Orientierungssatz
Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung bei der Verwertung von Sachverständigengutachten - Umfang der Amtsermittlungspflicht bei der Beurteilung des Teilzeitarbeitsmarktes
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1, § 103
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 31.03.1971) |
SG Berlin (Entscheidung vom 31.07.1967) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 31. März 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht.
Der im Jahre 1910 geborene Kläger übte bis zum Jahre 1947 verschiedene Berufe aus. Danach war er bis 1965 als Dachdecker beschäftigt.
Die Beklagte erkannte den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit seit Oktober 1964 an. Die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte sie ab (Bescheid vom 27. Mai 1966).
Der hiergegen gerichteten Klage gab das Sozialgericht (SG) statt (Urteil vom 31. Juli 1967). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung im wesentlichen aus folgenden Gründen: Nach der überzeugenden Beurteilung des vom SG gehörten ärztlichen Sachverständigen Dr. G könne der Kläger nur noch vorwiegend im Sitzen zu verrichtende leichte Halbtagsarbeiten ausüben. Mit diesem eingeschränkten Leistungsvermögen sei dem Kläger der Arbeitsmarkt verschlossen, weil es nicht möglich sei, ihn an seinem Wohnort Berlin in Teilzeitarbeit zu vermitteln. Dies ergebe sich insbesondere aus der den Beteiligten schriftlich unterbreiteten Aussage des in einem anderen Rechtsstreit vernommenen sachverständigen Zeugen Dr. Z. Danach unterscheide sich der Berliner Arbeitsmarkt auch nicht wesentlich von dem Arbeitsmarkt in anderen industriellen Ballungsräumen, wo eine Arbeitsmöglichkeit für körperlich leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen eher als in landwirtschaftlich bestimmten Gegenden zu finden sei. Deshalb erübrige es sich, Nachforschungen über den Arbeitsmarkt im Bereich anderer Landesarbeitsämter anzustellen. Außerdem sei dem Kläger bei seinem stark herabgesetzten Gesundheitszustand und seinem Alter ein Umzug in das Bundesgebiet zur Verwertung des verbliebenen Leistungsvermögens nicht zuzumuten (Urteil vom 31. März 1971).
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt die Beklagte wesentliche Verfahrensmängel, die sie auf eine Überschreitung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung und auf einen Verstoß gegen die Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts durch das Berufungsgericht stützt.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Berlin vom 31. Juli 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen;
hilfsweise beantragt sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung ist ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG nicht gegeben.
II
Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil die gerügten wesentlichen Verfahrensmängel einer Verletzung der §§ 103, 128 Abs. 1 SGG vorliegen.
Die Revision bemängelt zutreffend, daß das LSG bei der Ermittlung der Teilzeitarbeitsplätze als Leistungsvermögen des Klägers nur noch "durchweg oder vorwiegend" im Sitzen zu verrichtende leichte Halbtagsarbeiten zugrunde gelegt hat. Diese Feststellung wird durch das vom LSG für überzeugend gehaltene Gutachten des Dr. G nicht gedeckt. Hier ist vielmehr gesagt, der Kläger könne noch leichte Arbeiten im Sitzen und im Wechsel von Stehen, Gehen und Sitzen - also aus unterschiedlichen Ausgangsstellungen heraus - täglich vier bis fünf Stunden verrichten, wobei der Kläger noch mittleren geistigen Anforderungen gewachsen sei. Insoweit besteht ein offensichtlicher Widerspruch in den Urteilsgründen. Aus der somit verfahrenswidrig zustande gekommenen Auffassung heraus, daß der Kläger nur noch "durchweg oder vorwiegend" im Sitzen arbeiten könne, verneint das LSG ua dessen Einsatzfähigkeit im Postverteilungsdienst. Da das Berufungsgericht die Möglichkeit, daß es entsprechende Halbtagsbeschäftigungen bei den Postämtern in einer die Erwerbsunfähigkeit i.S. von § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung ausschließenden Anzahl gibt, offen gelassen hat, beruht seine Entscheidung zum wesentlichen Teil auf der nicht prozeßordnungsgemäß festgestellten Tatsache, der Kläger habe für die Briefverteilung kein ausreichendes Leistungsvermögen. Das LSG hat damit die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) überschritten und auch die Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) nicht erfüllt.
Gleiches gilt hinsichtlich der vom LSG unter Hinweis auf die Aussage des Dr. Z unterlassenen Nachforschungen über den Arbeitsmarkt im Bundesgebiet. Aus diesen Ausführungen ist zwar erkennbar, daß das LSG mit den Entscheidungen des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167 ff und 192 ff) zutreffend von einer Verweisbarkeit des Klägers auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes ausgegangen ist. Danach kann den in Berlin ansässigen Versicherten - ebensowenig wie etwa den im Ausland wohnenden Versicherten - nicht allgemein eine Sonderstellung eingeräumt werden. Auf die somit für das gesamte Bundesgebiet erforderlichen Arbeitsplatzermittlungen hätte das LSG aber nicht unter Berufung auf die Aussage des Dr. Z verzichten dürfen. Dr. Z hat nämlich eingeräumt, daß in abgelegenen, bevölkerungsärmeren Gebieten Westdeutschlands die Einstellung von Teilzeitbeschäftigten notwendig werden kann. Er erklärte sich indes außerstande, ein besonderes Gebiet zu benennen, in welchem ein Bedarf für männliche Teilzeitbeschäftigte besteht. Desgleichen war er nicht in der Lage, konkrete Angaben über die Verhältniszahlen zu machen, die für einen praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt des Bundesgebiets im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats aaO maßgebend sind. Hierüber hätte es daher des Beweises bedurft.
Von einer die Arbeitsmarktverhältnisse des gesamten Bundesgebietes umfassenden Beweiserhebung durfte das LSG auch nicht mit der Begründung absehen, dem Kläger sei bei seinem Alter und seinem stark herabgesetzten Gesundheitszustand ein Umzug in das Bundesgebiet zur Verwertung des verbliebenen Leistungsvermögens nicht zuzumuten. Das LSG hat nicht dargelegt, worauf es diese Überzeugung stützt. In dem vom LSG bei seiner Entscheidung zugrunde gelegten Gutachten wird hierüber keine Beurteilung abgegeben.
Die Revision ist wegen der aufgezeigten Mängel im Verfahren zulässig. Sie ist auch insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil noch Ermittlungen über Teilzeitarbeitsplätze und - im Hinblick auf das bereits im Februar 1967 erstellte Gutachten des Dr. G - möglicherweise auch über die dem Kläger verbliebene Leistungsfähigkeit durchzuführen sind.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen