Leitsatz (redaktionell)

1. Die Auslegung einer privatrechtlichen Willenserklärung (hier: Vergleich vor dem Scheidungsgericht) kann vom Revisionsgericht daraufhin überprüft werden, ob sie innerhalb der Grenzen einer freien tatrichterlichen Beweiswürdigung verbleibt.

2. Mit der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrente ist es nicht vereinbar, daß den Unterhaltspflichten und Unterhaltsleistungen des Versicherten andere Pflichten und Leistungen gleichgestellt werden, die nicht an seine Person gebunden sind und nicht mit seinem Tod zwangsläufig und völlig entfallen.

 

Orientierungssatz

Leistungen aus der Erbmasse und dem Lastenausgleichsfonds sind keine Unterhaltsleistungen iS des AVG § 42 letzte Alternative.

 

Normenkette

AVG § 42 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

1. Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. November 1960 wird aufgehoben.

2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. November 1959 wird zurückgewiesen.

3. Im Berufungsverfahren und im Revisionsverfahren sind keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Ihre Ehe mit dem Versicherten wurde im November 1951 aus dessen Verschulden geschieden. Im Scheidungstermin schlossen die Eheleute einen Vergleich; nach ihm trat der Versicherte an die Klägerin "zur Abgeltung aller Unterhaltsansprüche für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" seine erbrechtlichen Ansprüche aus dem Nachlaß seiner Mutter und seine gegenwärtigen und künftigen Ansprüche auf Hausratsentschädigung aus dem Lastenausgleich ab. Am 22. Juni 1957 verstarb der Versicherte; bis dahin hatte die Klägerin aufgrund des Vergleichs Geldbeträge und Wertpapiere im Gesamtwert von 4300,- DM erhalten.

Den im August 1957 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab, weil sie die Voraussetzungen des § 42 AVG nicht für erfüllt hielt. Das Landessozialgericht (LSG) war anderer Meinung; es hob das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) sowie den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte diese zur Rentengewährung von August 1957 an: Durch den Vergleich, der rechtswirksam sei, habe die Klägerin zwar auf Unterhaltsansprüche nach dem Ehegesetz verzichtet, soweit sie die im Vergleich zugedachten Leistungen überstiegen; im Umfang dieser Leistungen habe sich der Versicherte jedoch zum Unterhalt der Klägerin verpflichtet; alle Leistungen, die die Klägerin aufgrund des Vergleichs empfangen habe, seien im Verhältnis zwischen den geschiedenen Eheleuten als Unterhaltszahlungen des Versicherten anzusehen. Danach sei der Tatbestand des § 42 AVG erfüllt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragte die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie rügte eine Verletzung des § 42 AVG.

Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision.

Die Beigeladene (Witwe des Versicherten) war im Revisionsverfahren nicht vertreten.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und auch begründet.

Nach § 42 AVG wird einer früheren Ehefrau eines Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte z. Zt. seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Entgegen der Ansicht des LSG sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt.

Aufgrund des Vergleichs im Scheidungstermin bestand z. Zt. des Todes keine Unterhaltspflicht des Versicherten, weder nach dem Ehegesetz noch aus einem sonstigen Grund. Das LSG hat den Vergleich zutreffend als rechtswirksam angesehen. Seiner Gültigkeit standen weder § 72 des Ehegesetzes noch § 779 BGB noch schließlich Vorschriften des Lastenausgleichsgesetzes (BVerwG 10 S. 244, 245) entgegen. Zu Unrecht hat das LSG jedoch aus dem Vergleich nur einen teilweisen Unterhaltsverzicht der Klägerin entnommen. Wenn es festgestellt hat, der Versicherte habe sich im Umfang der im Vergleich vorgesehenen Leistungen - weiterhin - zum Unterhalt der Klägerin verpflichtet, so ist diese Feststellung für das Bundessozialgericht (BSG) nicht bindend. Die Auslegung einer privatrechtlichen Willenserklärung kann vom Revisionsgericht daraufhin überprüft werden, ob sie innerhalb der Grenzen einer freien tatrichterlichen Beweiswürdigung verbleibt (Uffhausen, DÖV 1964, 231, 235 mit weiteren Hinweisen, insbesondere auf RGZ 169, 124, BVerwG DÖV 1960, 391 sowie Buchholz, BVerwG 427.3, § 12 LAG Nr. 61 und 310, § 137 VerwGO Nr. 5). Hier hat das LSG diese Grenzen überschritten, es hat dem Vergleich einen Inhalt gegeben, den er erkennbar nicht hatte. Der Versicherte und die Klägerin haben im Vergleich sämtliche Unterhaltsansprüche abgelten, d. h. zum Erlöschen bringen wollen; als Gegenleistung für diesen Unterhaltsverzicht der Klägerin hat der Versicherte vermögensrechtliche Ansprüche abgetreten; die Abtretung hat, wie das LSG richtig erkannt hat, der Klägerin die - bis dahin dem Versicherten zustehende - Gläubigerstellung an den Ansprüchen verschafft; es fehlt jeder Anhaltspunkt, aus dem man schließen könnte, daß der Versicherte künftig Schuldner oder auch nur Mitschuldner der Leistungen werden sollte, die die Klägerin von nun an aus eigenem Recht beanspruchen konnte. Der Vergleich hat daher keine Unterhaltspflichten des Versicherten begründet, sondern im Gegenteil alle bestehenden oder zu erwartenden erlöschen lassen. Daß die zugehörigen Willenserklärungen (Verzicht und Abtretung), was die Klägerin bestreitet, vom jeweiligen Adressaten auch angenommen wurden, hat das LSG - in einer insoweit das BSG bindenden Weise (§ 163 SGG) - festgestellt.

Die Leistungen aus der Erbmasse und dem Lastenausgleichsfonds sind auch keine Unterhaltsleistungen des Versicherten i. S. der letzten Alternative des § 42 AVG gewesen; sie hatten ihre Rechtsgrundlage im Erbrecht und Lastenausgleichsrecht und wurden zudem nicht vom Versicherten, sondern von anderen Verpflichteten erbracht.

Eine andere Beurteilung rechtfertigen auch Sinn und Zweck des § 42 AVG nicht. Insoweit kann der Senat an den am 16. April 1964 (SozR Nr. 21 und § 1265 RVO) entschiedenen Fall anknüpfen, in welchem der Versicherte seiner früheren Frau zur Sicherung des Unterhalts ebenfalls ein Vermögensrecht (einen Gesellschaftsanteil) übertragen hatte. Der Senat hatte damals erwogen, ob die Nutzungen des Vermögensrechts etwa bei "wirtschaftlicher Betrachtungsweise" als Unterhaltsleistungen des Versicherten gelten könnten. Damit war die gleiche Betrachtungsweise gemeint, wie sie hier dem LSG "im Verhältnis zwischen den geschiedenen Eheleuten" vorschwebt. Hierzu hat der Senat jedoch dargelegt, daß eine solche Betrachtungsweise, wenn sie überhaupt zulässig sei, auf jeden Fall in der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrente ihre Grenze finden müsse. Da die Rente für die geschiedene Frau den durch den Tod des Versicherten bewirkten gänzlichen Wegfall von Unterhaltspflichten oder Unterhaltsleistungen ersetzen solle, könnten diesen allenfalls solche sonstigen Pflichten und Leistungen gleichgestellt werden, die ebenfalls an die Person des Versicherten gebunden sind und mit seinem Tode zwangsläufig und völlig entfallen. Dies war in jenem Fall und ist auch im vorliegenden Fall zu verneinen. Die Rechtsstellung der Klägerin aufgrund der ihr vom Versicherten übertragenen Vermögensrechte ist durch dessen Tod nicht berührt worden; nach den Feststellungen des LSG hat sie sogar noch im Juni 1958 - ein Jahr nach dem Tode - eine weitere Leistung aus der an sich dem Versicherten zustehenden Hausratsentschädigung erhalten.

Auf die Revision der Beklagten ist deshalb das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325629

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