Entscheidungsstichwort (Thema)
Mangelnde Sachaufklärung. Fehlerhafte Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Sieht das Gericht von einer Beweiserhebung betreffend die Arbeitsmarktverhältnisse des gesamten Bundesgebietes ab, weil es der Auffassung ist, dem Versicherten könne eine Übersiedlung von Berlin ins Bundesgebiet nicht zugemutet werden, so hat es darzulegen, auf welche Feststellungen es seine Überzeugung stützt.
Normenkette
SGG §§ 103, 128 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 28.04.1971) |
SG Berlin (Entscheidung vom 13.03.1968) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. April 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.
Der im Jahre 1911 geborene Kläger erlernte keinen Beruf. Er war zuletzt - bis August 1966 - als Müllträger bei der Berliner Stadtreinigung beschäftigt.
Die Beklagte lehnte seinen Rentenantrag aufgrund des ärztlichen Untersuchungsergebnisses ab (Bescheid vom 14. Februar 1967). Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit, die weitergehende Klage auf Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente wies es ab (Urteil vom 13. März 1968).
Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung im wesentlichen aus folgenden Gründen: Der vom SG gehörte ärztliche Sachverständige Dr. M. habe im Gutachten vom 10. November 1967 das Leistungsvermögen des Klägers ausreichend und von der Beklagten unbeanstandet beschrieben. Danach könne der Kläger nur noch leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen vorwiegend im Sitzen für täglich vier bis fünf Stunden verrichten. Damit sei dem Kläger der Arbeitsmarkt verschlossen, weil es nicht möglich sei ihn an seinem Wohnort Berlin in Teilzeitarbeit zu vermitteln. Dies ergebe sich insbesondere aus der den Beteiligten bekannt gegebenen Aussage des in einem anderen Rechtsstreit vernommenen sachverständigen Zeugen Dr. Z. Danach unterscheide sich der Berliner Arbeitsmarkt auch nicht wesentlich von dem Arbeitsmarkt in anderen industriellen Ballungsräumen, wo eine Arbeitsmöglichkeit für körperlich leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen eher als in landwirtschaftlich bestimmten Gegenden zu finden sei. Deshalb erübrige es sich, Nachforschungen über den Arbeitsmarkt im Bereich anderer Landesarbeitsämter anzustellen. Außerdem sei dem Kläger bei seinem stark herabgesetzten Gesundheitszustand, seinem Alter und seiner familiären Bindung an Berlin ein Umzug in das Bundesgebiet zur Verwertung des verbliebenen Leistungsvermögens nicht zuzumuten (Urteil vom 28. April 1971).
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt die Beklagte wesentliche Verfahrensmängel; sie macht eine Überschreitung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung und einen Verstoß gegen die Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts durch das Berufungsgericht geltend.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Berlin vom 13. März 1968 aufzuheben und die Klage abzuweisen;
hilfsweise beantragt sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Der Kläger beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil die gerügten wesentlichen Verfahrensmängel einer Verletzung der §§ 103, 128 Abs. 1 SGG vorliegen.
Die Revision bemängelt zutreffend, daß das LSG unter Hinweis auf die Aussage des Dr. Z. von Nachforschungen über den Arbeitsmarkt im Bundesgebiet abgesehen hat. Aus den Ausführungen im angefochtenen Urteil ist zwar erkennbar, daß das LSG mit den Entscheidungen des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167 ff und 192 ff) zutreffend von einer Verweisbarkeit des Klägers auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes ausgegangen ist. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 21. September 1971 (Az.: 12 RJ 250/71) bereits entschieden hat, kann den in Berlin ansässigen Versicherten - ebensowenig wie etwa den im Ausland wohnenden Versicherten - nicht allgemein eine Sonderstellung i.S. einer räumlich eingeschränkten Verweisbarkeit zugebilligt werden. Auf die somit für das gesamte Bundesgebiet erforderlichen Arbeitsplatzermittlungen durfte das LSG aber nicht unter Berufung auf die Aussage des Dr. Z. verzichten. Dr. Z. hat nämlich eingeräumt, daß in abgelegenen, bevölkerungsärmeren Gebieten Westdeutschlands die Einstellung von Teilzeitbeschäftigten notwendig werden kann. Er erklärte sich indes außerstande, ein besonderes Gebiet zu benennen, in welchem ein Bedarf für männliche Teilzeitbeschäftigte besteht. Desgleichen war er nicht in der Lage, konkrete Angaben über die Verhältniszahlen zu machen, die für einen praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt des Bundesgebiets i.S. der Beschlüsse des Großen Senats aaO maßgebend sind. Hierüber hätte es daher des Beweises bedurft.
Von einer die Arbeitsmarktverhältnisse des gesamten Bundesgebiets umfassenden Beweiserhebung durfte das LSG auch nicht mit der Begründung absehen, dem Kläger sei bei seinem Alter, seinem stark herabgesetzten Gesundheitszustand und seiner familiären Bindung an Berlin ein Umzug in das Bundesgebiet zur Verwertung des verbliebenen Leistungsvermögens nicht zuzumuten. Das LSG hat - wie die Revision zutreffend rügt - nicht dargelegt, worauf es diese Überzeugung stützt. In dem vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegten Gutachten des Dr. M. wird über eine etwaige Unzumutbarkeit eines Umzugs aus gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen keine Beurteilung abgegeben. Auch ist nicht erkennbar, worin die familiäre Bindung an Berlin bestehen soll; im Tatbestand des angefochtenen Urteils wird insoweit nur festgestellt, daß der Kläger verheiratet ist. Desgleichen fehlt es an einer Begründung dafür, weshalb eine etwaige besondere familiäre Situation eine so starke Bindung des Klägers an Berlin geschaffen habe, daß womöglich ein Wohnortwechsel ausnahmsweise aus sozialen Gründen i.S. der Ausführungen des Großen Senats aaO (vgl. BSG 30, 167, 187) nicht in Betracht kommt.
Die Revision ist wegen der aufgezeigten Mängel im Verfahren des LSG zulässig, ohne daß es noch darauf ankommt, ob die vorliegenden Vorstöße gegen die §§ 103, 128 Abs. 1 SGG auch noch auf das weitere Vorbringen der Revision gestützt werden könnten.
Die Revision ist auch insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil die bisherigen Feststellungen des LSG zur abschließenden Beurteilung des geltend gemachten Rentenanspruchs nicht ausreichen. Das Gutachten des Dr. M. ist bereits im November 1967 erstellt worden. Es kann demzufolge die weitere Entwicklung des Gesundheitszustandes des nunmehr schon über 60 Jahre alten Klägers nicht berücksichtigt haben. Überdies ist das Gutachten auch unvollständig, weil es zu der vom LSG angenommenen Unzumutbarkeit eines etwaigen Wohnortwechsels aus gesundheitlichen Gründen nicht Stellung genommen hat. Von dem Ergebnis der somit erforderlichen weiterer medizinischen Aufklärung wird sodann abhängen, ob und gegebenenfalls inwieweit noch Ermittlungen über Teilzeitarbeitsplätze durchzuführen sind.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen