Leitsatz (redaktionell)
1. Unzulässig ist die Klage gegen den Zweitbescheid eines Unfallversicherungsträger, der ohne erneute Prüfung einen früheren in Rechtskraft erwachsenen Bescheid lediglich und in der Absicht wiederholt, den Rechtszug erneut zu eröffnen, auch wenn der Unfallversicherungsträger auf die Bindung an die Rechtskraftwirkung des Erstbescheides ausdrücklich verzichtet.
2. Wurde gegen einen Bescheid Klage erhoben, der Rechtsstreit jedoch durch Klagerücknahme beendet, so erlangt der Bescheid eine Bestandskraft, die der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandt ist; durch Erteilung eines inhaltsgleichen Zweitbescheides kann der Rechtsweg nicht erneut eröffnet werden.
3. Die Rücknahme fehlerhafter Rentenbescheide, die aufgrund eines ordnungsgemäß geregelten Verwaltungsverfahrens durch förmliche Festsetzung ergangen sind, ist im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung abschließend im Gesetz geregelt; insoweit gelten die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts nicht.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts für das Saarland vom 15. Dezember 1967 und des Sozialgerichts für das Saarland vom 6. Juli 1965 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 15. Februar 1960 bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von V in Frankreich einen Schlüsselbeinbruch, als er sich auf dem Wege von seinem Wohnort S nach P befand. Er war Angestellter der Firma Privat-T-G mbH in S und von dieser an die T und N GmbH in F zur Leitung der Installation einer Telefonanlage in P abgestellt worden. Seit Mai 1958 hielt er sich überwiegend in P auf und fuhr regelmäßig am Wochenende und am Wochenanfang, meist im Zusammenhang mit Fahrten zur Familie, zu Rücksprachen nach F und S. Die Telefonanlage wurde im Dezember 1959 fertiggestellt; der Kläger war anschließend noch mit Abrechnungs- und Abwicklungsarbeiten befaßt.
Nachdem sich der französische Sozialversicherungsträger als nicht zuständig bezeichnet hatte, lehnte die Beklagte die Gewährung einer Unfallrente durch Bescheid vom 13. September 1961 mit der Begründung ab, der Kläger sei vom 1. Mai 1958 an als Montageleiter in P tätig gewesen und habe dort bis zur Fertigstellung der Anlage am 31. März 1961 (richtig: 1960) verbleiben sollen; im Unfallzeitpunkt habe er nicht mehr unter dem Schutz der deutschen Unfallversicherung (UV) gestanden, da die Auslandstätigkeit mehr als sechs Monate gedauert habe und deshalb nicht als nur geringfügig oder vorübergehend anzusehen sei.
Die hiergegen beim Sozialgericht (SG) für das Saarland erhobene Klage nahm der Kläger am 6. Februar 1962 zurück.
Nachdem Bemühungen der Firma T und N GmbH, eine Entschädigung für den Kläger aus der französischen UV zu erreichen, gescheitert waren, erteilte auf Anregung dieses Unternehmens die Beklagte am 13. April 1962 dem Kläger einen neuen, mit dem voraufgegangenen wörtlich übereinstimmenden Bescheid, der den Zusatz enthielt: "Die Berufsgenossenschaft verzichtet hiermit ausdrücklich auf die bindende Wirkung des am 13.9.1961 ergangenen Bescheides."
Das SG hat die Beklagte, dem Antrag des Klägers folgend, zur Entschädigungsleistung dem Grunde nach verurteilt und zur Begründung insbesondere ausgeführt, der Versicherungsschutz sei unter Anwendung der Ausstrahlungstheorie noch gegeben, zumal da der Kläger seinen Auslandsaufenthalt durch häufige Fahrten nach Deutschland unterbrochen habe (Urteil vom 6. Juli 1965). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 15. Dezember 1967). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Befugnis der Beklagten, den zweiten Bescheid vom 13. April 1962 zu erlassen, stehe nicht entgegen, daß der gleichlautende frühere Bescheid vom 13. September 1961 bindend geworden sei; denn der zweite Bescheid habe den Kläger nicht weiter belastet als der frühere Verwaltungsakt, und die Beklagte habe den zweiten Bescheid erlassen, um den Rechtsweg neu zu eröffnen (Hinweis auf BSG 18, 22). Der Anspruch des Klägers sei begründet, da die Montagearbeiten in P bereits im Dezember 1959 im wesentlichen beendet worden seien und der Beschäftigungsort des Klägers in der Folgezeit etwa zu gleichen Teilen im Inland und im Ausland gelegen habe. Die im Unfallversicherungsrecht entwickelte Ausstrahlungstheorie gelte nur, s fern nicht in internationalen Verträgen spezielle Regelungen getroffen worden seien. Dies sei im Verhältnis zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland bzw. dem Saarland der Fall. Welche zwischenstaatlichen Rechtsnormen im einzelnen hier anwendbar seien, könne dahingestellt bleiben; da sich der Kläger im Unfallzeitpunkt seit dem 17. Dezember 1959 erst weniger als sechs Monate in Frankreich aufgehalten habe, sei der Unfallversicherungsschutz in jedem Falle nach deutschem Recht gegeben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und zur Begründung vorgetragen: Bei dem in diesem Verfahren angefochtenen Bescheid vom 13. April 1962 handele es sich nicht um einen nach § 619 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes geltenden Fassung (aF) ergangenen Zugunstenbescheid, sondern um die bloße Wiederholung der am 13. September 1961 getroffenen Regelung. Hierdurch könne der Klageweg nicht neu eröffnet werden. Der Verzicht auf die Bindungswirkung sei wirkungslos. Wegen der Bindung der Beteiligten an die im Erstbescheid getroffene Regelung sei die Klage unbegründet. Könne man den Zweitbescheid vollinhaltlich überprüfen, so müsse er entgegen der Ansicht der Vorinstanzen als rechtmäßig angesehen werden. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß der Kläger nach dem 17. Dezember 1959 seinen Beschäftigungsort teilweise im Inland gehabt habe. Ein rechtlich wesentlicher Unterschied in den Verhältnissen vor und nach diesem Tage habe nicht bestanden; der Kläger sei nach wie vor der verantwortliche Montageleiter für das bis Ende März 1960 in P laufende Projekt gewesen. Die Beschäftigung müsse durchgehend als gleichartig angesehen werden. Auch wenn ein kurzfristiger Wechsel zwischen Beschäftigungsorten im Inland (F, S) und im Ausland (P) stattfinde, beginne die Ausstrahlungsfrist beim jeweiligen Inlandsaufenthalt nicht von neuem.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend und meint, die Bindungswirkung des Erstbescheides vom 13. September 1961 habe die Beklagte nicht am Erlaß des zweiten - gleichlautenden - Bescheides gehindert. Selbst wenn diesem Bescheid die Bindungswirkung des Erstbescheides entgegenstehe, könne die Beklagte sich nicht erst im revisionsgerichtlichen Verfahren hierauf berufen. Dieses Verhalten sei arglistig. In der Sache habe das LSG aufgrund der getroffenen Feststellungen zutreffend wechselnde Beschäftigungsorte für die Zeit nach dem 17. Dezember 1959 angenommen. Die einzelnen Auslandsaufenthalte hätten den Zeitraum von sechs Monaten nicht überschritten, so daß der Kläger am Unfalltage nach den Vorschriften der RVO unter Versicherungsschutz gestanden habe.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits kommt es - wie das LSG bereits insoweit zutreffend ausgeführt hat - darauf an, ob die Beklagte durch den Bescheid vom 13. April 1962 den Rechtsweg für eine gerichtliche Entscheidung über die durch den Bescheid vom 13. September 1961 abgelehnten Entschädigungsansprüche des Klägers wieder eröffnen konnte. Das LSG hat diese Frage bejaht. Dem pflichtet der erkennende Senat nicht bei.
Die vom Kläger erhobene zusammengefaßte Aufhebungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist unzulässig. Ihr steht entgegen, daß über den Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung für die Folgen des Unfalls, den der Kläger am 15. Februar 1960 in Frankreich erlitten hat, bereits bindend entschieden worden ist. Die endgültige Wirkung dieser Regelung (vgl. Entwurf einer Sozialgerichtsordnung, BT-Drucks. 4357 S. 26 - Begründung zu § 26) konnte die Beklagte durch den ohne neue sachliche Prüfung ergangenen Bescheid vom 13. April 1962 nicht beseitigen.
Die Ablehnung der Entschädigungsansprüche des Klägers durch Bescheid vom 13. September 1961 hat mit der Rücknahme der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage in dem früheren Verfahren (S 2 U 4/62) vor dem SG nach § 102 Satz 2 i. V. m. § 77 SGG eine Bestandskraft erlangt, die der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandt ist (BSG 18, 84, 89 mit Nachweisen). Der Bescheid vom 13. September 1961 ist in einem ordnungsgemäß geregelten Verwaltungsverfahren durch eine förmliche Feststellung der Beklagten ergangen. Seine Aufhebung und Ersetzung durch den inhaltsgleichen Bescheid vom 13. April 1962 können nicht auf die sog. anerkannten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts gestützt werden. Bereits in seiner Entscheidung vom 30. Oktober 1962 (BSG 18, 84) hat der erkennende Senat ausgeführt, daß die Rücknahme fehlerhafter Rentenbescheide, die aufgrund eines ordnungsgemäß geregelten Verwaltungsverfahrens durch förmliche Feststellung ergangen sind, im Recht der gesetzlichen UV abschließend gesetzlich geregelt und somit nur nach Maßgabe der in §§ 608, 619, 1744 RVO aF (jetzt §§ 622, 627, 1744 RVO) getroffenen Sonderregelungen zulässig ist (BSG 18, 90). Diese Entscheidung betraf zwar die Zulässigkeit der Rücknahme eines fehlerhaften Bescheides. Die hierbei für die Beschränkung der Rücknahme auf die gesetzlich geregelten Fälle maßgebenden Grundsätze gelten jedoch allgemein für die Rücknahme förmlich erlassener Rentenbescheide auf dem Gebiet der gesetzlichen UV mit der Folge, daß deren Rechtsbeständigkeit der Leistungsklage entgegensteht. Die endgültige Wirkung, die dem Leistungsbescheid im Interesse der Rechtssicherheit beigelegt ist, schließt es aus, den Gegenstand der verbindlichen Entscheidung und die der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandte Bestandskraft in der Weise zur Disposition des Versicherungsträgers zu stellen, daß der von diesem erklärte Verzicht auf die Bindungswirkung den Rechtszug wieder eröffnet (vgl. BSG 13, 181, 187 mit Nachweisen; 19, 38, 41). Bereits in der in BSG 13, 181 ff veröffentlichten Entscheidung hat der erkennende Senat ein ausreichendes Bedürfnis, dem abschlägig beschiedenen Versicherten durch einen Verzicht auf die Rechtskraft den Rechtszug wieder zu eröffnen, nicht anerkannt. An dieser Auffassung hält der Senat nach Überprüfung wegen der für das Gebiet der gesetzlichen UV geltenden Sonderregelungen (§§ 622, 627, 1744 RVO) fest. Sie steht nicht im Widerspruch zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1969 (2 BvR 23/65 - BVerfGE 27, 297); diese Entscheidung betrifft den Fall der Ablehnung des Zweitbescheides im Bereich des Wiedergutmachungsrechts und äußert sich demgemäß zu einer Problematik, welche für den Bereich der gesetzlichen UV durch § 627 RVO (früher § 619 RVO aF) geregelt ist (vgl. BSG 19, 38, 42). Die Ansicht von Böhme (BG 1964, 279, 281 ff), nach der für diesen Bereich die Erteilung eines Zweitbescheides allein zu dem Zweck, den Rechtsweg erneut zu eröffnen, zulässig sein soll, verkennt die besondere Rechtslage auf dem Gebiet der gesetzlichen UV, das durch die umfassende Regelung der Voraussetzungen für die Durchbrechung der Bestandskraft eines Leistungsbescheides geprägt ist (vgl. BSG 18, 84, 89), und wird zudem der verfassungsrechtlich festgelegten Aufgabenverteilung zwischen den Trägern der Sozialversicherung und den Gerichten nicht gerecht (vgl. Art. 92 GG; Beuster DVZ 1960, 188).
Der Auffassung des erkennenden Senats, daß der Träger der gesetzlichen UV den Rechtszug nicht durch den Verzicht auf die Bindungswirkung eines bestandskräftigen Leistungsbescheides wieder eröffnen kann, steht die vom LSG zur Begründung seiner Rechtsansicht angeführte Entscheidung des 10. Senats des Bundessozialgerichts vom 21. September 1962 (BSG 18, 22) nicht entgegen. Abgesehen davon, daß diese Entscheidung für das Gebiet der Kriegsopferversorgung ergangen ist und wegen der für den Bereich der gesetzlichen UV bestehenden Besonderheiten eine Rechtsähnlichkeit nicht besteht, läßt auch der 10. Senat keinen Zweifel daran, daß der Rechtsweg nach einem bindend gewordenen Verwaltungsakt nur durch eine nach erneuter Prüfung ergangene neue sachliche Verfügung eröffnet werden kann; Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist auch nach der Auffassung des 10. Senats lediglich die mit dem neuen Verwaltungsakt getroffene Regelung.
Im vorliegenden Fall hat die Beklagte den angefochtenen Bescheid vom 13. April 1962, wie seine Form, sein Inhalt und die Umstände seines Zustandekommens eindeutig ergeben, allein zu dem Zweck erlassen, die Wirkung der Klagerücknahme zu beseitigen und dem Kläger den Rechtsweg für eine gerichtliche Entscheidung über die bereits bindend abgelehnten Entschädigungsansprüche wieder zu eröffnen. Ohne erneute Prüfung hat sie den früheren Bescheid lediglich wiederholt. Da der hierbei ausgesprochene Verzicht auf die bindende Wirkung des am 13. September 1961 ergangenen Bescheides unwirksam ist (vgl. BSG 13, 183, 185) und ein besonderes Rechtsschutzinteresse für die Klage gegen den neuen Bescheid vom 13. April 1962 nicht besteht (BSG 13, 188 f), ist die Klage unzulässig. Auf dieses Ergebnis ist der Umstand ohne Einfluß, daß die Beklagte erst mit der Revision geltend gemacht hat, sie habe die mit der Erteilung des zweiten Bescheides zugunsten des Klägers beabsichtigte Wiedereröffnung des Rechtsweges aus rechtlichen Gründen nicht erreichen können. Denn die Unzulässigkeit der Klage hat das Gericht von Amts wegen zu beachten. Überdies hat die Beklagte die Revision nicht nur auf die Bindungswirkung des ersten Bescheides, sondern auch darauf gestützt, daß die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des vom Kläger erhobenen Entschädigungsanspruchs nicht gegeben seien.
Die Urteile der Vorinstanzen, welche in der Sache entschieden haben, waren daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen