Entscheidungsstichwort (Thema)
Wahlfeststellungsbescheid. Nachschieben einer anderen Begründung
Orientierungssatz
Zur Frage, ob die Versorgungsverwaltung trotz Vorliegens eines bindend gewordenen Umanerkennungsbescheides berechtigt ist, die Anerkennung der Schädigungsfolgen während des Berufungsverfahrens durch Wahlfeststellung teilweise zurückzunehmen und die MdE herabzusetzen.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28; KOVVfG § 41 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. April 1975 und des Sozialgerichts Duisburg vom 9. Mai 1973 werden aufgehoben.
Die Klage gegen den Bescheid vom 6. September 1973 wird abgewiesen, soweit mit ihr seine Aufhebung für die Zeit ab 1. November 1973 begehrt wird.
Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger erhielt zunächst von 1945 an für "Lähmung der rechten Hand (Radialislähmung), Narben nach Schußbruch des rechten Unterarms, Narben des linken Unterschenkels" als Wehrdienstbeschädigung (WDB) Versehrtengeld der Stufe III. Für die gleichen Körperschäden wurde nach erneuter Untersuchung ab 1947 auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 70 v.H. bemessen. Dabei blieb es - ohne weitere Untersuchung - in der "Umanerkennung" ab 1. Oktober 1950 nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). In dem Umanerkennungsbescheid wurde vermerkt, eine ärztliche Untersuchung sei nicht mehr beabsichtigt.
Im Februar 1965 beantragte der Kläger erneut Berufsschadensausgleich. Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen der Landesversicherungsanstalt (LVA) und Durchführung einer versorgungsärztlichen Untersuchung durch Dr. V und Dr. S wurde die Rente des Klägers unter Neuformulierung der Schädigungsfolge wegen einer wesentlichen Änderung (§ 62 Abs. 1 BVG) mit Bescheid vom 23. September 1966 ab 1. November 1966 nur noch nach einer MdE um 40 v.H. gewährt. Zugleich wurde eine besondere berufliche Betroffenheit (§ 30 Abs. 2 BVG) verneint und außerdem (mit dem hier nicht mehr angefochtenen Bescheid vom 24.9.1966) der Berufsschadensausgleich abgelehnt. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 26. Oktober 1966).
Die Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1968). Das Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung hinsichtlich des Berufsschadensausgleichs als unzulässig, im übrigen verwies es die Sache wegen Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an das SG zurück. Nunmehr hob das SG den Änderungsbescheid vom 23. September 1966 auf, weil ein Befundvergleich, wie er durch § 62 BVG vorgeschrieben sei, nicht möglich sei (Urteil vom 9. Mai 1973). Während des Berufungsverfahrens erteilte der Beklagte am 6. September 1973 einen "Wahlfeststellungsbescheid", in dem die Herabsetzung des Grades der MdE auf 40 v.H. zusätzlich damit begründet wurde, daß die Lähmung der rechten Hand entweder später weggefallen oder niemals bestanden habe; im letzteren Falle sei eine Berichtigung gemäß § 41 Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG) gerechtfertigt. Das LSG wies die Berufung des Beklagten zurück und hob den Wahlfeststellungsbescheid auf (Urteil vom 15. April 1975). Es führte aus, das SG habe zu Recht eine Änderung der Verhältnisse verneint. Der Bescheid vom 23. September 1966 sei nicht dadurch rechtmäßig geworden, daß er zusätzlich auf § 41 VerwVG gestützt worden sei. Dabei handele es sich entgegen den Ausführungen des Beklagten nicht lediglich um das hilfsweise Nachschieben einer weiteren Begründung, sondern um ein Vorgehen, durch das der auf § 62 BVG gestützte Bescheid in seinem Wesen verwandelt werde. Der Wahlfeststellungsbescheid, der nach § 96 SGG Gegenstand des Prozeßverfahrens geworden sei, könne auch für sich allein keinen Bestand haben. Bestünden schon hinsichtlich seiner Selbständigkeit Bedenken, so würden diese noch dadurch verstärkt, daß er die Herabsetzung der Rente nicht erst ab 1. Oktober 1973, sondern bereits ab 1. November 1966 angeordnet habe. Im übrigen seien die Merkmale für eine Wahlfeststellung nicht erfüllt, weil dafür vorausgesetzt werde, daß nicht feststellbar sei, ob entweder eine Änderung (§ 62 Abs. 1 BVG) oder eine Unrichtigkeit (§ 41 Abs. 1 VerwVG) vorliege, aber mit Sicherheit eine der beiden Vorschriften anzuwenden sei. Die Möglichkeit einer Wahlfeststellung entfalle jedenfalls dann, wenn einer der beiden Tatbestände nicht gegeben sei. Dies treffe hier hinsichtlich des § 62 Abs. 1 BVG zu, weil nach ärztlicher Ansicht bereits bei Erteilung der früheren Bescheide eine Gewohnheitslähmung vorgelegen habe, die sicher keine höhere MdE als 40 v.H. bedingte. Deshalb sei eine Feststellung, wonach mit Sicherheit eine der beiden Vorschriften anzuwenden sei, nicht möglich. Eine Prüfung, ob eine Berichtigung nach § 41 Abs. 1 VerwVG erfolgen könne, sei verwehrt, weil ein derartiger Bescheid bisher nicht erteilt worden sei.
Der Senat hat die Revision auf die Beschwerde des Beklagten zugelassen.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und die Verletzung der §§ 62 BVG, 41 VerwVG i.V.m. den hieraus abzuleitenden Grundsätzen einer Wahlfeststellung gerügt. Der Bescheid vom 23. September 1966 (§ 62 BVG) sei durch den Bescheid vom 6. September 1973 ersetzt worden. Diese Wirkung habe das LSG mit der Erkenntnis bestätigt, "ein Wahlfeststellungsbescheid stelle gegenüber Bescheiden nach § 62 BVG bzw. § 41 VerwVG einen Verwaltungsakt besonderer eigener Natur dar". Daraus habe das LSG jedoch nicht die richtige Folgerung gezogen. Das Ersetzen eines Verwaltungsaktes durch einen anderen sei - entgegen der Meinung des LSG - kein bloßes "Nachschieben von Gründen" für einen Bescheid (BSGE 26,22), sondern verlange die Prüfung der Voraussetzungen einer Wahlfeststellung. Diese dürfe sich vom Zweck einer Wahlfeststellung her trotz der Ungewißheit nicht auf eine isolierte Betrachtung der Voraussetzungen der §§ 62 BVG, 41 VerwVG beschränken, sondern müsse die Rechtmäßigkeit der Wahlfeststellung daran messen, ob der Nachweis der Tatbestandsmerkmale alternativ geführt worden sei.
Der Beklagte hat zuletzt beantragt,
unter Abänderung der Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. April 1975 und des Sozialgerichts Duisburg vom 9. Mai 1973 die Klage gegen die Bescheide vom 23. September 1966 und 6. September 1973 insoweit abzuweisen, als mit ihr Rente nach einer MdE von 70 v.H. über den 31. Oktober 1973 hinaus begehrt werde,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger hat beantragt,
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die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen. |
Er meint, die ihm günstigere Regelung des § 62 BVG müsse Platz greifen. Schon aus diesem Grunde erweise sich der Bescheid vom 6. September 1973 als rechtswidrig.
Die Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt für die Zeit ab 1. November 1973 zur Abweisung der Klage.
Zu entscheiden ist nur noch darüber, ob der Beklagte trotz der Bindungswirkung des Umanerkennungsbescheides vom 28. April 1952 (§§ 77 SGG, 24 VerwVG) berechtigt gewesen ist, durch Wahlfeststellung (§§ 62 BVG, 41 VerwVG) die Anerkennung der Schädigungsfolgen teilweise zurückzunehmen und die Rente vom 1. November 1973 an auf eine MdE von 40 v.H. herabzusetzen. Der Umstand, daß der Umanerkennungsbescheid den bindenden Vermerk enthält, "eine Nachuntersuchung sei nicht mehr beabsichtigt", steht einer solchen Wahlfeststellung nicht entgegen. Durch diesen Vermerk, der sich als begünstigender Verwaltungsakt darstellt, war es dem Beklagten lediglich verwehrt, einen neuen, auf § 86 Abs. 3 BVG a.F. gestützten Bescheid zu erteilen. Nach dieser - inzwischen aufgehobenen - Vorschrift war binnen 4 Jahren nach Inkrafttreten des BVG eine Neufeststellung der Rente nicht von einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 62 Abs. 1 BVG) abhängig, wenn die sogenannte Umanerkennung nach dem BVG ohne ärztliche Untersuchung erfolgt war. Der Verzicht auf die Nachuntersuchung hinderte die Behörde aber nicht, eine Änderung der Verhältnisse gemäß § 62 BVG zu berücksichtigen oder eine Berichtigung nach § 41 Abs. 1 VerwVG vorzunehmen (BSGE 6, 175; 11, 236; 19, 289). Anders wäre die Rechtslage nur, wenn ein Änderungsbescheid nach § 62 BVG einen derartigen Vermerk enthalten hätte (BSG in BVBl 1965, 9).
Die Rücknahme der Anerkennung einer Schädigungsfolge oder ihre Berichtigung und die Entziehung der Versorgungsrente oder ihre Minderung sind auch dann zulässig, wenn nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG vorliegt oder ob der frühere Bescheid in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zweifelsfrei unrichtig im Sinne des § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG gewesen ist. Es muß aber feststehen, daß nur die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der einen oder der anderen Vorschrift vorliegen können - Wahlfeststellung - (BSGE 26, 22 mit weiteren Nachweisen). Für die Berichtigung nach § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG ist anzumerken, daß das Gesetz zwar gemäß Art. 25 § 1 Haushaltsstrukturgesetz vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3091) geändert worden ist; zur Korrektur eines Bescheides genügt nunmehr die tatsächliche oder rechtliche Unrichtigkeit. Auf den gegenwärtigen Fall ist indessen (aaO § 2) die alte Fassung anzuwenden. Der eine Wahlfeststellung rechtfertigende Sachverhalt ist hier nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die von keiner Seite angegriffen werden, gegeben. Nur wenn ein Neufeststellungsbescheid und ein Berichtigungsbescheid, mit denen die Rente unter Aberkennung der gleichen Schädigungsfolgen entzogen werden sollte, durch rechtskräftige Urteile aufgehoben worden sind, ist die Wiederholung dieser Regelungen mit einem Wahlfeststellungsbescheid wegen Mißachtung der Rechtskraft rechtswidrig (SozR 3100 § 62 Nr. 5). So liegen die Verhältnisse hier aber nicht, da der Neufeststellungsbescheid vom 23. September 1966 neben dem Wahlfeststellungsbescheid vom 6. September 1973 noch Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits ist. Nachdem der Beklagte nachträglich seinen Prozeßantrag geändert und dadurch die Leistung erst vom 1. November 1973 an nach einer MdE von 40 v.H. bemessen will, ist der Wahlfeststellungsbescheid vom 6. September 1973 in vollem Umfang zu bestätigen. Erörterungen darüber, ob die in diesem Bescheid ursprünglich ausgesprochene zeitliche Wirkung rechtmäßig war, erübrigen sich durch die vorgenommene Beschränkung. Mit ihr wird dem Einwand des Klägers begegnet, der Wahlfeststellungsbescheid könne nicht Rechtens sein, weil er die Herabsetzung ab 1. November 1966 ausgesprochen habe. Dem LSG ist zwar darin zuzustimmen, daß die Behörde zunächst den Versuch unternommen hatte, die in dem Änderungsbescheid vom 23. September 1966 getroffene Regelung zusätzlich auf eine weitere Rechtsgrundlage zu stellen. Dieses Bestreben wurde noch dadurch verdeutlicht, daß am Ende der Bescheidbegründung ausgeführt wurde, der Bescheid vom 23. September 1966 werde in seinem Wesen und Ausspruch durch das hilfsweise Nachschieben einer anderen Begründung nicht wesentlich geändert. obwohl die vorhergehende Begründung des Bescheides gerade Gegenteiliges besagte. Ein solches Vorgehen hat die Rechtsprechung nicht gebilligt (BSG 3, 209, 216; 7,8,12; 11, 236; SozR Nr. 25 zu § 41 VerwVG). Unbeachtet blieb dabei nämlich, daß das Nachschieben von Gründen regelmäßig nicht in einem neuen Bescheid, sondern nur im Rahmen zusätzlichen Vorbringens zur Rechtfertigung eines angegriffenen Verwaltungsakts erfolgen kann (BSG, Urteil vom 9. November 1965 - 10/11 RV 492/63 - BVBl 1966, 22).
Daß der Bescheid vom 6. September 1973 allein als selbständiger Berichtigungsbescheid nach § 41 VerwVG (ohne Verbindung mit dem Bescheid vom 23. September 1966) gedeutet werden könnte, erscheint mit Rücksicht auf die ihm gegebene Begründung ebenfalls abwegig. Ihm fehlt nämlich eine klare, die getroffene Regelung für sich allein tragende Feststellung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 41 VerwVG. Doch ist dies gerade die Eigenart einer Wahlfeststellung. Der Bescheid vom 23. September 1966, dessen Umdeutung mithin ausscheidet, ist jedenfalls nicht mehr sachlich zu überprüfen. An seine Stelle ist der Wahlfeststellungsbescheid vom 6. September 1973 getreten, der ersteren ersetzt hat, und ihn hat gegenstandslos werden lassen. Dagegen ist die Wahlfeststellung nach §§ 96, 153 SGG kraft Klage (BSGE 18, 231 = SozR Nr. 17 zu § 96 SGG) Gegenstand des Rechtsstreits geworden. Die Wahlfeststellung ist auch rechtmäßig. Der Bescheid hierüber entspricht nunmehr mit seiner zeitlichen Begrenzung der aus den §§ 62 BVG, 41 VerwVG herzuleitenden Rechtsfolge. Gemäß § 62 BVG konnte nämlich die Rentenminderung erst mit Ablauf des auf die Zustellung des Wahlfeststellungsbescheides folgenden Monats (31. Oktober 1973) ausgesprochen werden. Damit war der Kläger durch den Wahlfeststellungsbescheid zwar noch für die Zeit ab 1. November 1973 beschwert. Hiergegen sind aber, wie ausgeführt, Bedenken nicht zu erheben. Demzufolge waren die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 6. September 1973 unter Beachtung der vom Beklagten zugestandenen Einschränkung abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie ist angemessen, weil dem Kläger durch das Prozeßergebnis noch für 7 Jahre eine höhere Rente zugestanden wurde.
Fundstellen