Leitsatz (amtlich)

Leistungen, die ein Träger der gesetzlichen UV auf Grund eines nach SGG § 77 für ihn in der Sache bindenden Verwaltungsakts gewährt hat, sind nicht "zu Unrecht" gezahlt und können deshalb nicht zurückgefordert werden (RVO § 620 aF, RVO § 628 nF).

 

Orientierungssatz

1. Aus der Regelung, daß die Bindung eines zuungunsten des Versicherten ergangenen Bescheides grundsätzlich durchbrochen werden darf (RVO § 619 aF, RVO § 627 nF), läßt sich nicht eine entsprechende Befugnis des Versicherungsträgers für Bescheide herleiten, die zugunsten des Versicherten ergangen sind.

2. Die formlose Mitteilung über die Rentenumstellung nach dem VUVNG vom 1957-07-27 stellt einen begünstigenden Verwaltungsakt dar, dem eine der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandte Bestandskraft zukommt.

 

Normenkette

RVO § 620 Fassung: 1928-03-29, § 619 Fassung: 1924-12-15, § 627 Fassung: 1957-10-09, § 628 Fassung: 1942-08-20; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; VUVNG Fassung: 1957-07-27

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Oktober 1962 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Beklagte gewährte der Klägerin, die am 28. Februar 1947 von einem Arbeitsunfall betroffen worden war, durch Bescheid vom 22. Februar 1949 die Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 66 2/3 v. H.; der Rentenberechnung lag ein Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 3192,24 DM zugrunde. Die Rente wurde vom 1. Juni 1949 an nach den Vorschriften des Gesetzes über Verbesserungen der gesetzlichen Unfallversicherung (UVVG) vom 10. August 1949 (WiGBl S 251) erhöht; nach § 2 dieses Gesetzes wurde ein Vergleichs-JAV von 3681,76 DM berücksichtigt. Nach dem Gesetz zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 27. Juli 1957 ( NeuberechnungsG UV) - BGBl I 1071 - stellte der Beklagte die der Klägerin zu gewährende Rente um, indem er den JAV von 3681,76 DM mit dem für das Unfalljahr 1947 tabellenmäßig festgesetzten Faktor 2,4 vervielfältigte (§ 2 Abs. 1 NeuberechnungsG UV); daraufhin erhielt die Klägerin, deren unfallbedingte MdE inzwischen auf 50 v. H. herabgesetzt worden war, vom 1. Januar 1957 an eine monatliche Rente von 245,40 DM. Dies teilte der Beklagte der Klägerin durch Schreiben vom 22. August 1957 mit.

Wegen wesentlicher Besserung der Unfallfolgen setzte der Beklagte durch Bescheid vom 25. März 1960 die Rente vom 1. Mai 1960 an auf eine Teilrente von 40 v. H. herab. Gleichzeitig "berichtigte" er den der Umstellung der Rente nach dem NeuberechnungsG UV zugrunde gelegten JAV, weil dieser bei der Umstellung statt mit 3681,76 DM nur mit 3192,24 DM hätte berücksichtigt werden dürfen. In diesem Bescheid forderte der Beklagte die für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. April 1960 zuviel gezahlten Rentenbeträge von insgesamt 1304.- DM von der Klägerin zurück.

Die Klage gegen diesen Bescheid hatte insoweit keinen Erfolg, als sich die Klägerin gegen die Herabsetzung der Rente wandte. Soweit die Rückforderung der überzahlten Rente in Streit stand, behandelte der Beklagte die Klageschrift zunächst als Widerspruchsschrift und erließ am 26. September 1960 einen Bescheid nach § 85 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), durch den der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 25. März 1960, soweit dieser die Rückforderung des Betrages von 1304.- DM betrifft, zurückgewiesen wurde. Die Widerspruchsstelle berief sich für ihre Entscheidung auf den damals geltenden § 620 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Klage hiergegen hat in beiden Vorinstanzen zum Erfolg geführt. Das Sozialgericht (SG) Speyer hat durch Urteil vom 3. Mai 1961 unter Änderung des Bescheides des Beklagten vom 25. März 1960 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 1960 die Klägerin für nicht verpflichtet erklärt, den zuviel erhaltenen Rentenbetrag von 1304.- DM zurückzuzahlen. Es ist der Ansicht, das Rückforderungsrecht des Beklagten sei ausgeschlossen, weil die Klägerin beim Empfang der überhöhten Rente nicht gewußt habe, daß ihr Bezüge in der durch das Schreiben des Beklagten vom 22. August 1957 mitgeteilten Höhe nicht zugestanden hätten.

Das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 26. Oktober 1962, durch das die Berufung des Beklagten zurückgewiesen worden ist, enthält im wesentlichen folgende Begründung: Der Bescheid des Beklagten vom 22. August 1957 sei zwar fehlerhaft; bei der Umstellung der Rente nach dem NeuberechnungsG UV sei ein zu hoher JAV angenommen worden, weil § 4 dieses Gesetzes außer acht geblieben sei. Die Klägerin habe daher zugestandenermaßen eine zu hohe Rente im Gesamtbetrag von 1304.- DM erhalten. Ein Rückforderungsrecht auf diesen Betrag stehe dem Beklagten jedoch nicht zu; denn es handele sich um eine Leistung, die auf Grund eines bindend gewordenen Verwaltungsakts bewirkt worden sei. In einem solchen Falle sei der Rückforderungsanspruch gemäß § 620 RVO nur gegeben, wenn der fehlerhafte begünstigende Verwaltungsakt wirksam zurückgenommen worden sei. Ob der Beklagte die in seinem nach § 77 SGG bindend gewordenen Bescheid vom 22. August 1957 enthaltene Neuberechnung des JAV ändern, d. h. hinsichtlich des unrichtig ermittelten Betrages den Bescheid habe zurücknehmen dürfen, hänge davon ab, ob er sich insoweit von der Bindungswirkung des § 77 SGG befreien könne. Dies sei unter den gegebenen Umständen jedoch nicht möglich; die Handhabe des § 1744 RVO versage, weil die Klägerin für das Zustandekommen des unrichtigen Bescheides vom 22. August 1957 nicht verantwortlich gemacht werden könne. Aus dem gleichen Grunde sei auch unter Berücksichtigung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts die Rücknahme des angeführten Bescheides ausgeschlossen. Schließlich könne der fehlerhafte Bescheid auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Berichtigung einer "offenbaren Unrichtigkeit" beseitigt werden, und zwar schon deshalb nicht, weil der Fehler, der dem Beklagten beim Erlaß des Bescheides vom 22. August 1957 unterlaufen sei, nicht einer Unrichtigkeit i. S. eines Schreib- oder Rechenfehlers gleichgestellt werden könne.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist dem Beklagten am 28. November 1962 zugestellt worden. Er hat am 15. Dezember 1962 telegraphisch, außerdem am 21. Dezember 1962 schriftsätzlich Revision eingelegt und sie am 5. Januar 1963 abschließend begründet. Die Revision führt aus: Das LSG habe die Bindungswirkung des § 77 SGG verkannt. Es gehe nicht an, daß die Klägerin die ihr unstreitig nicht zustehenden Rententeile deshalb nicht zu Unrecht erhalten haben solle, weil der unrichtige Bescheid vom 22. August 1957 durch § 77 SGG bindend gewesen sei; materielles Unrecht dürfe auf einem formellen Weg nicht in "materielles Recht" verwandelt werden. Es dürfe auch nicht außer acht gelassen werden, daß § 620 RVO in einem "dogmatischen Zusammenhang" mit dem unmittelbar vorangehenden § 619 RVO zu sehen sei. Wie diese Vorschrift den Versicherungsträger verpflichte, trotz eingetretener Bindungswirkung nicht auf sachlich unrichtigen Bescheiden, die zum Nachteil des Versicherten ergangen seien, zu bestehen, sondern die dem Versicherten zustehende Leistung neu festzustellen, so müsse dem Versicherungsträger auch für den umgekehrten Fall, daß er einen für ihn nachteiligen Bescheid erlassen habe, grundsätzlich das Recht zustehen, diesen Bescheid zu korrigieren. Im übrigen werde bezweifelt, ob es sich bei der Mitteilung vom 22. August 1957 überhaupt um einen der Bindungswirkung fähigen Bescheid handeln könne.

Der Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Die Berufung des Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, zulässig.

Gegenstand der Klage sind der Bescheid des Beklagten vom 25. März 1960 und der Widerspruchsbescheid vom 26. September 1960. Durch den Bescheid vom 25. März 1960 "berichtigte" der Beklagte seine Mitteilung vom 22. August 1957 an die Klägerin über die Umstellung der Unfallrente nach dem NeuberechnungsG UV, weil die Umstellung irrtümlicherweise unter Berücksichtigung des Vergleichs-JAV statt des ursprünglich maßgebenden niedrigeren JAV vorgenommen worden sei; gleichzeitig forderte der Beklagte von der Klägerin die daraufhin zuviel gezahlten Beträge von insgesamt 1304.- DM zurück. Hierdurch ist die Klägerin beschwert. Die Voraussetzungen, unter denen nach § 54 Abs. 1 SGG die Aufhebung des ergangenen Verwaltungsaktes begehrt werden kann, sind gegeben. Die Klage auf Aufhebung des durch den Widerspruchsbescheid vom 26. September 1960 verdeutlichten Bescheides vom 25. März 1960 ist daher, nachdem das gemäß § 79 Nr. 1 SGG erforderliche Vorverfahren stattgefunden hat, zulässig (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 6. Aufl., Bd II S 604 a mit weiteren Nachweisungen).

Der Klageanspruch ist auch begründet. Die Auffassung des LSG, der streitige Betrag von 1304.- DM sei an die Klägerin nicht zu Unrecht gezahlt worden, weil ihn der Beklagte auf Grund eines nach § 77 SGG bindenden Verwaltungsaktes geleistet habe, ist frei von Rechtsirrtum. Zwar ist die nach dem NeuberechnungsG UV umgestellte Rente unzutreffend berechnet worden. Nach §§ 2 Abs. 1 und 4 dieses Gesetzes hätte der für das hier in Frage stehende Unfalljahr 1947 maßgebende Tabellenfaktor 2,4 mit dem JAV vervielfältigt werden müssen, welcher der Feststellung der Dauerrente im Februar 1949 zugrunde gelegt worden war. Der Beklagte hat aber diese unrichtig berechnete Rente "festgestellt" und dies der Klägerin durch das Schreiben vom 22. August 1957 mitgeteilt. Mit dieser Leistungsfeststellung hat der Beklagte zugleich einen Einzelfall auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts geregelt und einen begünstigenden fehlerhaften Verwaltungsakt gesetzt. Dieser Verwaltungsakt, der jedenfalls beim Erlaß des Änderungsbescheides vom 25. März 1960 unanfechtbar geworden war (§ 66 SGG), ist für den Beklagten nach § 77 SGG in der Sache bindend geworden.

Wie der Senat in seinem Urteil vom 30. Oktober 1962 (BSG 18, 84, 88, 89), auf das insoweit im einzelnen verwiesen wird, unter Anführung zahlreicher Nachweisungen dargelegt hat, kommt Leistungsbescheiden auch nach dem Inkrafttreten des SGG eine der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandte Bestandskraft zu. Bei der Mitteilung vom 22. August 1957, die ohne Zweifel einen Leistungsbescheid darstellt, handelt es sich allerdings nicht wie in jenem Streitfalle um einen förmlichen Bescheid. Gleichwohl konnte es wie in jenem so auch im vorliegenden Rechtsstreit dahingestellt bleiben, ob die Rechtsbeständigkeit i. S. des § 77 SGG auch solchen Verwaltungsakten zukommt, die nicht auf Grund des im 6. Buch der RVO vorgeschriebenen besonderen Verwaltungsverfahrens ergangen sind. Denn die in Streit befangene Mitteilung des Beklagten an die Klägerin ist verfahrensrechtlich einem den Formerfordernissen der §§ 1569 a, 1583 RVO entsprechenden schriftlichen Bescheid gleichzustellen. Sie betraf eine durch die Neuregelung der Geldleistungen auf gesetzlicher Grundlage bedingte Änderung der Verhältnisse, welche für die Feststellung der Entschädigung maßgebend gewesen sind (§ 608 RVO aF; § 622 Abs. 1 RVO nF; RVA in EuM 31, 237; BSG SozR SGG § 215 Bl. Da 13 Nr. 40 und § 145 Bl. Da 1 Nr. 1). Nach §§ 1569 a Abs. 1 Nr. 2 und 1583 Abs. 1 RVO hat eine förmliche Feststellung durch Erteilung eines schriftlichen Bescheides zu ergehen, wenn es sich u. a. um eine Rentenänderung handelt. Grundsätzlich müßte daher auch die Umstellung der Rente nach dem NeuberechnungsG UV förmlich erfolgen. Der Gesetzgeber hat jedoch durch § 10 NeuberechnungsG UV den Versicherungsträgern im Interesse der Vereinfachung der Verwaltungsarbeit eingeräumt, daß sie dieses Formerfordernis nur noch zu beachten haben, wenn der Berechtigte die Erteilung eines schriftlichen Bescheides über die Umstellung und Neuberechnung der Geldleistung beantragt (vgl. Linthe, Die neuen Geldleistungen der Unfallversicherung, S. 41 Anm. 1 zu § 10 aaO). Bei einer solchen den Bedürfnissen der Praxis Rechnung tragenden gesetzlichen Regelung kann es nach Auffassung des erkennenden Senats für die Wirkung eines Umstellungs- und Neuberechnungsbescheides keinen Unterschied machen, ob er in Gestalt einer bloßen Mitteilung oder, weil vom Berechtigten beantragt, "förmlich" ergangen ist. Der in der Mitteilung vom 22. August 1957 liegende Leistungsbescheid des Beklagten hat sonach die durch § 77 SGG geschaffene Rechtsbeständigkeit erhalten.

Die in dem dargelegten Sinne endgültige Wirkung tritt nach § 77 SGG nur dann nicht ein, wenn das "Gesetz etwas anderes bestimmt". Eine hiernach mögliche Ausnahme von der Bindungswirkung des angeführten Bescheides hat das LSG jedoch nach Lage des Falles zu Recht hier nicht als gegeben erachtet. Seiner Auffassung, daß bei der Entscheidung, ob der in Streit befangene fehlerhafte Verwaltungsakt zurückgenommen werden darf, die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts zu berücksichtigen seien, ist freilich nicht zuzustimmen. Der Senat hat in dem angeführten Urteil vom 30. Oktober 1962 bereits ausgesprochen (BSG 18, 84, 90), daß diese Grundsätze - selbst wenn sie als "Gesetz" i. S. des § 77 SGG anzusehen wären - nicht anwendbar sind, weil für das hier in Frage kommende Rechtsgebiet der gesetzlichen UV die Rücknahme fehlerhafter Bescheide erschöpfend und abschließend durch besondere gesetzliche Vorschriften geregelt und daher für die Anwendung ungeschriebenen Rechts in Gestalt allgemeiner Grundsätze kein Raum ist. Fehlerhafte Bescheide eines Trägers der gesetzlichen UV dürfen nur in den durch das Gesetz besonders aufgeführten Fällen zurückgenommen werden (BSG 18, 84, 89, 90). Das LSG hat insoweit zutreffend § 1744 RVO, der die "Anfechtung endgültiger Bescheide der Versicherungsträger" regelt, als hierher gehörig erachtet; es hat die Anwendung dieser Vorschrift auf den vorliegenden Fall mit Recht verneint, weil, wie auch von dem Beklagten nicht in Zweifel gezogen wird, die Voraussetzungen für eine wirksame Anfechtung des Bescheides vom 22. August 1957 nicht gegeben sind. Der Fehler in der Rentenberechnung ist nach den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht auf Umstände zurückzuführen, die in den Verantwortungsbereich der Klägerin fallen. Die Revision hat insoweit auch keine Einwendungen erhoben. Eine sonstige gesetzliche Vorschrift, welche die Beseitigung eines bindend gewordenen, fehlerhaften, begünstigenden Leistungsbescheides auf dem Gebiete der gesetzlichen UV ermöglichen könnte, besteht nicht. Aus der Regelung, daß die Bindung eines zuungunsten des Versicherten ergangenen Bescheides grundsätzlich durchbrochen werden darf (RVO § 619 aF und § 627 nF), läßt sich entgegen der Ansicht der Revision nicht eine entsprechende Befugnis des Versicherungsträgers für Bescheide herleiten, die zugunsten des Versicherten ergangen sind. Die Revision verkennt insoweit, daß die Bindungswirkung eines der Leistungsgewährung zugrunde liegenden Verwaltungsaktes für den Leistungsempfänger ein selbständiges Recht schafft, das, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (z. B. § 1744 RVO), von der einseitigen Einwirkung des Versicherungsträgers nicht beeinträchtigt werden darf (vgl. BSG 18, 91).

Hiernach war der Beklagte an die Höhe der in seinem Bescheid vom 22. August 1957 festgestellten Dauerrente gebunden. Bei der Erfüllung seiner Leistungspflicht auf Grund dieses Bescheides durfte es sich für ihn nach Eintritt der Bindungswirkung nicht mehr um die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit um jeden Preis handeln, sondern der Beklagte mußte trotz der unrichtig festgestellten und der Klägerin bekanntgegebenen Rentenhöhe seinen Bescheid im Interesse der Rechtssicherheit ausführen (vgl. BVerfG 2, 380, 403; 7, 194, 196). Mit Rücksicht auf die Rechtsbeständigkeit des Leistungsbescheides vom 22. August 1957 und die Rechtssicherheit ist somit durch § 77 SGG die Rücknahme des fehlerhaften Bescheides ausgeschlossen. Demzufolge sind die Leistungen, welche der Beklagte auf Grund dieses Bescheides an die Klägerin bewirkt hat, in der seit dem 1. Januar 1957 gewährten Höhe nicht zu Unrecht gezahlt worden.

Diese Auffassung liegt schon einer Entscheidung des Reichsversicherungsamts vom 9. Dezember 1932 (EuM 33, 274) zugrunde. Der erkennende Senat schließt sich ihr an. Dem steht nicht der Umstand entgegen, daß die damals unter der Herrschaft der Verfahrensvorschriften der RVO ergangenen Rentenbescheide die Wirkung erstinstanzlicher Entscheidungen hatten. Da Leistungsbescheiden, wie oben unter Bezugnahme auf BSG 18, 89 ausgeführt ist, seit dem Inkrafttreten des SGG eine der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandte Bestandskraft zukommt, wohnt den Rentenbescheiden nach § 77 SGG keine geringere Bestandskraft inne. Die Auffassung, daß auf Grund eines bindenden Verwaltungsaktes gewährte Leistungen nicht zu Unrecht gezahlt worden sind, ist, soweit zu übersehen, im Schrifttum zu § 620 RVO aF wie auch zu § 628 RVO nF einhellig vertreten (vgl. Brackmann, aaO Bd II S. 604 mit weiteren Nachweisungen; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., S 168 b Anm. 4 zu § 622 RVO aF; Rohwer-Kahlmann, Kommentar zum SGG, S K 182 Randnote 18 zu § 77; Bereiter-Hahn, UV., 1963, S 135 Anm. 5 zu § 628; Haase/Koch, Die gesetzliche Unfallvers. 1963, S 157 Anm. 7 zu § 628; Gotzen/Doetsch, Kommentar zur UV., Anm. zu § 628).

Das LSG hat mit Recht auch keinen Grund für die Rücknahme des fraglichen Bescheides darin gesehen, daß die unzutreffende Rentenberechnung etwa auf einem Schreib- oder Rechenfehler oder einer ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit beruhe. Es konnte hierbei unentschieden bleiben, ob die Berichtigungsmöglichkeit i. S. des § 138 SGG nicht nur auf Urteile beschränkt, sondern auch für bindende Verwaltungsakte gegeben ist (vgl. BSG 15, 96 ff); denn jedenfalls liegt nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils (§ 163 SGG) eine solche Unrichtigkeit nicht vor. Das LSG hat allerdings nicht im einzelnen klargestellt, wie es bei der Rentenumstellung nach dem NeuberechnungsG UV zu der Berücksichtigung des Vergleichs-JAV und nicht des heranzuziehenden alten JAV gekommen war. Nach den Unterlagen ist jedoch kein zwingender Anhalt dafür ersichtlich, daß etwa eine Zahl nur falsch abgelesen worden sei oder der Fehler sich durch irgendeine Gedankenlosigkeit eingeschlichen habe. Der erkennende Senat ist der Ansicht, daß die Annahme des LSG, der Fehler beruhe auf einer unrichtigen tatsächlichen Feststellung oder einer irrtümlichen Anwendung des NeuberechnungsG UV, nicht zu beanstanden ist und daß es daher keiner weiteren Klärung des Sachverhalts bedarf, um zu einer abschließenden Entscheidung zu gelangen.

Hat nach alledem aber der Beklagte den zurückgeforderten Betrag von 1304.- DM "nicht zu Unrecht" an die Klägerin gezahlt, kann es dahingestellt bleiben, ob der vorliegende Streitfall nach dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) noch nach § 620 RVO aF zu beurteilen ist. Die entsprechende Vorschrift des § 628 RVO nF gilt zwar für Arbeitsunfälle, die vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten sind. Durch Satz 2 dieser Vorschrift ist gegenüber dem bisherigen Recht die Möglichkeit des Versicherungsträgers, überzahlte Leistungen zurückzufordern, auch eingeschränkt worden. Diese Regelung berührt jedoch, wie ihrer Entstehungsgeschichte zu entnehmen ist, nicht die Voraussetzungen, unter denen nach Satz 1 des § 628 RVO nF eine überzahlte Leistung überhaupt zurückgefordert werden kann. Insoweit sind, abgesehen von redaktionellen Änderungen, die Vorschriften alten und neuen Rechts vielmehr gleichgeblieben; Satz 2 des § 628 RVO nF bezieht sich nur auf den Fall, daß der Rückforderungsanspruch des Versicherungsträgers an sich begründet ist, nämlich wenn der Versicherungsträger die Leistung "vor rechtskräftiger Entscheidung zahlen mußte oder zu Unrecht gezahlt hat".

Die Vorinstanzen haben somit den Rückforderungsanspruch des Beklagten mit Recht verneint. Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2375233

BSGE, 223

NJW 1964, 1293

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