Leitsatz (amtlich)

Die Zeit einer anschließenden Krankheit iS des AVG § 28 Abs 1 Nr 6 kann nur dann als Ersatzzeit angerechnet werden, wenn sie sich an eine Zeit individuell nachgewiesener Vertreibung, Flucht usw anschließt; der Anschluß an die pauschale Vertreibungszeit vom 1945-01-01 - 1946-12-31 genügt nicht.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. November 1972 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die 1906 geborene Klägerin ist als Vertriebene anerkannt (Vertriebenen-Ausweis B); sie lebt seit dem 9. September 1944 im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik Deutschland. Die Beklagte gewährte ihr durch Bescheid vom 22. April 1968 eine Berufsunfähigkeitsrente, seit 1. Februar 1971 bezieht sie Altersruhegeld (Bescheid vom 4. November 1971). Bei der Rentenberechnung hat die Beklagte jeweils die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 als pauschale Ersatzzeit berücksichtigt. Die Klägerin meint, darüber hinaus sei ihr auch die Zeit einer anschließenden Erkrankung - sie sei bis zum 31. Dezember 1957 arbeitsunfähig krank gewesen (offene Lungen-Tbc) - als Anschlußersatzzeit anzurechnen (§ 28 Abs. 1 Nr. 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).

Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ließ dahingestellt, ob im Falle der Klägerin von der tatsächlichen Beendigung ihren Flucht bzw. Vertreibungszeit (9. September 1944) oder dem Ende der pauschalen Ersatzzeit (31. Dezember 1946) auszugehen sei, denn auch in letzterem Fall fehle es an dem erforderlichen Anschluß, weil die folgende Krankheitszeit der Klägerin frühestens im Oktober 1947 begonnen habe. Die für eine weite Auslegung des Begriffs "Anschluß" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG sprechenden besonderen Gesichtspunkte seien bei der Regelung der Ersatzzeiten ohne Bedeutung; die Anschlußersatzzeiten müßten sich deshalb lückenlos an die primären Ersatzzeiten anschließen.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Änderung der Bescheide vom 22. April 1968 und 4. November 1971 zu verurteilen, bei der Feststellung der Rente wegen Berufsunfähigkeit und des Altersruhegeldes die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 31. Dezember 1957 als nachgewiesene Ersatzzeit zusätzlich zu berücksichtigen.

Sie rügt unrichtige Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG. Die Ansicht des LSG sei wirklichkeitsfremd und nicht haltbar. Als Zeitraum für die Wahrung des "Anschlusses" biete sich die Zweijahresfrist des § 36 AVG an. Die Auffassung des LSG, diese weite Auslegung des Begriffes "Anschluß" sei im Rahmen des § 28 AVG nicht möglich, sei unzutreffend. Die vom LSG für die Richtigkeit seiner Meinung behaupteten besonderen Gesichtspunkte seien nicht erkennbar.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet; sie hat keinen Anspruch darauf, daß ihr die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 31. Dezember 1957 als nachgewiesene Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG angerechnet wird. Nach dieser Vorschrift werden bei Personen im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) - die Klägerin gehört unstreitig zu diesem Personenkreis - für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten angerechnet: die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 (was geschehen ist) sowie außerhalb dieses Zeitraumes liegende Zeiten der Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits im Urteil vom 5. August 1970 - 4 RJ 79/70 (SozR Nr. 48 zu § 1251 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) - entschieden, daß sich die Anschlußersatzzeit der unverschuldeten Arbeitslosigkeit nicht lediglich an die sogenannte pauschale Vertreibungszeit (1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946) anschließen darf, die für Vertriebene usw. generell zu berücksichtigen ist; vielmehr sei ein Anschluß nur bei einer Zeit individuell nachgewiesener Vertreibung zulässig. Dies ergebe sich aus der Gesamtregelung der jeweils individuell festzustellenden Ersatzzeit des § 1251 Abs. 1 RVO (= § 28 Abs. 1 RVO); davon weiche lediglich § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO in seiner 1. Alternative mit der Pauschalersatzzeit ab. Der Sinn dieser Regelung liege erkennbar darin, daß unmittelbare Auswirkungen der Vertreibung usw. ohne Bezug auf die Einzelfallumstände nur bis Ende 1946 zu unterstellen seien. Der erkennende Senat hält diese Rechtsprechung, der inzwischen auch der 12. Senat gefolgt ist (vgl. Urteil vom 27. Juni 1973 - 12 RJ 372/72), für richtig und tritt ihr nach eigener Prüfung bei. Das bedeutet, daß die im Urteil des 4. Senats hinsichtlich unverschuldeter Arbeitslosigkeit dargelegten Gründe in gleicher Weise auch für eine anschließende Krankheitszeit Gültigkeit haben. Für eine unterschiedliche Regelung der in derselben Vorschrift aufgeführten Anschlußersatzzeiten fehlt jeder innere Grund.

Das LSG hat die Krankheitszeiten der Klägerin nur für Mai 1945, von Oktober 1947 bis Ende 1953 und dann wieder von Januar bis einschließlich September 1959 als hinreichend nachgewiesen angesehen. Davon ist die in den Mai 1945 fallende Krankheitszeit bereits durch die Pauschalersatzzeit erfaßt. Die darüber hinaus nachgewiesene Krankheitszeit der Klägerin begann nach den mit der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG frühestens im Oktober 1947, also erst nach mehr als drei Jahren seit dem Ende ihrer tatsächlichen, individuell nachgewiesenen Vertreibung (9. September 1944). Somit ist die Anrechnung dieser Krankheitszeiten ausgeschlossen.

Das LSG hat noch geprüft, ob etwa eine Anrechnung der im Oktober 1947 begonnenen Krankheitszeit daraus herzuleiten wäre, daß sie nur 10 Monate nach dem Ende der pauschalen Ersatzzeit (31. Dezember 1946) begonnen hat. Es hat dabei erörtert, ob die weite Auslegung des Begriffs "Anschluß" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aF (bis zum Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972) auf § 28 AVG übertragbar ist, hat das jedoch verneint. Im vorliegenden Fall kommt es aber auf diese Frage nicht mehr an. Abgesehen davon hätte der erkennende Senat schon nach dem Sinn und Zweck der Ersatzzeitenregelung des § 28 Abs. 1 AVG erhebliche Bedenken, den hier verwendeten Begriff "anschließend" ebenso weit auszulegen wie in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aF.

Die Revision der Klägerin ist somit unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646955

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