Orientierungssatz
Das Vorverfahren gehört zu den unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen; sein Fehlen ist auch ohne Rüge eines Beteiligten von Amts wegen zu beachten.
Im Gegensatz zum neuen Verfahrensrecht war nach den vor dem 1975-01-01 geltenden Bestimmungen die Vorverfahrenspflicht nur in den gesetzlich ausdrücklich festgelegten Fällen vorgesehen (SGG § 78). SGG § 79 Nr 1 sah ein Vorverfahren vor, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt wurde, der nicht eine Leistung betraf, auf die ein Rechtsanspruch bestand. Nach der Rechtsprechung des BSG gehörten zu den Verwaltungsakten, die nicht eine Leistung betrafen, auf die ein Rechtsanspruch bestand, nicht nur alle Verwaltungsakte über Ermessensleistungen, sondern alle Verwaltungsakte, die eine Ermessensentscheidung zum Inhalt hatten (vgl BSG 1956-08-23 3 RJ 293/55 = BSGE 3, 209, 215; BSG 1958-07-15 6 RKa 32/56 = BSGE 7, 292, 293 und BSG 1961-10-24 6 RKa 18/60 = BSGE 15, 161, 165).
Um einen solchen Fall handelt es sich bei RVO § 628, der die Rückforderung von Leistungen in das Ermessen des Versicherungsträgers stellt (vgl BSG 1964-08-28 2 RU 20/64 = SozR Nr 12 zu § 79 SGG).
Normenkette
SGG § 78 Fassung: 1953-09-03, § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 628 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 09.03.1977; Aktenzeichen L 3/U 1106/75) |
SG Marburg (Entscheidung vom 04.11.1975; Aktenzeichen S 3/U 150/73) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. März 1977 aufgehoben, soweit es die im Bescheid der Beklagten vom 28. November 1973 ausgesprochene Rückforderung betrifft. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beklagte bewilligte der Klägerin, einer selbständigen Krankengymnastin, wegen eines im Januar 1973 erlittenen Unfalls zunächst einen Vorschuß und sodann Verletztengeld mit dem Hinweis, daß damit noch keinerlei Zusage im Sinne der Anerkennung des Entschädigungsanspruchs verbunden sei und eine Rückzahlung erfolgen müsse, wenn eine weitere Prüfung ergebe, daß ein Arbeitsunfall nicht vorliege. Bei Bemessung der Leistungen ging die Beklagte von ihrem satzungsmäßig höchsten Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 48.000,- DM aus, nachdem die Steuerberater der Klägerin mitgeteilt hatten, diese habe 1972 aus Krankengymnastik 51.510,- DM Einkünfte gehabt. Als die Steuerberater auf Rückfrage der Beklagten mitteilten, das Einkommen aus der Tätigkeit als Krankengymnastin im Kalenderjahr 1972 sei dem Finanzamt gegenüber nach Abzug aller Betriebsausgaben mit 23.168,- DM erklärt worden, nahm die Beklagte eine Neuberechnung des Verletztengeldes vor, stellte eine Überzahlung von 4.534,02 DM fest und ordnete deren Verrechnung mit den künftigen Leistungen durch Bescheid vom 28. November 1973 an. Mit zwei Bescheiden vom 18. Dezember 1973 bewilligte sie der Klägerin vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH und einem JAV von 23.168,- DM sowie Pflegegeld von insgesamt 793,80 DM. Beide Leistungen behielt sie wegen der festgestellten Überzahlung ein.
Die genannten Bescheide - der Bescheid vom 28. November 1973 enthielt keine Rechtsmittelbelehrung - hat die Klägerin im Klagewege angefochten. Nachdem die Beklagte erklärt hatte, zur Durchführung des Vorverfahrens wegen der Rückforderung sei kein Raum mehr, hat das Sozialgericht (SG) die Klagen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und sie durch Urteil vom 4. November 1975 - unter Neubezeichnung der Unfallfolgen - abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide mit Urteil vom 9. März 1977 dahin abgeändert, daß der Berechnung des Verletztengeldes der Klägerin für die Zeit vom 17. Januar bis zum 21. Mai 1973 ein JAV von 48.000,- DM zugrunde gelegt werde; insoweit stehe der Beklagten kein aufrechnungsfähiger Rückforderungsanspruch zu. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Das LSG hat die Klage ohne Durchführung eines Vorverfahrens für zulässig erachtet, weil die Beklagte erklärt habe, sie werde das Vorverfahren nicht nachholen, und weil damit dessen negatives Ergebnis bereits feststehe. Sachlich habe die Beklagte zwar von einem JAV von 23.458,- DM ausgehen dürfen; wegen der bindenden Wirkung der einen Widerrufsvorbehalt in bezug auf den JAV nicht enthaltenden Verletztengeldabrechnungen für die Zeit bis zum 21. Mai 1973 fehle es aber an der Rückforderungsvoraussetzung "zu Unrecht gewährter Leistungen".
Gegen das der Klägerin am 24. April und der Beklagten am 26. April 1977 zugestellte Urteil hat allein die Beklagte am 23. Mai 1977 die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie wendet sich gegen die ihr untersagte Rückforderung, beanstandet insoweit das Fehlen des Vorverfahrens und hält die Rückforderung sachlich in vollem Umfang für gerechtfertigt, weil die Überzahlung auf unzutreffenden Angaben der Klägerin beruht habe und die Verletztengeldabrechnungen einen generell zu verstehenden Widerrufsvorbehalt enthalten hätten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Marburg vom 4. November 1975 zurückzuweisen;
hilfsweise,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts, soweit es die Rückforderung betrifft, aufzuheben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie schließt sich dem Hilfsantrag der Beklagten an und ist der Auffassung, die Voraussetzungen eines Rückforderungsanspruchs seien hier nicht gegeben.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung ergeht gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
Die gemäß §§ 160, 164 und 166 SGG zulässige Revision ist im Sinne des Hilfsantrags der Beklagten begründet.
Streitig ist unter den Beteiligten im Revisionsverfahren nur noch die Befugnis der Beklagten, die in ihrem Bescheid vom 28. November 1973 festgestellte Überzahlung von 4.534,02 DM von der Klägerin zurückzufordern. Nur insoweit ist nämlich auf die Berufung der Klägerin das klageabweisende Urteil des SG zu ihren Gunsten abgeändert worden und die Beklagte dadurch beschwert. Gegenstand der Prüfung durch das Revisionsgericht ist demnach nur noch der im Bescheid der Beklagten vom 28. November 1973 enthaltene Verwaltungsakt der Rückforderung. Die Festsetzung der Höhe des JAV durch die angefochtenen Bescheide ist dagegen ebenso bindend geworden wie die Feststellung des überzahlten Betrages und der MdE-Höhe. Denn das LSG hat die Berufung der Klägerin "im übrigen" - also wegen des über die Aufhebung der Rückforderung hinausgehenden Begehrens - zurückgewiesen, und die Klägerin hat gegen diese Entscheidung die zugelassene Revision nicht eingelegt. Damit ist über die weitergehenden, selbständigen Ansprüche der Klägerin rechtskräftig zu ihren Ungunsten entschieden.
Bei einer zugelassenen Revision ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) von Amts wegen zu prüfen, ob die Grundlagen, die die Wirksamkeit des Verfahrens als Ganzes betreffen, in Ordnung sind, ob also die unerläßlichen Prozeßvoraussetzungen vorliegen (vgl BSGE 2, 225; 3, 227; 8, 3, 9). Deshalb kann im vorliegenden Fall offenbleiben, ob die Beklagte gegen das Verbot des venire contra factum proprium verstoßen hat, weil sie zunächst die Durchführung eines Vorverfahrens abgelehnt, aber dann mit der Revision das fehlende Vorverfahren bemängelt hat, nachdem das Urteil des LSG insoweit zu ihrem Nachteil ergangen war. Das Vorverfahren gehört zu den unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen; sein Fehlen ist auch ohne Rüge eines Beteiligten von Amts wegen zu beachten. Im vorliegenden Fall, in dem die angefochtenen Bescheide noch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 (BGBl I S 1695) erteilt wurden, richtet sich die Vorverfahrenspflicht nach den vor dem 1. Januar 1975 geltenden Bestimmungen (vgl Art 3 des eben genannten Gesetzes). Im Gegensatz zum neuen Verfahrensrecht war nach der früheren Regelung die Vorverfahrenspflicht nur in den gesetzlich ausdrücklich festgelegten Fällen vorgesehen (§ 78 SGG aF). § 79 Nr 1 SGG aF sah ein Vorverfahren vor, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt wurde, der nicht eine Leistung betraf, auf die ein Rechtsanspruch bestand. Nach der Rechtsprechung des BSG gehörten zu den Verwaltungsakten, die nicht eine Leistung betrafen, auf die ein Rechtsanspruch bestand, nicht nur alle Verwaltungsakte über Ermessensleistungen, sondern alle Verwaltungsakte, die eine Ermessensentscheidung zum Inhalt hatten (BSGE 3, 209, 215; 7, 292, 293; 15, 161, 165). Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Denn § 628 der Reichsversicherungsordnung (RVO) stellt die Rückforderung in das Ermessen des Versicherungsträgers (vgl BSG in SozR Nr 12 zu § 79 SGG).
Steht somit fest, daß es sich um eine vorverfahrenspflichtige Sache gehandelt hat, und ist die Durchführung des Vorverfahrens als Sachurteilsvoraussetzung von Amts wegen zu beachten, so kann dieser Voraussetzung nicht dadurch genügt werden, daß aus einem bestimmten Verhalten des Versicherungsträgers möglicherweise die Schlußfolgerung gerechtfertigt erscheint, das Widerspruchsverfahren werde kein anderes Ergebnis haben als das vorangegangene Verwaltungsverfahren. Denn die Widerspruchsentscheidung wird nicht von der Beklagten selbst, sondern - nach § 85 Abs 2 Nr 2 SGG aF - durch eine von ihrer Vertreterversammlung bestimmte Stelle getroffen, deren Entscheidung die Beklagte nicht vorwegzunehmen vermag.
Das fehlende Vorverfahren kann noch während des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (vgl BSGE 8, 3, 10; 20, 199, 201). Hierzu ist den Beteiligten durch Zurückverweisung der Sache an die Berufungsinstanz Gelegenheit zu geben. Erst nach Durchführung des erforderlichen Vorverfahrens wird das LSG darüber befinden können, ob hier die Voraussetzungen der Rückforderung gegeben sind.
Die Kostenentscheidung bleibt der dem Rechtsstreit in der Sache abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen