Entscheidungsstichwort (Thema)
Wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule für Gartenbau und Landeskultur. Überschreitung der vierjährigen Assistentenzeit
Leitsatz (redaktionell)
Die Assistentenzeit dient regelmäßig der wissenschaftlichen Ausbildung sowohl für den Beruf eines Hochschullehrers als auch für andere höhere Berufe. Ob eine wissenschaftliche Ausbildung vorliegt, kommt es nicht auf die Beweggründe und die Eignung des Beschäftigten sowie auf seine unter Umständen schwankenden zukünftigen Berufspläne an, entscheidend sind vielmehr die objektiv erkennbaren Merkmale, die der Tätigkeit zugrunde liegen und die ihr das Gepräge geben.
Orientierungssatz
Die Tätigkeit eines wissenschaftlichen Assistenten an einer Hochschule ist nach RVO § 172 Abs 1 Nr 5 versicherungsfrei.
Normenkette
RVO § 172 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1945-03-17
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Sozialgerichts Mannheim vom 11. September 1959 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Juni 1962 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
In dem Rechtsstreit geht es darum, ob die Klägerin für die Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1953 nachzuversichern ist.
Die Klägerin legte im Jahre 1943 die Prüfung als Diplomgärtnerin ab und promovierte im Jahre 1944 an der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität B. Nach dem Krieg war sie zunächst bei Gartenbauwirtschaftsverbänden und als praktische Gärtnerin tätig. Vom 1. November 1948 an war sie an der inzwischen der Technischen Hochschule H angeschlossenen Hochschule für Gartenbau und Landeskultur in S beschäftigt. Ihre Beschäftigung erfolgte zunächst als "Verwalter einer freien wissenschaftlichen Assistentenstelle" im Angestelltenverhältnis nach Vergütungsgruppe TOA III. Am 1. April 1949 wurde die Klägerin als Widerrufsbeamtin zur wissenschaftlichen Assistentin "gemäß § 2 der Reichsassistentenordnung vom 1.1.1940" ernannt. Nach Ablauf von zwei Jahren wurden die Dienstzeit der Klägerin um zwei Jahre verlängert. Mit Ende März 1953 wurde die Klägerin durch Widerruf ihres Beamtenverhältnisses aus dem Dienst entlassen.
Den Antrag der Klägerin, sie für die Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1953 nachzuversichern, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. März 1956 ab; die Voraussetzungen für eine Nachversicherung nach § 1242 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF seien nicht erfüllt; nach dem Erlaß des früheren Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 28. Februar 1936 seien wissenschaftliche Assistenten in den ersten vier Jahren ihrer Tätigkeit während der wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf tätig und nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO versicherungsfrei. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 21. November 1957).
Das Sozialgericht (SG) lud das Land Niedersachsen, vertreten durch den Niedersächsischen Kultusminister, Hannover, zum Verfahren bei; es hob durch Urteil vom 11. September 1959 die Bescheide der Beklagten auf und verurteilte sie, die Klägerin für die Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1953 nachzuversichern.
Die Beklagte legte Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein. Eine Anfrage des LSG, worauf sich die Auffassung stütze, die Klägerin sei während ihrer Beschäftigung als wissenschaftliche Assistentin zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung tätig gewesen, beantwortete die Beigeladene dahin: "Nach § 7 der Reichsassistentenordnung bestimmt der Direktor des Instituts Aufgaben und Umfang der Dienstobliegenheiten der Assistenten; die Klägerin ist mit der Führung des Lehrmittelarchivs und den Vorbereitungen für Vorlesungen und Vorträge beschäftigt gewesen; zu diesen Arbeiten haben auch Auszüge und Stellungnahmen zu fremden Veröffentlichungen auf dem Gesamtgebiet der Landespflege, Landschafts- und Gartengestaltung, die dem Institutsdirektor mündlich und schriftlich vorgetragen wurden, gehört; die Klägerin hat sich während ihrer Tätigkeit wesentlich durch die vorgenannten Arbeiten und durch den Besuch von Vorlesungen und Übungen für den Beruf des Landespflegers und des Gartenarchitekten weiterbilden können; wissenschaftliche Arbeiten, die unter dem Namen der Klägerin wahrend ihrer Assistententätigkeit verfaßt worden seien, sind nicht bekannt geworden".
Auf Ersuchen des LSG, eine Bestätigung nach §§ 172 Abs. 2, 169 Abs. 2 RVO aF darüber vorzulegen, "daß die Klägerin in der Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1953 als Widerrufsbeamtin vorläufig beschäftigt war", teilte der Niedersächsische Kultusminister am 18. Mai 1962 mit, "bei der Aushändigung der Ernennensurkunde ist der Klägerin mitgeteilt worden, daß für ihr Dienstverhältnis die Reichsassistentenordnung maßgebend sei; nach § 5 der Reichsassistentenordnung findet die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis regelmäßig nicht vor Ablauf von zwei Jahren statt; wird die Entlassung nicht zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen, so verlängert sich die Dienstzeit regelmäßig um weitere zwei Jahre; es handelt sich also bei der Beschäftigung von wissenschaftlichen Assistenten um vorübergehende Beschäftigungen".
Das LSG wies die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 26. Juni 1962 zurück: Die Voraussetzungen für die Nachversicherung nach § 1242 a RVO aF seien erfüllt. Die Klägerin sei als Widerrufsbeamtin im Dienst des Landes Niedersachsen vorläufig beschäftigt gewesen; dies sei auch von der zuständigen Landesbehörde bestätigt worden; die Klägerin sei deshalb nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO versicherungsfrei gewesen. Die Klägerin sei dagegen nicht nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO versicherungsfrei gewesen. Durch den Erlaß des früheren Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 28. Februar 1936 sei keine allgemeine Befreiung aller wissenschaftlichen Assistenten von der Versicherungspflicht herbeigeführt worden. Bei der Prüfung, aus welchem Grund und zu welchem Zweck die Klägerin die Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin übernommen habe, seien keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür festzustellen, daß sie sich durch diese Beschäftigung für ihren künftigen Beruf wissenschaftlich habe ausbilden lassen wollen; die äußeren Verhältnisse sprächen vielmehr dafür, daß die Klägerin lediglich - wie jeder andere Arbeitnehmer - einen entgeltlichen Arbeitsplatz habe ausfüllen wollen. Es sei auch nicht ersichtlich, daß die Klägerin eine wissenschaftliche Hochschullaufbahn oder einen sonstigen Beruf angestrebt habe, die eine weitere Ausbildung als das abgeschlossene Studium eines Diplomgärtners erfordert hätten.
Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil wurde der Beklagten am 24. Juli 1962 zugestellt. Die Beklagte legte am 11. August 1962 Revision ein. Sie beantragte,
die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 18. Oktober 1962. Sie machte geltend, das LSG habe die Vorschriften der §§ 172 Abs. 1 Nr. 1 und 5 und 1242 a RVO aF verletzt.
Der Beigeladene schloß sich den Ausführungen der Beklagten an, stellte jedoch keinen besonderen Antrag.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet.
Streitig ist, ob die Klägerin für die Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1953, in der sie als wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule für Gartenbau und Landeskultur in S. beschäftigt gewesen ist, nachzuversichern ist. Ob beim Ausscheiden aus einer versicherungsfreien Beschäftigung eine Nachversicherungspflicht entsteht, beurteilt sich nach dem Recht, das im Zeitpunkt des Ausscheidens gilt (BSG 1, 219). Die Klägerin ist am 31. März 1953 (in der früheren britischen Zone) aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden, die maßgebende Rechtsgrundlage bilden daher die §§ 1 Abs. 6 AVG, 1242 a RVO aF, beide in der Fassung der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (1. VereinfVO) vom 17. März 1945 (RGBl I 41; vgl. auch BSG 15, 65). Die Pflicht zur Nachversicherung der Klägerin bestand danach, wenn die Klägerin vom 1. April 1949 bis 31. März 1953 nach §§ 169, 172 Abs. 1 Nr. 1, 174, 1230 RVO aF versicherungsfrei gewesen ist, sonst aber - d. h. bei Außerachtlassung dieser die Versicherungsfreiheit aussprechenden Vorschriften (BSG 17, 206, 209) - versicherungspflichtig gewesen wäre.
Es kann dahingestellt bleiben, ob, wie die Beklagte meint, die Nachversicherung für die streitige Zeit schon deshalb nicht möglich ist, weil keine Versicherungsfreiheit "nach einer die Nachversicherungspflicht auslösenden Vorschrift" (§§ 169, 172 Abs. 1 Nr. 1, 174 RVO aF) bestanden hat.
Selbst wenn dies nicht zutrifft und mit dem LSG davon ausgegangen wird, daß die Klägerin als Widerrufsbeamtin nach §§ 172 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 169 Abs. 2 RVO versicherungsfrei gewesen ist, so scheitert die Nachversicherung jedenfalls daran, daß für die Klägerin in der streitigen Zeit Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO bestanden hat (vgl. insoweit auch BSG 17, 206, 208 und insbesondere BSG 11, 278, 280, 281).
Der festgestellte Sachverhalt rechtfertigt - entgegen der Annahme des LSG - die Schlußfolgerung, daß die Klägerin in der Zeit vom 1. April 1949 bis zum 31. März 1953 im Sinne des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO "zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig" gewesen ist. Die Klägerin ist als Widerrufsbeamtin wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule für Gartenbau und Landeskultur in S gewesen; ihre dienstliche Tätigkeit hat Aufgaben umfaßt, wie sie allgemein Hochschulassistenten obliegt. Diese Tätigkeit hat ihrer Art nach die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Ausbildung für den zukünftigen Beruf im Sinne des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO erfüllt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Versicherungsfreiheit wegen wissenschaftlicher Ausbildung für den zukünftigen Beruf in mehreren Urteilen, die - wie hier - die Beschäftigung nach Abschluß des Hochschulstudiums betreffen, weit ausgelegt (vgl. BSG 10, 176; 11, 278; SozR AVG § 12 aF Nr. 1 und insbesondere Urteil des BSG vom 14. Februar 1964 - 1 RA 151/61 -). Es hat als entscheidend für das Vorliegen der Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO Zweck und Ziel der Tätigkeit angesehen, wobei nicht Voraussetzung ist, daß die Tätigkeit "nur" zur wissenschaftlichen Ausbildung ausgeübt wird. Der Versicherungsfreiheit wegen wissenschaftlicher Ausbildung steht nicht entgegen, daß bereits vorher ein Beruf mit abgeschlossener Ausbildung ausgeübt worden ist. Auch nach der Ablegung der akademischen Prüfung gibt die Tätigkeit als Assistent eines Hochschullehrers in einem wissenschaftlichen Institut noch vielfache Möglichkeiten, die an der Hochschule erworbenen Kenntnisse zu vertiefen. Die Assistententätigkeit dient daher regelmäßig der wissenschaftlichen Ausbildung sowohl für den Beruf eines Hochschullehrers als auch für andere höhere Berufe. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Klägerin nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 versicherungsfrei tätig gewesen ist, ist nicht - wie das LSG gemeint hat- darauf abzustellen, aus welchem Grund und zu welchem Zweck die Klägerin eine Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin übernommen hat; es ist deshalb nicht erheblich, ob sich die Klägerin mit dieser Tätigkeit für ihren künftigen Beruf hat weiter ausbilden lassen wollen oder ob sie in erster Linie einen Arbeitsplatz hat ausfüllen wollen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für die Frage, ob eine wissenschaftliche Ausbildung im Sinne des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO vorliegt, kommt es nicht auf die Beweggründe und die Eignung des Beschäftigten sowie auf seine unter Umständen schwankenden zukünftigen Berufspläne an, entscheidend sind vielmehr die objektiv erkennbaren Merkmale, die der Tätigkeit zugrunde liegen und die ihr das Gepräge geben (vgl. auch Urteil des BSG vom 14. Februar 1964 - 1 RA 151/61 -; Urteil des BSG vom 17. März 1964 - SozR Nr. 5 zu § 1229 RVO -). Die Beschäftigung der Klägerin an dem Hochschulinstitut war aber von vornherein gekennzeichnet als ein Assistentenverhältnis; es wies nach Ziel und Zweck, nach Zeitdauer und Ausgestaltung die Merkmale und Eigenschaften auf, die einer wissenschaftlichen Ausbildung für den künftigen Beruf typisch sind. Die Tätigkeit der Klägerin als wissenschaftliche Hochschulassistentin ist auch objektiv geeignet gewesen, ihre fachlichen Kenntnisse zu vervollkommnen und zu vertiefen und ihr damit in ihrem weiteren Berufsleben höhere Berufschancen zu vermitteln als die, die sie ohne diese Ausbildung gehabt hätte. Diesen Erwägungen gegenüber vermag der Einwand der Klägerin, daß sie als voll ausgebildete und promovierte Wissenschaftlerin eine weitere Ausbildung nicht mehr nötig gehabt habe, nicht durchzudringen. Die Beschäftigung der Klägerin an dem Hochschulinstitut führte somit nach dem bis zum Inkrafttreten des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes geltenden Recht Versicherungsfreiheit in der Rentenversicherung der Angestellten herbei. Dies gilt auch für die vier Monate (Dezember 1952 bis März 1953), in denen die Klägerin - unter Einschluß ihrer Angestelltenzeit (November 1948 bis März 1949) - über die regelmäßig vierjährige Assistentenzeit hinaus an dem Hochschulinstitut tätig gewesen ist; die Tätigkeit der Klägerin in den letzten vier Monaten hat sich von ihrer früheren Tätigkeit nicht unterschieden; die Überschreitung der vierjährigen Assistentenzeit um vier Monate hat der Tätigkeit der Klägerin noch kein von einer Assistententätigkeit abweichendes Gepräge gegeben. War aber die Beschäftigung der Klägerin versicherungsfrei nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO, so bestand keine Verpflichtung der Beklagten zur Nachversicherung. Da die gerichtlichen Vorinstanzen den Sachverhalt rechtlich nicht zutreffend gewürdigt haben, waren ihre Urteile aufzuheben. Der angefochtene Bescheid, mit dem die Beklagte die Nachversicherung abgelehnt hat, ist rechtmäßig. Die Klage ist daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen