Orientierungssatz
Verschlimmerung einer anerkannten Hirnbeschädigung aber altersbedingte Akzentuierung? - Unzureichende medizinische Sachaufklärung als Verfahrensmangel.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28; SGG §§ 103, 128 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 11.04.1974; Aktenzeichen L 11 V 109/73) |
SG Berlin (Entscheidung vom 20.06.1973; Aktenzeichen S 44 V 320/68) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. April 1974 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1910 geborene Kläger, früher selbständiger Klempnermeister, bezieht seit 1968 von der Landesversicherungsanstalt B Erwerbsunfähigkeitsrente. Als Folgen einer 1944 erlittenen schweren Kopfverletzung sind bei ihm durch Bescheid vom 30. November 1951 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. anerkannt: "Verlust des rechten Auges, Stirnhirnverletzung mit leichter Hirnleistungsschwäche und erheblicher Verminderung des Geruchsvermögens, erhebliche Gesichtsentstellung, geringe Bewegungsminderung des linken Armes im Schultergelenk infolge Restversteifung nach plastischer Operation".
Im Mai 1964 beantragte der Kläger wegen Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen und Hinzutretens einer Wesensänderung die Neufeststellung seines Versorgungsanspruchs unter Berücksichtigung besonderer beruflicher Betroffenheit. Auf Grund der versorgungsärztlichen Gutachten des Neurologen Dr. B vom 12. November 1964 und der Chirurgin Dr. U vom 30. März 1966 erließ das Versorgungsamt Berlin am 10. Januar 1967 drei Bescheide. Im ersten Bescheid verneinte es eine Wesensänderung des Klägers und eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen. Im zweiten Bescheid wurden als zusätzliche Schädigungsfolgen "Narbe nach plastischer Operation am Thorax, am linken Arm und am linken Unterschenkel" anerkannt und die MdE des Klägers unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins ab 1. Januar 1964 auf 80 v. H. erhöht. Im dritten Bescheid erfolgte die den vorangegangenen Bescheiden entsprechende Festsetzung der Versorgungsbezüge. Den nicht näher begründeten Widerspruch gegen diese Bescheide wies das LVersorgA durch Bescheid vom 13. März 1968 zurück.
Der Neurologe Dr. M ist in seinem, dem Sozialgericht (SG) Berlin am 22. September 1969 erstatteten Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, nach den Angaben des Beschädigten, von denen er ausgehe, seien eine Wesensveränderung und eine akzentuierte Hirnleistungsschwäche zwar gegeben, aber auf das Alter des Beschädigten und nicht auf seine Verwundung oder deren Folgen zurückzuführen. Der Kläger hat dagegen eine Stellungnahme des Facharztes für Nerven- und Gemütskrankheiten Dr. L vom 20. Januar 1971 vorgelegt, wonach die festgestellten Defekte des Gedächtnisses im täglichen Leben und bei Definitionsleistungen wahrscheinlich Folge der Hirnverletzung und nicht des vorzeitigen Altersabbaus seien. In dem gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erstatteten neurologischen Gutachten vom 25. Januar 1973 hat Dr. B ausgeführt, an einer Verschlimmerung der psychischen Störungen des Klägers in Gestalt erheblicher psychischer Abbauerscheinungen und einer stark ausgeprägten Antriebsstörung bestehe kein Zweifel. Dies sei ein typischer Fall der allmählich fortschreitenden Verschlimmerung von Hirnverletzungsfolgen vor bzw. während einer verletzungsbedingt vorverlagerten Cerebralsklerose. Zu den bereits anerkannten Schädigungsfolgen seien eine Hirnleistungsschwäche und eine schwere Wesensänderung gekommen; die MdE betrage ab 1. Mai 1964 ohne Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit 90 v. H. Dieser Beurteilung hat der Beklagte entgegengehalten, nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Neurologen Dr. W vom 15. März 1973 beruhe die Zunahme und Akzentuierung der Beschwerden übereinstimmend mit den Beurteilungen von Dr. M und Dr. B auf dem schädigungsunabhängigen Alterungsprozeß des Gehirns. Durch Urteil vom 20. Juni 1973 hat das SG die Klage abgewiesen, sich der von Dr. M vertretenen medizinischen Auffassung angeschlossen und einen Ermessensmißbrauch in der Bewertung der besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers mit nur 10 v. H. verneint.
Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Urteil vom 11. April 1974 insoweit verworfen, als sie die Erhöhung des Grades der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit zum Gegenstand hatte; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Bei der vom Kläger begehrten Erhöhung der MdE wegen außergewöhnlicher beruflicher Betroffenheit handele es sich um einen nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht berufungsfähigen reinen Gradstreit. Eine Verschlimmerung der anerkannten und der Hinzutritt weiterer Schädigungsfolgen könnten, wie Dr. M in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehrmeinung überzeugend ausgeführt habe, nicht angenommen werden, weil Komplikationen der Hirnverletzung - etwa ein Hirnabszess oder eine traumatische Hirnhautblutung - nicht nachgewiesen seien. Die zusätzlichen Beschwerden seien daher als altersbedingt anzusehen, weshalb dem Kläger auch nicht die Pflegezulage eines erwerbsunfähigen Hirnverletzten nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG zustehe.
Der Kläger hat gegen das ihm am 11. Juni 1974 zugestellte Urteil am 3. Juli 1974 die Revision eingelegt und diese innerhalb der bis zum 12. September 1974 verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet. Er rügt Verletzungen der §§ 103, 106 und 128 SGG. Das LSG habe verkannt, daß Dr. M von der allgemein gültigen Lehrmeinung auf neurologischem Fachgebiet abgewichen sei, wenn er eine schädigungsbedingte Verschlimmerung von Hirnverletzungsfolgen nur bei nachgewiesenen Hirnabszessen oder Hirnhautblutungen annehme. Nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" würden nämlich bei Schwerhirnbeschädigten Alterungsvorgänge stets zu einer gewissen Erhöhung der MdE führen, weil diese Personen wegen der Hirnverletzungsfolgen die Alterungsvorgänge nicht mehr ausgleichen könnten. In der somit zu Unrecht unterbliebenen weiteren medizinischen Aufklärung liege ein wesentlicher Verfahrensmangel.
Der Kläger beantragt,
in Abänderung des Urteils des LSG Berlin vom 11. April 1974, des Urteils des SG Berlin vom 20. Juni 1973 und der Bescheide des VersorgA II Berlin vom 10. Januar 1967 nebst Widerspruchsbescheid des LVersorgA Berlin vom 13. März 1968 den Beklagten zu verurteilen, als weitere Schädigungsfolgen "schwere Hirnleistungsschwäche, zentrale vegetative Störungen sowie eine schwere Wesensveränderung" anzuerkennen und dem Kläger ab 1. Januar 1964 Versorgung nach einer MdE um 90 v. H. sowie ab 1. Mai 1964 Versorgung nach einer MdE um 100 v. H. unter Einschluß der obligatorischen Pflegezulage zu gewähren;
hilfsweise,
das Urteil des LSG Berlin vom 11. April 1974 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er hält einen Mangel im Verfahren des LSG nicht für gegeben, weil das Gutachten des Dr. M der herrschenden medizinischen Lehrmeinung entspreche.
Entscheidungsgründe
Die Statthaftigkeit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten, vom LSG nicht zugelassenen Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der hier maßgeblichen Fassung vor dem 1. Januar 1975 (a. F.) gegeben, weil ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird, der vorliegt.
Das LSG hat festgestellt, die anerkannten Schädigungsfolgen des Klägers hätten sich nicht verschlimmert; es hat diese Feststellung auf das Gutachten des ärztlichen Sachverständigen Dr. M gestützt. Die Rüge, das LSG habe dem Gutachten des Dr. M jedenfalls nicht ohne weitere medizinische Sachaufklärung folgen dürfen, greift durch. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom September 1969 ausgeführt, wenn auch nach den Angaben des Beschädigten eine Zunahme seiner Beschwerden vorliege, so sei damit eine Verschlimmerung des Versorgungsleidens noch nicht ohne weiteres wahrscheinlich oder gar bewiesen. Nur wenn es gelänge, Komplikationen der Hirnverletzung, etwa einen Hirnabszeß oder eine traumatische Hirnhautblutung (subdurales Hämatom) nachzuweisen, sei ein Zusammenhang mit der Wehrdienstbeschädigung anzunehmen. Die Untersuchungen hätten hierfür jedoch keinen Anhalt ergeben. Im Lebensalter des Klägers dürften physiologische Rückbildungsvorgänge an den Hirngefäßen sowie die Alterung des Gehirns selbst bereits von Bedeutung sein und die Anpassungsfähigkeit des Organs und seine Möglichkeit zu funktionellem Ausgleich so weit einschränken, daß Hirnfunktionsstörungen traumatischer Art nunmehr stärker in Erscheinung träten als zuvor. Aufgrund dieser Überlegungen ist Dr. M schließlich zu dem Ergebnis gelangt, daß zwar eine Wesensänderung und eine akzentuierte Hirnleistungsschwäche beim Kläger gegeben, ursächlich jedoch auf Alterungsvorgänge und nicht auf eine Verschlimmerung des Versorgungsleidens zurückzuführen seien. Diese Beurteilung stand mit der Ausgabe 1965 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" durchaus in Einklang (vgl. dort Nr. 90 Abs. 5).
Das LSG hat aber nicht berücksichtigt, daß im Zeitpunkt seiner Entscheidung die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen durch die neue Ausgabe 1973 (vgl. dort Nr. 86 Abs. 5) gewisse Änderungen erfahren hatten. Während in der Auflage 1965 noch das unabhängige Nebeneinander von Hirnverletzungsfolgen und Gefäßalterung eindeutig im Vordergrund stand und eine vorzeitige Alterung der Hirnverletzten als nicht erwiesen bezeichnet wurde, weisen die Anhaltspunkte 1973 zu Nr. 86 Abs. 5 ausdrücklich darauf hin, daß dann, wenn bei älteren Hirnverletzten Verschlechterungen von Hirnfunktionsstörungen auftreten, stets unter besonderer Würdigung der Art der Symptome sorgfältig zu prüfen ist, "welche Bedeutung die Hirnverletzung und ihre Folgen einerseits und der Alterungsprozeß andererseits für die Verschlechterung haben". Nach den veränderten Anhaltspunkten 1973 für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen konnten bei hirnpathologischen Untersuchungen in der Umgebung alter Hirnnarben Gefäßveränderungen in Form von Fibrosen als Folgen der Wundheilung festgestellt werden; in solchen Bezirken kann es im Zuge der Alterung zu Mangeldurchblutungen kommen, die dann aber wesentlich durch die Verletzung bedingt sind. Klinisch kann daraus eine Verschlechterung der Hirnverletzungsfolgen resultieren (z. B. Wiederauftreten oder Verdeutlichung früher vorhandener Hirnfunktionsstörungen oder Auftreten von Nachbarschaftssymptomen).
Unter diesen Umständen durfte dem LSG noch nicht zweifelsfrei erscheinen, ob davon ausgegangen werden konnte, Dr. M habe die in der Neufassung der Anhaltspunkte dargelegten medizinischen Gesichtspunkte berücksichtigt und entsprechende Schlußfolgerungen gezogen. Denn wenn der Sachverständige beim Kläger zwar eine deutliche Wesensänderung und eine Akzentuierung der bereits als Schädigungsfolge anerkannten Hirnleistungsschwäche feststellte, diese aber allein mit dem Hinweis auf das Lebensalter des Klägers und den fehlenden Nachweis einer Komplikation der Hirnverletzung in Gestalt eines Hirnabszesses oder einer traumatischen Hirnhautblutung für schädigungsunabhängig erachtete, so hat diese Beurteilung jedenfalls nicht eindeutig erkennen lassen, daß es sich hier um eine unter besonderer Würdigung der Art der Symptome erfolgte abwägende Prüfung im Sinne der Neufassung der Anhaltspunkte handelte, welche Bedeutung die Hirnverletzung und ihre Folgen einerseits und der Alterungsprozeß andererseits für die Verschlechterung hatten. Auch von einer Übereinstimmung des Gutachtens des Dr. M mit der herrschenden medizinischen Lehrmeinung konnte das LSG unter diesen Umständen nicht ohne weiteres ausgehen; zumindest hätte es den Sachverständigen ergänzend befragen müssen, ob seine Prüfung und Schlußfolgerung den in der Neufassung der Anhaltspunkte dargelegten medizinischen Gesichtspunkten entsprachen, oder ob sie etwa auf einer hiermit nicht voll übereinstimmenden medizinischen Lehrmeinung beruhten. Da das LSG dies versäumt hat, hat es das Gutachten des Dr. M noch nicht abschließend würdigen dürfen (vgl. BSG in SozR Nr. 67 und 81 zu § 128 SGG); es hat den Sachverhalt medizinisch nicht hinreichend geklärt. Sein Verfahren hat insoweit gegen die Vorschriften der §§ 103 und 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verstoßen, wie die Revision im Ergebnis zutreffend gerügt hat.
Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei zureichender medizinischer Sachaufklärung zu einer dem Kläger günstigeren Beurteilung kommen kann. Da somit die von der Revision mit Recht beanstandeten Feststellungen des LSG zur medizinischen Verursachung der verstärkten Hirnleistungsschwäche und der Wesensänderung des Klägers gemäß § 163 SGG als Grundlage einer Entscheidung des Senats entfallen, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG zu berücksichtigen haben, daß es sich in dem Anspruch des Beschädigten auf Erhöhung seiner Versorgungsrente um einen einheitlichen prozessualen Anspruch handelt. Dieser Anspruch wird zwar im Einzelfall von unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen - der Bewertung der MdE nach § 30 Abs. 1, der Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG, dem Eintreten von Veränderungen im Sinne von § 62 BVG oder dem Hinzutreten neuer Leiden, die als Schädigungsfolgen geltend gemacht werden, - bestimmt. Es handelt sich dabei aber nicht um unterschiedliche prozessuale Ansprüche, sondern um unterschiedliche Faktoren und Begründungen ein und desselben prozessualen Anspruchs (vgl. hierzu BSG 1, 225; 3, 135, 139; 5, 222, 225; 10, 264, 266; 36, 289; vgl. ferner BSG in SozR Nr. 26 zu § 148 SGG; Nr. 47 zu § 150 SGG und Nr. 46 zu § 30 BVG). Demgemäß wird das LSG nicht davon ausgehen können, daß seiner sachlichen Entscheidungsbefugnis unter dem Gesichtspunkt des § 148 Nr. 3 SGG die Frage entzogen ist, ob der Kläger in besonders hohem Maße beruflich betroffen ist und ob deshalb bei pflichtgemäßer Ausübung des der Versorgungsverwaltung beim Erlaß eines Zugunstenbescheides eingeräumten Ermessens die MdE um 20 v. H. zu erhöhen ist (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 14. März 1975 - 10 RV 189/74 -). Weil der Grad der MdE des Klägers hier, wie das LSG zutreffend erkannt hat, auch von einem Ursachenstreit abhängig ist, unterliegt er insgesamt - d. h. einschließlich der durch den Ursachenstreit ohnehin auch berührten Frage der besonderen beruflichen Betroffenheit - der Prüfung und sachlichen Entscheidung des Berufungsgerichts.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen