Leitsatz (amtlich)
Der in AVG § 28 Abs 1 Nr 6 verwendete Begriff "Umsiedlung" umfaßt nicht die innerdeutsche Umsiedlung iS des BVFG § 26.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; BVFG § 1 Abs. 2 Nr. 2, § 26 Abs. 1
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Januar 1976 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der 1905 geborene Kläger stammt aus der Tschechoslowakei und lebt seit 1946 als anerkannter Vertriebener in der Bundesrepublik Deutschland (seit Oktober 1954 in E, Kreis R). Er war in den Jahren 1947 und 1948 jeweils kurze Zeit invalidenversicherungspflichtig beschäftigt und anschließend bis November 1952 arbeitslos. Dann übte er bis 1954 eine selbständige Tätigkeit als Textilkaufmann aus. Vom 8. Oktober 1954 bis 10. Juni 1956 war er wiederum arbeitslos.
Seit Mai 1970 bezieht der Kläger Altersruhegeld. Mit Bescheid vom 15. Februar 1971 berechnete die Beklagte die Rente neu. Dabei war die Zeit der letzten Arbeitslosigkeit, die der Kläger angerechnet wissen will, nicht berücksichtigt. Im folgenden Klageverfahren machte die Beklagte geltend, nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) könne diese Zeit nicht als Ausfallzeit anerkannt werden, weil sie sich nicht an eine versicherungspflichtige Tätigkeit angeschlossen habe. Vor dem Sozialgericht (SG) Reutlingen erklärte sich die Beklagte jedoch am 14. März 1973 bereit, nach Vorlage von Unterlagen zu prüfen, ob die Zeit als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG anzurechnen sei; es werde ein neuer rechtsbehelfsfähiger Bescheid erteilt werden. Daraufhin nahm der Kläger seine Klage zurück.
Mit Schreiben vom 16. März 1973 beantragte der Kläger die Anrechnung als Ersatzzeit unter Hinweis auf eine beigefügte Bescheinigung des Landratsamtes R vom 15. März 1973; danach war er am 23. Oktober 1954 als Umsiedler aus Bayern unter Anrechnung auf die Aufnahmequote zur Arbeitsaufnahme und wohnraummäßigen Versorgung in die Gemeinde E eingewiesen worden. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26. April 1973 den Antrag ab. Die nach erfolglosem Widerspruch eingelegte Klage hatte in erster Instanz Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) die Klage ab. Zur Begründung führte es aus: Es könne dahinstehen, ob es sich hier um ein Verfahren nach § 79 AVG handele, denn die Beklagte habe sich möglicherweise zu einem sogenannten Zweitbescheid verpflichtet. Selbst bei unbeschränkter Nachprüfung könne dem Kläger keine Anschlußersatzzeit im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG angerechnet werden. Die Zeit der Arbeitslosigkeit ab Oktober 1954 habe sich weder einer Vertreibung noch einer Umsiedlung angeschlossen. Die Vertreibung habe spätestens mit der Eröffnung des selbständigen Textilwarenhandels im November 1952 geendet. Unter den Begriff "Umsiedlung" fielen nur solche im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG), nicht aber spätere Umsiedlungen innerhalb des Bundesgebietes im Sinne des § 26 Abs. 2 BVFG.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Er rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG. Das LSG habe den Begriff "Umsiedlung" mißverstanden.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Der angefochtene Bescheid vom 26. April 1973 ist nicht im Rahmen des § 79 AVG ergangen. Er fußt auf der Bereiterklärung der Beklagten vom 14. März 1973 und läßt sich nur von dieser Grundlage her zutreffend deuten. Da sich der Bescheid vom 15. Februar 1971 mit der Anrechnung der streitigen Zeit als Ersatzzeit noch nicht befaßt hatte, wollte die Beklagte diese Frage in einem besonderen Verfahren prüfen. Die Neuprüfung sollte damit zwar dem Gegenstand nach auf diese Frage beschränkt sein. Eine Beschränkung in der Intensität der Nachprüfung, wie im Rahmen des § 79 AVG, war dagegen nicht gewollt. Der Bescheid vom 26. April 1973 ist daher als gegenständlich beschränkter Zweitbescheid zu verstehen. Zu klären bleibt hiernach, ob eine anrechenbare Anschlußersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG vorliegt. Das ist nicht der Fall.
Der Kläger gehört zwar als Vertriebener zu den in § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG begünstigten Personen (im Sinne der §§ 1 bis 4 BVFG). Nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG wird jedoch nur eine Zeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit angerechnet, die sich an Zeiten der Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung anschließt. Das LSG hat bereits im Ergebnis zutreffend entschieden, daß ein Anschluß an eine individuelle Vertreibungszeit nicht vorliegt. Es ist allerdings zu Unrecht davon ausgegangen, daß spätestens die Eröffnung eines selbständigen Textilwarenhandels im November 1952 die Vertreibung des Klägers beendet habe; nach der ständigen Rechtsprechung endet die Vertreibung in der Regel bereits mit der Begründung eines neuen Wohnsitzes oder ständigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland oder West-Berlin. Im Falle des Klägers (der 1946 aus englischer Gefangenschaft in das Gebiet der Bundesrepublik entlassen wurde) bedeutet das, daß die Vertreibung schon zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt ihr Ende fand; sie war spätestens mit der Aufnahme der ersten Beschäftigung im Bundesgebiet beendet. Hieran aber schloß sich die streitige Zeit der Arbeitslosigkeit eindeutig nicht an.
Die streitige Zeit vom 8. Oktober 1954 bis 10. Juni 1956 hat sich aber auch nicht, wie der Kläger meint, einer Umsiedlung im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG angeschlossen. In dieser Vorschrift ist der Begriff Umsiedlung nicht erläutert; er ist offenbar ebenso wie die anderen dort verwendeten Begriffe aus dem Bundesvertriebenengesetz übernommen worden. Außer in § 1 Abs. 2 Nr. 2 spricht das Bundesvertriebenengesetz zwar auch an anderer Stelle von Umsiedlung, nämlich in § 26, der in seinem Absatz 2 diese Umsiedlung definiert und dabei deutlich macht, daß es sich um eine freiwillige (§ 27 BVFG) Umsiedlung innerhalb des Bundesgebietes handelt, die für alle in den §§ 1 bis 4 genannten Personen in Betracht kommt. Diese Umsiedlung ist aber in § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG offensichtlich nicht gemeint. Das belegt eindeutig die Entstehungsgeschichte der Ergänzung des § 28 Abs. 1 Nr. 6 um die Tatbestände Umsiedlung oder Aussiedlung durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965. Mit dieser Gesetzesänderung sollte, wie die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung zutreffend dargelegt hat, nur erreicht werden, daß auch "Vertriebene" im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG, d.h. solche, die während des 2. Weltkrieges durch sogenannte Umsiedlungsaktionen umgesiedelt worden waren, sowie sogenannte Aussiedler (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG) in den Genuß von Ersatzzeiten kommen - diesen beiden Personengruppen wurden bis dahin im Gegensatz zu den sonstigen Vertriebenen und Flüchtlingen keine Ersatzzeiten zugebilligt (Amtliche Begründung Nr. 8 c zu § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG bzw. § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO des Entwurfs zum RVÄndG, BT-Drucks. IV/2572). Mit dieser Gesetzesänderung sollten insoweit Härten beseitigt, aber keine zusätzlichen Ansprüche für die Personen im Sinne der §§ 1 bis 4 BVFG geschaffen werden. Das aber wäre der Fall gewesen, wenn der in § 28 Abs. 1 Nr. 6 verwendete Begriff Umsiedlung auch die innerdeutsche Umsiedlung im Sinne des § 26 BVFG umfassen würde. Nach § 26 umgesiedelt werden können alle Personen im Sinne der §§ 1 bis 4 BVFG. Wären solche Umsiedlungen einbezogen, dann wäre überdies die Aufzählung "Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung" in § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG verfehlt oder doch unvollständig; es hätte dann nach "Aussiedlung" noch zugefügt werden müssen "Umsiedlung im Sinne des § 26".
Nach alledem ist die Revision des Klägers unbegründet und muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen