Leitsatz (redaktionell)
1. Die für den Rentenanspruch nach RVO § 1265 S 1 (= BVG § 42 Abs 1 S 1) rechtserheblichen Vorschriften des EheG 1946 (hier: §§ 58 ff) waren bis zum Staatsvertrag zwischen der DDR und der UdSSR vom 1955-09-20 in beiden Teilen Deutschlands - abgesehen von gewissen Interpretationsunterschieden - mit im Kern gleichen Inhalt geltendes Recht und sind deshalb unmittelbar anzuwenden. Die Normen des interlokalen Kollisionsrechts brauchen bis zu diesem Zeitpunkt also nicht herangezogen zu werden.
Unterhaltsurteile der DDR können auch in der BRD vollstreckt werden und bedürfen hierzu keines Vollstreckungsurteils.
2. Für die Beurteilung der Frage der Rechtmäßigkeit eines Rentenanspruchs gemäß RVO § 1265 aus einer 1951 in der DDR geschiedenen Ehe - der Versicherte ist 1954 dort selbst verstorben - haben die Unterhaltsvorschriften des EheG von 1946 unmittelbar Anwendung zu finden.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1965-06-09; BVG § 42 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. September 1970 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist, ob die Klägerin als frühere Ehefrau des im Oktober 1954 in Ost-Berlin verstorbenen Versicherten B W Hinterbliebenenrente beanspruchen kann (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die 1913 geborene Klägerin hatte im Jahre 1942 den Versicherten geheiratet. Die Ehe, aus der eine Tochter hervorging, wurde durch das seit 22. Juni 1951 rechtskräftige Urteil eines Ost-Berliner Amtsgerichts aus überwiegendem Verschulden des Versicherten geschieden. Bereits im Jahre 1946 hatte die Klägerin ihren - bis dahin mit dem Versicherten gemeinsamen - Wohnsitz von Ost-Berlin in das Bundesgebiet verlegt. Der Versicherte war keine neue Ehe mehr eingegangen.
Die Beklagte lehnte den im September 1964 gestellten Rentenantrag ab, weil die Klägerin nach der Scheidung als selbständige Schneiderin ein eigenes Einkommen gehabt habe. Nach ihren eigenen Angaben sei eine Unterhaltsentscheidung nicht ergangen, vielmehr habe sie auf Unterhaltszahlungen verzichtet. Auch habe der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt geleistet (Bescheid vom 2. Juni 1965).
Demgegenüber machte die Klägerin geltend, der Versicherte sei 1952 oder 1953 durch ein Gericht in Ost-Berlin verpflichtet worden, an sie und ihre Tochter monatlich 250.- DM Unterhalt zu zahlen. Auf eine Unterhaltsleistung habe sie nur deshalb "verzichtet", weil kein Geldverkehr über die Zonengrenze hinweg möglich gewesen sei. Vor dem Tod des Versicherten sei sie auch unterhaltsbedürftig gewesen.
Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hielt im Hinblick darauf, daß der Versicherte schon vor dem 1. Januar 1957 verstorben ist, die Vorschrift in Satz 2 des § 1265 RVO nicht für anwendbar. Die 1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO sei deshalb nicht gegeben, weil der Versicherte zur Zeit seines Todes aufgrund der in der DDR bestehenden Rechtslage nicht der in der Bundesrepublik normierten ehegesetzlichen Unterhaltspflicht unterworfen gewesen sei. Der von der Klägerin behauptete Unterhaltstitel eines Ost-Berliner Amtsgerichts komme als Anspruchsgrundlage nach der 2. Alternative in § 1265 Satz 1 RVO ebenfalls nicht in Betracht, weil der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen dieses Titels hätte beseitigen können. Schließlich habe der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin tatsächlich keinen Unterhalt gewährt (Urteil vom 28. September 1970).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1265 Satz 1 RVO.
Die Klägerin beantragt, die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 28. September 1970 und des Sozialgerichts (SG) Speyer vom 27. November 1967 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Juni 1965 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr vom 1. Januar 1965 an Geschiedenen-Witwenrente nach § 1265 RVO zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet.
Das LSG ist (stillschweigend) davon ausgegangen, daß das Scheidungsurteil des Ost-Berliner Amtsgerichts auch im Bundesgebiet wirksam ist. Dem ist zuzustimmen, weil kein Anhalt dafür besteht, daß ein Gericht der Bundesrepublik in einem Verfahren nach den §§ 606 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO) den Fortbestand der Ehe über den Scheidungszeitpunkt hinaus bis zum Tode des Versicherten festgestellt hat (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29. Juli 1971 - Az.: 12/11 RA 229/70 mit weiteren Nachweisen).
Der Klageanspruch ist daher nach § 1265 RVO zu beurteilen, wobei mit Rücksicht auf den nach dem 30. April 1942, aber vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Tod des Versicherten - wie das LSG richtig erkannt hat - Satz 2 der Vorschrift außer Betracht bleiben muß (Art. 2 § 19 ArVNG, Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG). Da nach den von der Revision nicht angegriffenen und somit für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt geleistet hat, hängt der Rentenanspruch der Klägerin davon ab, ob ihr der in Ost-Berlin wohnhafte Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte.
Hinsichtlich der ehegesetzlichen Unterhaltsverpflichtung des Versicherten ist das LSG zu Unrecht dem Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Juni 1967 - 4 RJ 383/66 (FamRZ 1967, 624, 626) gefolgt, nach dem ein Versicherter, der nicht in der Bundesrepublik Deutschland gelebt hat, dem ehegesetzlichen Unterhaltsrecht nicht unterworfen gewesen sei. Dem vom 4. Senat entschiedenen Rechtsstreit lag als Sachverhalt zugrunde, daß die Ehe der dortigen Klägerin erst zu einer Zeit geschieden wurde, als in der DDR das Ehegesetz vom 20. Februar 1946 (EheG 1946) durch die Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung vom 24. November 1955 - EheVO - (DDRGBl I, 849) abgelöst worden war. Im vorliegenden Rechtsstreit haben aber sowohl zur Zeit der Ehescheidung (1951), als auch zur Zeit des Todes des Versicherten (Oktober 1954) noch in allen Besatzungszonen Deutschlands einheitlich die Vorschriften des vom Kontrollrat erlassenen EheG 1946 (Kontrollratsgesetz Nr. 16, KRABl S. 77) gegolten. Erst durch den Staatsvertrag zwischen der DDR und der UdSSR vom 20. September 1955 wurde das gesamte Recht des Kontrollrats im Bereich der früheren Sowjetischen Besatzungszone aufgehoben (vgl. hierzu Staudinger/Dietz, 10./11. Aufl., Einleitung zum EheG, Anm. 161). Die EheVO regelte sodann das Eherecht sowie das Recht der Scheidung und der Scheidungsfolgen in der DDR neu (in Ost-Berlin am 8. Dezember 1955 in Kraft getreten, VOBl I S. 519).
Angesichts der somit zur Zeit des Todes des Versicherten noch einheitlichen Rechtsordnung brauchen - anders als in dem vom 5. Senat des BSG mit Urteil vom 29. Juli 1971 (Az.: 5 RJ 21/70) entschiedenen Rechtsstreit - für die Anwendung der Unterhaltsvorschriften des EheG 1946 nicht die Normen des im Verhältnis der BRD zur DDR angewandten interlokalen Kollisionsrechts herangezogen zu werden. Vielmehr sind die Vorschriften des EheG 1946 unmittelbar anzuwenden (vgl. Palandt, 17. Aufl., Vorbem. 14 a vor Art. 7 EG BGB mit weiteren Nachweisen). Entgegen der Auffassung des LSG ist es dabei für die Frage, ob eine Unterhaltspflicht des Versicherten zur Zeit seines Todes nach den §§ 58, 59 EheG 1946 bestanden hat, ohne rechtliche Bedeutung, in welcher Weise die Gerichte der DDR damals diese Vorschriften ausgelegt haben. Insbesondere kann es nicht - wie das LSG meint - auf die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes der DDR zu den §§ 58 ff EheG 1946 ankommen. An diese Rechtsprechung sind die Gerichte der BRD ohnehin nicht gebunden. Maßgebend kann vielmehr nur sein, daß die für den Rentenanspruch nach § 1265 Satz 1 RVO rechtserheblichen Vorschriften des EheG 1946 zur Zeit des Todes des Versicherten in beiden Teilen Deutschlands - abgesehen von gewissen Interpretationsunterschieden - mit im Kern gleichem Inhalt geltendes Recht gewesen sind (ebenso im Ergebnis Urteil des 5. Senats aaO).
Hinsichtlich der somit gebotenen Prüfung eines Anspruchs der Klägerin auf Unterhalt gegen den Versicherten zur Zeit des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dessen Tod fehlt es im angefochtenen Urteil an den notwendigen tatsächlichen Feststellungen. Insbesondere hat das LSG nicht geprüft, wie die Einkommensverhältnisse der Eheleute zur Zeit der Scheidung gewesen sind, um die Angemessenheit des Unterhalts der Klägerin zu beurteilen. Es ist auch nicht geklärt, ob der Klägerin die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit im Hinblick auf die Erziehung und Betreuung der im Jahre 1942 geborenen Tochter bei der Anwendung des § 58 Abs. 1 EheG überhaupt anzurechnen sind (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 25.11.1970 in FamRZ 1971, 90 mit weiteren Nachweisen).
Der Senat kann deshalb über einen der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten zustehenden gesetzlichen Unterhaltsanspruch i. S. des § 1265 Satz 1 RVO nicht abschließend entscheiden. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Sollte das LSG dabei zu dem Ergebnis kommen, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes an die Klägerin zu leisten hatte, so wird das LSG noch zu prüfen haben, ob damals ein Unterhaltsanspruch der Klägerin aus sonstigen Gründen i. S. des § 1265 Satz 1 RVO gegenüber dem Versicherten bestanden hatte. Insoweit kann der Ansicht des LSG, der von der Klägerin behauptete Unterhaltstitel wäre in Anbetracht der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes der DDR nach den Grundsätzen des § 323, § 767 ZPO zu beseitigen gewesen, nach der hier vertretenen anderen Rechtsauffassung nicht gefolgt werden. Unterhaltsurteile der DDR können auch in der Bundesrepublik vollstreckt werden und bedürfen hierzu keines Vollstreckungsurteils (vgl. Baumbach/Lauterbach, 27. Aufl., Anhang zu § 723 ZPO, Anm. II A mit weiteren Nachweisen). Dies ist - worauf bereits der 5. Senat im Urteil vom 29. Juli 1971 aaO hingewiesen hat - dann von Bedeutung, wenn der Unterhaltsschuldner in die Bundesrepublik gelangt oder im Bundesgebiet Vermögenswerte besitzt, in die vollstreckt werden kann. Auf den vom LSG außerdem angeführten Umstand, daß Unterhaltszahlungen von Personen mit Wohnsitz in der DDR zugunsten von Personen im Bundesgebiet jedenfalls schon seit der Scheidung nicht möglich gewesen seien, kommt es dagegen nicht an. Daraus folgt nämlich nicht, daß der Titel durch Änderungs- oder Vollstreckungsabwehrklage hätte beseitigt werden können. Vielmehr besagt diese Feststellung des LSG nur, daß bei diesem Sachverhalt der Titel nicht realisierbar gewesen wäre. Die Realisierbarkeit wird indes weder bei den materiellen Ansprüchen aufgrund des EheG noch bei anderen Ansprüchen des materiellen Rechts für die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente vorausgesetzt (vgl. Beschluß des Großen Senats vom 27.6.1963 in BSG 20, 1, 5).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen