 3 HkG, weil diese Vorschrift sich nicht auf die in der SBZ internierten Personen bezieht, noch denjenigen des Abs. 4 HkG, weil der Versicherte nicht nach dem 30 November 1949 (§ 1 Abs. 4 a HkG) entlassen worden ist.
Da eine sonstige Anspruchsgrundlage fehlt, ist dem Urteil des LSG beizutreten. Die Revision der Kläger ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen