Leitsatz (amtlich)
BVG § 31 Abs 4 S 2, wonach Beschädigte mit Anspruch auf Pflegezulage als Schwerbeschädigte gelten, bedeutet nicht, daß damit auch die schädigungsbedingte MdE stets mindestens 50 % beträgt.
Leitsatz (redaktionell)
BVG § 31 Abs 4 S 2 betrifft nicht Einschätzung der MdE:
1. Der Vorstellung des Gesetzgebers ist dadurch genügt, daß die Schwerbeschädigten, die nach versorgungsrechtlichen Maßstäben allein die Marke der Schwerbeschädigung (BVG § 31 Abs 3 S 1) nicht erreichen oder überschreiten, aber hilflos iS des BVG § 35 Abs 1 sind (insbesondere Blinde, die zunächst kriegsbedingt ein Auge und dann kriegsunabhängig das 2. Auge verloren haben), eine Mindestversorgung erhalten, welche höher und umfangreicher ist als die Versorgung, die ihnen sonst auf Grund ihrer Kriegsversehrtheit zustände. Dagegen gebietet es die Norm des BVG § 31 Abs 4 S 2 nicht, daß der herkömmliche Maßstab der Bewertung von Erwerbsminderungen und sein Zusammenhang mit der versorgungsrechtlichen Ursachentheorie aufgegeben oder durchbrochen wird.
Sind - wie hier - zusätzlich zum Ausfall eines Auges weitere Kriegsleiden zu berücksichtigen und ist ein Gesamtwert der Leistungseinbuße zu bilden, dann ist hierfür nicht die erwähnte Vorschrift, sondern BVG § 30 (hier 60 vH nach BVG § 30 Abs 1) maßgebend. Für den Hilflosen, der bereits aufgrund der letztgenannten Vorschrift Schwerkriegsbeschädigter ist, kommt die Anwendung des BVG § 31 Abs 4 S 2 also nicht in Betracht.
2. BVG § 31 Abs 4 S 2 verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz (GG Art 3 Abs 1).
Normenkette
BVG § 31 Abs. 4 S. 2 Fassung: 1974-08-23; GG Art. 3 Abs. 1; BVG § 30 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.09.1976; Aktenzeichen L 10 V 10/76) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 05.02.1975; Aktenzeichen S 21 V 160/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. September 1976 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Anhebung der ihm gewährten Versorgungsleistungen. Er erhält wegen wehrdienstbedingten Verlustes des rechten Auges sowie 1) wegen Hautnarben im Bereich der Nasenwurzel, der Stirn, der rechten Wange und linken Halsseite nach Kopfverletzung mit Hirnbeteiligung, ferner 2) wegen Hautnarben an beiden Unterarmen und dem rechten Oberschenkel sowie 3) deformiert verheilten Speichenbruchs in der Gegend des linken Handgelenks mit Bewegungseinschränkung und Einschränkung der Unterarmdrehbewegung Versorgung entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v.H. (gemäß einem gerichtlichen Vergleich vom 17. September 1974). 1963 büßte der Kläger nach Erkrankung an grünem Star die Sehkraft auch des linken Auges ein. Wegen der durch seine Blindheit bedingten Hilflosigkeit wurde ihm im April 1970 Pflegezulage der Stufe III bewilligt.
Im Oktober 1974 beantragte er die Neufeststellung seines Versorgungsanspruchs und die Neueinschätzung seiner MdE auf mindestens 80 v.H. Dazu verwies er auf die mit dem 6. Anpassungsgesetz KOV (AnpG-KOV) vom 23. August 1974 (Art 1 Nr 8 b - BGBl, 2069) geschaffene Vorschrift des § 31 Abs 4 Satz 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG), wonach Beschädigten mit Anspruch auf Pflegezulage mindestens eine Versorgung nach einer MdE um 50 v.H. zusteht. Berücksichtige man dies - so der Kläger - und stelle man in Rechnung, daß seine Erwerbsfähigkeit unabhängig von dem zur Pflegezulage führenden Ausfall des Augenlichts bereits um 30 v.H. eingeschränkt sei, dann erscheine sein Verlangen gerechtfertigt.
Das Versorgungsamt hat die begehrte Neufeststellung abgelehnt (Bescheid vom 3. September 1975). Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SGG - Dortmund vom 5. Februar 1976; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. September 1976). Nach Ansicht des Berufungsgerichts ergeben Wortlaut und die aus den Gesetzesmaterialien ersichtliche Absicht des Gesetzgebers, daß mit den Schwerbeschädigten lediglich diejenigen Pflegezulageberechtigten gleichgestellt sein sollen, deren Kriegsleiden allein noch nicht eine Erwerbseinschränkung von 50 v.H. ausmacht. Diese Gleichstellung bedeute nicht schlecht hin eine Verstärkung des Grades der MdE. Der Umstand, daß leichter verletzte Kriegsbeschädigte deshalb, weil ihnen eine Pflegezulage zustehe, in den Genuß solcher Rechtsvorteile kämen, die an sich nur Schwerbeschädigte hätten, verletzte den Gleichheitssatz nicht. Vielmehr habe sich der Gesetzgeber in vertretbarer Weise des schweren Schicksals einer bestimmten Gruppe von Pflegezulageberechtigten angenommen.
Der Kläger hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er vertritt die Ansicht, die Deutung, welche das LSG dem § 31 Abs 4 Satz 2 BVG gegeben habe, könne nicht richtig sein. Sie führe zu einer unverständlichen Konsequenz. Wäre diese Deutung zutreffend, dann käme es für die Höhe der MdE auf den Zeitpunkt an, zu dem weitere Schädigungsfolgen anerkannt würden; wären zB die zusätzlichen Kriegsverletzungen des Klägers nicht zugleich mit dem Verlust der Sehkraft eines Auges, sondern erst später nach dem Inkrafttreten des 6. AnpG-KOV festgestellt worden, dann hätte der Ausgangspunkt 50 v.H. der Erwerbsbehinderung betragen; ihm hätte die Bewertung der nachträglich bestätigten Befunde hinzugerechnet werden müssen. Die Interpretation durch das Berufungsgericht führe mithin zu einer unterschiedlichen Behandlung gleich schwer Betroffener.
Der Kläger beantragt,
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die vorinstanzlichen Urteile und den angefochtenen Bescheid aufzuheben sowie den Beklagten zur Gewährung einer Rente nach einer MdE von mindestens 80 v.H., beginnend mit dem 1. Oktober 1974, zu verurteilen. |
Der Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
Er hält den Überlegungen der Revision entgegen, daß § 31 Abs 4 Satz 2 BVG gar nicht die Bewertung der MdE betreffe. Diese Regelung sei vielmehr in § 30 BVG enthalten. Dagegen habe die hier zu behandelnde Vorschrift lediglich für einen bestimmten Berechtigtenkreis die Garantie einer Mindestversorgung nach einer MdE von 50 v.H. zum Inhalt.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Der Klaganspruch ist nicht auf § 31 Abs 4 Satz 2 BVG zu stützen. Diese Vorschrift betrifft nicht die Einschätzung des Grades, um den die Erwerbsfähigkeit eines Beschädigten gemindert ist. Vielmehr wird diese Einschätzung anderen gesetzlichen Bestimmungen gemäß, insbesondere nach dem § 30 BVG, vorgenommen und durch die Regelung des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG nicht berührt. Das Gesetz bringt dies dadurch zum Ausdruck, daß es "Beschädigte", die Anspruch auf Pflegezulage haben, "als Schwerbeschädigte gelten" läßt; es ordnet also nicht an, daß solche Beschädigte auch Schwerbeschädigte seien. Sie sind hingegen - in Durchbrechung der Regel und lediglich unter gewissen Zweckgesichtspunkten - als solche anzusehen. Die gesetzliche Anordnung geht von der Ungleichheit zweier Tatbestände aus - das ist entweder die Erwerbsbehinderung von 50 v.H. (und mehr) oder die Erwerbseinschränkung unter 50 v.H. bei einem Pflegezulageberechtigten -; diese Tatbestände werden um der von dem Gesetz gewünschten Rechtsfolgen willen in bestimmter Hinsicht auf eine Stufe gestellt. Die beabsichtigte Rechtsfolge ist einmal im zweiten Halbsatz des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG ausgesprochen, nämlich, daß die Beschädigten, denen Pflegezulage zusteht, mindestens eine Versorgung nach einer MdE um 50 v.H. erhalten. Zum anderen geben die Gesetzesmaterialien das Ziel des Gesetzes wieder; die hilflosen Beschädigten, "deren schädigungsbedingte MdE weniger als 50 v.H. beträgt", sollen in den Genuß verschiedener Versorgungsleistungen kommen, die nur Schwerbeschädigte erhalten können. Dafür werden in der Regierungsbegründung zum 6. AnpG-KOV (BT-Drucks. 7/2121 S 8) als Beispiele der Berufsschadensausgleich und die Ausgleichsrente genannt. Die Gleichbehandlung unterschiedlicher Tatbestände geht aber nur so weit, wie es zur Erreichung des Gesetzeszweckes erforderlich ist. Der Vorstellung des Gesetzgebers ist dadurch genügt, daß die Schwerbeschädigten, welche nach versorgungsrechtlichen Maßstäben allein die Marke der Schwerbeschädigung (§ 31 Abs 3 Satz 1 BVG) nicht erreichen oder überschreiten, aber hilflos im Sinne des § 35 Abs 1 BVG sind, eine Mindestversorgung erhalten, welche höher und umfangreicher ist als die Versorgung, die ihnen sonst aufgrund ihrer Kriegsversehrtheit zustünde. Dagegen gebietet es die Norm des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG nicht, daß der herkömmliche Maßstab der Bewertung von Erwerbsbehinderungen und sein Zusammenhang mit der versorgungsrechtlichen Ursachentheorie aufgegeben oder durchbrochen wird.
Bei dieser Gesetzesgestaltung wurde gerade an Blinde gedacht (BT-Drucks. 7/2121, S 8), die unter solchen Umstände, für welche die versorgungsrechtliche Verantwortlichkeit zutrifft, zunächst ein Auge verloren haben und die dann infolge anderer Ursachen (zB durch Krankheit) das zweite Auge einbüßten. Nach der herkömmlichen Rechtsauffassung bemaß sich der Versorgungsanspruch solcher Blinder, wenn weitere Schädigungsfolgen nicht eingetreten und das zweite Auge in seiner Funktionsfähigkeit ursprünglich nicht beeinträchtigt worden war, nach einem Satz von 30 v.H. (Verwaltungsvorschrift Nr 4 zu § 30 BVG). Hierbei hatte es sein Bewenden. Daran hat auch der durch das 6. AnpG-KOV eingeführte § 31 Abs 4 Satz 2 BVG nichts geändert. Deshalb ist das Argument der Revision verfehlt, die hier vertretene Lösung führt zu unterschiedlichen Resultaten je nach dem, ob zusätzliche Schädigungsfolgen sofort mit dem Ausfall eines Auges oder erst später festgestellt würden. Die Revision geht von einer unrichtigen Erwägung aus. In jedem Fall wird das Maß der Erwerbsbehinderung in der gleichen Weise bewertet. Auf die Bemessung der MdE hat § 31 Abs 4 Satz 2 BVG keinen Einfluß. Sind - wie hier - zusätzlich zum Ausfall eines Auges weitere Kriegsleiden zu berücksichtigen und ist ein Gesamtwert der Leistungseinbuße zu bilden, dann ist hierfür nicht die erwähnte Vorschrift maßgebend. Diese Gesetzesbestimmung ist auf dem Hintergrund der im Versorgungsrecht herrschenden Kausalitätstheorie zu verstehen. Nach ihr ist zur Beurteilung der wehrdienstlichen Schädigungsfolgen und des Ausmaßes, um den die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist, auf diejenigen Gegebenheiten abzustellen, welche bei Eintritt des Schadensereignisses be- und entstanden. Mit dem Ende dieses Vorgangs ist die versorgungsrechtlich beachtliche Ursachenkette abgeschlossen (BSGE 41, 70, 71). Auswirkungen, die der Kriegsschaden nachher im Zusammentreffen mit anderen schädigungsunabhängigen Entwicklungen hat - sogenannte Nachschäden -, liegen außerhalb der rechtlich relevanten Einflußsphäre. Dieses Resultat ist nach der Kausalitätsnorm des Versorgungsrechts begriffsimmanent. Der daran geübten Kritik (vgl. BSGE 41, 72) hat der Gesetzgeber durch Milderung der Rechtsfolgen abgeholfen, indem er den Betroffenen die Rechtsstellung eines Schwerbeschädigten verschafft hat. Die traditionelle Kausalitätsauffassung hat er aber unangetastet gelassen, ja sogar indirekt bestätigt (BSGE 41, 75).
Diese Lösung verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 Grundgesetz - GG -). Die Revision erblickt den Verfassungsverstoß darin, daß die begünstigten Personen "allein schon" wegen des Opfers eines Auges wie ein um 50 v.H. Geschädigter behandelt werden, während bei dem Kläger in diese Schadensquote weitere Kriegsverletzungen einbezogen würden. Diese Überlegung trifft nicht genau den Kern und die Tragweite der beanstandeten Vorschrift. Der Schädigungsgrad wird - wie gesagt - von ihr nicht behandelt. Er wird in den von ihr erfaßten Fällen übereinstimmend mit der allgemeinen Regel ermittelt. Die durch § 31 Abs 4 Satz 2 BVG ermittelte Rechtswohltat, die der Kläger auch für sich in Anspruch nehmen möchte, besteht in einer Rechtsstellung, die er ohnehin innehat. Der darin für einzelne Beschädigte liegende Vorteil benachteiligt den Kläger nicht. Nur darf dieser - einem engeren Personenkreis aus Billigkeitsgründen zugedachte - Vorteil nicht verallgemeinert werden, weil andernfalls in die Struktur und das System versorgungsrechtlicher Normgestaltung eingegriffen würde. Dieses Ergebnis vermied der Gesetzgeber, indem er mit § 31 Abs 4 Satz 2 BVG eine Einzelregelung in die Gesamtkonzeption des BVG einfügte, die diese nicht sprengt. Ein gesetzgeberisches Vorgehen dieser Art ist nicht willkürlich, sondern sachgerecht. Infolgedessen ist es verfassungsrechtlich erlaubt, daß Tatbestände, die einander ähneln, gleichwohl in vertretbaren Grenzen unterschiedlich geregelt werden (BVerfGE 11, 283, 292; 310, 318 ff, 324; 27, 364, 371; 36, 383, 393 ff).
Deshalb hat die Vorinstanz richtig entschieden. Die Revision ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen