Leitsatz (amtlich)

Die Zuordnung einer Berufsgenossenschaft nach dem Gewerbezweig ist selbst dann nicht nach Produktion und Vertrieb aufzuspalten, wenn die betriebliche Tätigkeit eines Arbeitnehmers für ein mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft befindliches Unternehmen sich ausschließlich auf den Vertrieb der Produkte im Inland erstreckt.

 

Orientierungssatz

Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat der EG - Geltungsbereich des Systems sozialer Sicherheit - anzuwendende Rechtsvorschriften: 1. Nach Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV Nr 1408/71 unterliegt eine Person, für die diese Verordnung gilt, wenn sie im Gebiet eines Mitgliedstaates (hier der Bundesrepublik Deutschland) im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist (Art 2 EWGV Nr 1408/71), den Rechtsvorschriften dieses Staates auch dann, wenn das Beschäftigungsunternehmen seinen Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates (hier Großbritannien) hat.

2. Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71 weist Personen, die in einem Mitgliedstaat tätig sind, deren Unternehmen ihren Betriebssitz aber in einem anderen Mitgliedstaat haben, dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaates zu, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird. Der Geltungsbereich der in Betracht kommenden beiden Systeme der sozialen Sicherheit (Großbritannien - Bundesrepublik Deutschland) ist mithin nach dem Ort der Beschäftigung des Arbeitnehmers zugunsten der Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland abgegrenzt.

 

Normenkette

RVO § 646 Abs. 1; EWGV 1408/71 Art. 13 Abs. 2 Buchst. a, Art. 2, 4 Abs. 1 Buchst. e

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 08.04.1987; Aktenzeichen L 6 U 74/85)

SG Lüneburg (Entscheidung vom 28.02.1985; Aktenzeichen S 2 U 8/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Hinterbliebenenansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung sowie darüber, welche Berufsgenossenschaft für diese Leistungen zuständig ist.

Der Ehemann der Klägerin (K.), deutscher Staatsangehöriger, ist am 1. Februar 1982 in Hamburg auf der Fahrt zur Firma K. + T. tödlich verunglückt. Er wollte dort wegen Reklamationen über medizinische Gebrauchsartikel vorsprechen, die die Firma L.       in L.             (L.) in Großbritannien geliefert hatte. K. unterhielt im Bereich der Bundesrepublik Deutschland für die Firma L. ein Büro. Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenrente sowie Überbrückungshilfe und Sterbegeld ab (Bescheid vom 14. September 1982 und Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1983).

Das Sozialgericht (SG) hat demgegenüber die Beklagte zur Leistung verurteilt, da K. auch für die Firma B.     (B.) im Unfallzeitpunkt tätig gewesen und somit die Zuständigkeit der Beklagten begründet sei (Urteil vom 28. Februar 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben, die Klage gegen die Beklagte abgewiesen und die beigeladene BG zu 2) verurteilt, der Klägerin die gesetzlichen Leistungen zu erbringen (Urteil vom 8. April 1987). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, K. sei Angestellter der Firma L. gewesen. Diese sei aufgrund der Beschäftigung des K. als Mitgliedsunternehmen der Beigeladenen zu 2) zu behandeln (§ 646 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Gemäß Art 13 Abs 2 Buchst a der EWG-Verordnung Nr 1408/71 unterliege eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaates im Gehaltsverhältnis beschäftigt sei, den Rechtsvorschriften dieses Staates auch dann, wenn das Unternehmen seinen Sitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates habe. Daß die Firma L. ihren Sitz in Großbritannien habe, darauf habe es nicht anzukommen. Außerdem sei es unerheblich, daß die Firma L. nicht im Bereich der Bundesrepublik Deutschland produziere, sondern die Produkte lediglich vertreiben lasse.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beigeladene zu 2) eine Verletzung der §§ 646, 658 Abs 1 und 2 Nr 1 RVO. Maßgebend für die Zuständigkeit einer Berufsgenossenschaft im Rahmen des § 646 RVO sei nicht die unternehmerische Tätigkeit des Betriebes im Ausland, sondern diejenige Tätigkeit, die im Geltungsbereich dieser Vorschrift verrichtet werde. Dies sei die Vertriebstätigkeit des K. in der Bundesrepublik Deutschland gewesen. K. habe insoweit die erforderliche Unabhängigkeit besessen und sei demnach als selbständiger Unternehmer iS des § 658 Abs 2 Nr 1 RVO anzusehen. Insoweit habe das LSG den Sachverhalt nicht ordnungsgemäß aufgeklärt. Zwischen K. und der Firma L. hätten keine Vertragsbeziehungen bestanden. Vielmehr sei der Vertrag mit der Muttergesellschaft BTR abgeschlossen worden. Welcher Versicherungsträger für dieses Unternehmen zuständig sei, habe das LSG nicht geprüft.

Die Beigeladene zu 2) beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin, die Beklagte und die Beigeladene zu 1) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Letztere halten die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beigeladenen zu 2) ist nicht begründet. Das LSG hat die Beigeladene zu 2) zu Recht zur Leistung verurteilt.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß K. einen Arbeitsunfall erlitten hat, der kausal für das Todesgeschehen war (BSGE 50, 133, 135 = SozR 2200 § 589 Nr 3). Die Klägerin hat daher einen Anspruch auf Witwenrente, Überbrückungshilfe und Sterbegeld (§ 589 Abs 1 Nrn 1 und 4 RVO in der vor dem 1. Januar 1986 geltenden Fassung; § 590 RVO). Sie kann diese Leistungen gemäß § 646 Abs 1 RVO iVm mit Art 13 Abs 2 Buchst a der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWG-VO Nr 1408/71 - AmtsBl der Europäischen Gemeinschaft L Nr 149 vom 5. Juli 1971 S 2) von der Beigeladenen zu 2) verlangen.

Die in § 548 Abs 1 Satz 1 RVO enthaltene Definition des Arbeitsunfalles knüpft, wie die Verweisung ua auf die hier in Betracht kommende Vorschrift des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO deutlich macht, an die unselbständige Beschäftigung an. Die für eine abhängige Beschäftigung von der Rechtsprechung als maßgeblich erachteten Kriterien (vgl ua BSGE 59, 284, 286 = SozR 2200 § 539 Nr 114; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, Bd II S 469g) sind, wovon das LSG richtigerweise ausgeht, gegeben. Das LSG hat festgestellt, daß K. ein Gehalt bezogen hat, das im Krankheitsfalle fortzuzahlen war, er gegenüber der Firma L. einen Urlaubsanspruch hatte und es ihm aufgetragen war, laufend über seine Tätigkeiten zu berichten. Außerdem waren die Kündigungsfrist sowie die Leistung von Sozialversicherungsbeiträgen vertraglich geregelt. Gegen diese Feststellungen des LSG hat die Beigeladene zu 2) keine substantiierten Revisionsrügen erhoben. Sie hat lediglich die Verletzung der Sachaufklärung (§ 103 SGG) gerügt, ohne dies im einzelnen zu erläutern. Die Feststellungen des LSG, auf denen sich die Annahme einer abhängigen Beschäftigung gründet, sind sonach bindend (§ 163 SGG). Die daraus gezogenen rechtlichen Schlußfolgerungen, daß K. bei der Firma L. abhängig beschäftigt war, sind nicht zu beanstanden.

Dem steht nicht entgegen, daß nicht die Firma L. selbst, sondern deren Muttergesellschaft BTR den Vertrag mit K. abgeschlossen hatte. Nach den Feststellungen des LSG hat die Firma BTR in Vertretung für die Firma L. gehandelt. Die Firma L. ist somit Vertragspartner des K. geworden. Unerheblich ist, daß die Firma BTR die Vergütung übernommen hatte. Dadurch ist die persönliche Abhängigkeit des K. der Firma L. gegenüber nicht in Frage gestellt worden. Nach dem Vertragsinhalt ist die Direktionsbefugnis der Firma L. dem K. gegenüber geradezu kennzeichnend für das Beschäftigungsverhältnis iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO. Diese Beurteilung des LSG ist ohne Rechtsirrtum erfolgt.

Entgegen der Meinung der Beigeladenen zu 2) spricht nichts dafür, daß K., der im Bereich der Bundesrepublik Deutschland für die Firma L. ein Büro unterhielt, im Rahmen seiner Tätigkeit für die Firma L. selbständiger Unternehmer iS des § 658 Abs 2 Nr 1 RVO gewesen ist; ihm fehlt die erforderliche Unabhängigkeit. Unternehmer im Sinne der vorgenannten Vorschrift ist derjenige, dem das wirtschaftliche Ergebnis des Unternehmens, der Wert oder Unwert der im oder mit dem Unternehmen verrichteten Arbeit unmittelbar oder mittelbar zum Vorteil oder Nachteil gereicht (BSGE 17, 273, 275 mwN = SozR RVO § 633 aF Nr 6). Zwar können die tatsächlichen Verhältnisse, die die Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gestalten, sowohl Merkmale einer selbständigen als auch einer unselbständigen Tätigkeit aufweisen (BSG SozR RVO § 537 aF Nr 8). Im vorliegenden Falle sprechen alle Umstände für die Arbeitnehmereigenschaft des K. Die vertraglich zugesicherte Sondervergütung in Höhe von 3 % auf alle Verkäufe über 2 Millionen DM steht dem nicht entgegen. Diese Art der "Beteiligung" diente offensichtlich dem Anreiz, sich verstärkt um Verkäufe zu bemühen. Sie hat auf die rechtliche Beurteilung keinen Einfluß.

Im vorliegenden Falle ist K. in Ausführung einer Verrichtung für die Firma L. ums Leben gekommen. Daß der Sitz dieser Firma sich in Großbritannien befindet, K. aber bei diesem Unternehmen im Bereich der Bundesrepublik Deutschland abhängig beschäftigt war, steht dem Versicherungsschutz des K. bei der Beigeladenen zu 2) nicht entgegen. Nach Art 13 Abs 2 Buchst a EWG-VO Nr 1408/71 unterliegt eine Person, für die diese Verordnung gilt, wenn sie im Gebiet eines Mitgliedstaates (hier der Bundesrepublik Deutschland) im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist (Art 2 EWG-VO Nr 1408/71), den Rechtsvorschriften dieses Staates auch dann, wenn das Beschäftigungsunternehmen seinen Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates (hier Großbritannien) hat. Damit weist Art 13 Abs 2 Buchst a EWG-VO Nr 1408/71, eine alle Zweige des Systems der sozialen Sicherheit und damit auch die gesetzliche Unfallversicherung betreffende Vorschrift (vgl Art 4 Abs 1 Buchst e EWG-VO Nr 1408/71), Personen, die in einem Mitgliedstaat tätig sind, deren Unternehmen ihren Betriebssitz aber in einem anderen Mitgliedstaat haben, dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaates zu, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird. Der Geltungsbereich der in Betracht kommenden beiden Systeme der sozialen Sicherheit (Großbritannien - Bundesrepublik Deutschland) ist mithin nach dem Ort der Beschäftigung des Arbeitnehmers zugunsten der Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland abgegrenzt.

Sonach ist die Beigeladene zu 2) für die sich aus dem Arbeitsunfall ergebenden Leistungen der zuständige Versicherungsträger. Die Firma L. produziert in Großbritannien medizinische Gebrauchsartikel. Dies ist für die Zuordnung der Beigeladenen zu 2) gemäß § 646 RVO maßgebend (BSGE 39, 112, 113/114 = SozR 2200 § 646 Nr 1). Es ist entgegen der Revision nicht sachgerecht, auf die inländischen Verhältnisse, nämlich den Vertrieb der medizinischen Artikel abzustellen und damit die Frage der Zuordnung eines Betriebes auf eine Berufsgenossenschaft nach verschiedenen Bereichen, wie beispielsweise Produktion, Vertrieb oder Verwaltung aufzuspalten. Mit der Produktion von Gebrauchs- und Verbrauchsgütern ist stets der Vertrieb verbunden, ohne daß dadurch das Unternehmen ein zusätzliches Gepräge erhält. Andernfalls müßte jeder Produktionsbetrieb in mehrere Bereiche zergliedert werden und sich demnach die Zuordnung danach richten. Darauf stellt § 646 RVO und die hierzu ergangene Rechtsprechung gerade nicht ab.

Die Annahme der Revision, die Fahrt des K. zur Firma K. + T. habe nicht nur der Firma L., sondern auch der Firma B. dienen sollen, weshalb die Zuständigkeit der Beigeladenen zu 2) nicht in Betracht komme, läßt sich nicht bestätigen. Die Beweiswürdigung des LSG auf der Grundlage einer umfassenden Sachaufklärung, wonach sich ein Tätigwerden des K. auch für die Firma B. zum Unfallzeitpunkt nicht feststellen ließ, ist nicht zu beanstanden. Die Revisionsrüge der Beigeladenen zu 2) gründet sich auf Vermutungen ohne sachlichen Gehalt; sie ist unbeachtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666832

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