Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Prüfung, ob die Versicherte iS von AVG § 43 Abs 1 (= RVO § 1266 Abs 1) den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat, bleiben die Mehrkosten außer Betracht, die einem außerhalb des Familienwohnsitzes beschäftigten Ehegatten durch doppelte Haushaltsführung entstehen.

2. Dagegen sind Schuldtilgungsbeträge Teil des Familienunterhalts iS des AVG § 43 Abs 1, gleichgültig aus welcher Zeit die Schulden auch stammen und wer sie bezahlt hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

Familienunterhalt iS der BGB §§ 1360 ff:

1. Zum Begriff des Familienunterhalts in BGB § 1360a.

2. Für die Beurteilung des Unterhalts der Familie iS der BGB §§ 1360 ff ist von den Nettoeinkünften - einschließlich der Steuererstattungen - der Familienmitglieder auszugehen, von denen gegebenenfalls Unterhaltsleistungen an Personen, die nicht zur Familie gehören (zB geschiedener Ehegatte), abzusetzen sind; Schuldtilgungsbeträge, auch wenn sie aus vorehelicher Zeit stammen, sind hingegen nicht vom Familienunterhalt abzuziehen.

 

Normenkette

AVG § 43 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1266 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; BGB § 1360a Abs. 1 Fassung: 1957-06-18

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. März 1976 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Witwerrente nach § 43 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aus der Versicherung seiner am 15. Juni 1970 verstorbenen Ehefrau H W, mit der er seit 1964 in dritter Ehe verheiratet war. Aus dieser Ehe stammt ein im Juni 1964 geborener Sohn. Die Beklagte hat seinen Antrag mit Bescheid vom 20. November 1970 abgelehnt, weil die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie nicht überwiegend bestritten habe.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Januar 1972), das Landessozialgericht (LSG) hat ihr mit Urteil vom 3. März 1976 stattgegeben. Da die Versicherte seit Anfang 1970 mehrfach, zuletzt wegen Leberzirrhose arbeitsunfähig krank und ihr Tod aufgrund eines Leberkomas eingetreten war, hat das LSG als letzten wirtschaftlichen Dauerzustand das Jahr 1969 angesehen. In dieser Zeit habe die Versicherte ihre Familie überwiegend unterhalten. Der Kläger habe zwar damals ein höheres Arbeitsentgelt als die Versicherte erzielt; nach Abzug der Lohn- und Kirchensteuer habe er 19.483,44 DM, die Versicherte 10.804,80 DM verdient; zusätzlich seien ihm 2.486,15 DM, der Versicherten 1.075,35 DM an Einkommensteuer (für das Jahr 1968) erstattet worden. Beim Kläger seien jedoch abzuziehen: (1.) 3.732,- DM, die er seiner ersten Ehefrau und einem Sohn aus zweiter Ehe als Unterhalt (einschließlich Familienkrankenhilfe) gezahlt habe, (2.) 1.600,- DM, womit er eine aus vorehelicher Zeit stammende Schuld getilgt habe. Außerdem sei zu berücksichtigen, daß er nicht wie die Versicherte am Familiensitz in M (Baden), sondern bei einem Bauunternehmen in S (als Bauingenieur) gearbeitet habe; er habe dort eine Zweitwohnung gehabt und sich nur an den Wochenenden in der Familienwohnung aufgehalten. Im Hinblick hierauf seien (3.) seine Mehraufwendungen für die Haushaltsführung in S abzusetzen, die mindestens 4.528,25 DM betragen hätten (Miete, Heizungs- und Energiekosten der Zweitwohnung, Familienheimfahrten, geschätzte Verpflegungsmehrkosten); auch sie gehörten nicht zum Familienunterhalt im Sinne von § 43 Abs. 1 AVG. Im Ergebnis verringere sich die Unterhaltsdifferenz somit auf rd. 300,- DM. Demgegenüber komme auf der Seite der Versicherten noch die alleinige Versorgung des gemeinsamen Kindes von Montag bis Freitag jeder Woche hinzu; setze man dafür täglich 1 1/2 Stunden zu 3,- DM bis 4,- DM die Stunde an, dann habe die Versicherte 1.170,- DM bis 1.560,- DM zusätzlich zum Familienunterhalt beigetragen, also um rd. 1.000,- DM mehr als der Kläger. Auf die Bewertung der Haushaltsarbeiten der Versicherten komme es daher nicht an.

Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Zur Begründung rügt sie die Verletzung des § 43 Abs. 1 AVG. Das LSG habe den Begriff des Familienunterhalts unzutreffend und von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) abweichend interpretiert. Für diesen Begriff seien die nach § 1360a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geltenden Grundsätze maßgebend. Danach sei der angemessene Familienunterhalt identisch mit dem gesamten Lebensbedarf der Familie; hierzu gehörten die durch doppelte Haushaltsführung entstehenden Mehrkosten; sie seien nicht unterhaltsfremd.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); seine Entscheidung läßt sich auf die bisher getroffenen Feststellungen nicht stützen.

Der Kläger hat nach § 43 Abs. 1 AVG Anspruch auf Witwerrente, wenn die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat; dies muß während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor ihrem Tode der Fall gewesen sein. Daß das LSG als diesen Zeitraum das Jahr 1969 herangezogen, d.h. die ab Januar 1970 eingetretenen Krankheitszeiten als letzten "Dauerzustand" ausgeklammert hat, ist nach der Rechtsprechung des BSG nicht zu beanstanden (vgl. u.a. BSGE 35, 243, 245). Da 1969 zur Familie im Sinne von § 43 Abs. 1 AVG nur der Kläger, die Versicherte und der voll unterhaltsberechtigte Sohn aus dieser Ehe zählten, müßte die Versicherte sonach in diesem Jahr zum Unterhalt der drei Personen tatsächlich mehr als die Hälfte beigesteuert haben (SozR Nr. 4 zu § 1266 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Ob das der Fall gewesen ist, kann der Senat indessen nicht abschließend beurteilen; hierzu sind weitere Feststellungen des LSG erforderlich, die unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu treffen sind.

Wie das BSG mehrfach entschieden hat (BSGE 28, 185, 189; SozR Nrn. 4, 10 und 14 zu § 1266 RVO), gibt der in §§ 1360 ff BGB verwendete Begriff "Unterhalt der Familie" einen brauchbaren Maßstab (Anhalt) für die Auslegung des gleichen Begriffs in § 43 Abs. 1 AVG; nach § 1360a Abs. 1 BGB umfaßt er alles, was nach den Verhältnissen der Ehegatten erforderlich ist, um die Kosten des Haushalts zu bestreiten und die persönlichen Bedürfnisse der Ehegatten und den Lebensbedarf der gemeinsamen unterhaltsberechtigten Kinder zu befriedigen.

Bei der Beurteilung der Frage, welche Geldbeträge sonach dem Unterhalt der Familie im Jahre 1969 zuzurechnen sind, kann der Senat dem LSG nur zum Teil folgen.

Nicht zu beanstanden ist zunächst das Ausklammern der Unterhaltszahlungen des Klägers an seine erste Ehefrau und den Sohn aus zweiter Ehe (einschließlich dessen Krankenversicherung); da diese Personen nicht zur Familie im Sinne des § 43 AVG gehörten, handelte es sich um familienfremde Leistungen.

Zu Recht hat das LSG auch die von den Arbeitsverdiensten einbehaltene Lohn- und Kirchensteuer nicht zum Familienunterhalt gerechnet, andererseits aber die Einkommensteuerrückzahlungen hinzugezählt. Das entspricht hinsichtlich des Abzugs der Lohnsteuer der vom Senat bereits früher vertretenen Auffassung (SozR Nr. 22 zu § 1266 RVO). Der Senat hat damals entschieden, daß von den Nettoeinkünften der Familienmitglieder auszugehen sei, weil nur sie der Familie effektiv zufließen und für ihren Unterhalt tatsächlich zur Verfügung stehen. Bleibt aber die einbehaltene Steuer außer Betracht, ist es nur folgerichtig, Steuererstattungen wieder dem Familienunterhalt zuzuordnen.

Entgegen der Auffassung der Beklagten sind aber ferner die Kosten des Zweithaushalts in S von vornherein vom Familienunterhalt abzusondern. Denn die durch die doppelte Haushaltsführung entstandenen Kosten können, selbst wenn sie zum Familienunterhalt im Sinne des § 1360a BGB zu rechnen wären, kein Familienunterhalt im Sinne des § 43 Abs. 1 AVG sein. Es müssen vielmehr insoweit dieselben Erwägungen wie beim Ausklammern der aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen zu zahlenden Steuern und Abgaben Platz greifen. Es handelt sich hier um Ausgaben, die überhaupt erst ein zur Deckung des Unterhaltsbedarfs heranzuziehendes Arbeitseinkommen ermöglichen; sie sind ihrer Art nach zwangsläufig mit dieser Unterhaltsquelle verknüpft. Die auf doppelter Haushaltsführung beruhenden Aufwendungen stehen grundsätzlich in keiner wirtschaftlichen Beziehung zu den gemeinsamen Unterhaltsbedürfnissen der Familie; bevor der Familienetat für den gemeinsamen Unterhalt gebildet wird, mindern sie bereits den Beitrag, den das betroffene Mitglied zum Familienunterhalt beisteuern kann. Diese Kosten können daher in aller Regel nicht den Charakter einer "gemeinsamen Familienausgabe" haben, wie dies in SozR Nr. 10 zu § 1266 RVO für Kosten eines auf dem Weg zur Arbeitsstätte benutzten Pkw angenommen worden ist. Sie zum Familienunterhalt zu rechnen, wäre hiernach unbillig und ungerechtfertigt, weil sie hierfür effektiv nicht zur Verfügung gestanden haben.

Im Gegensatz zu diesen Kosten sind jedoch die vom LSG außerdem ausgesonderten Schuldtilgungsbeträge solche Aufwendungen, die dem Familienunterhalt i.S. des § 43 Abs. 1 AVG zuzurechnen sind. Dem steht nicht entgegen, daß rechtlich nur der Kläger Schuldner ist und daß die Schuld aus vorehelicher Zeit stammt. Schon die Definition des Familienunterhalts in § 1360a BGB schließt die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse eines Ehegatten in den Familienunterhalt ein. Tatsächlich berühren solche Schulden den gemeinsamen Unterhalt der Familie; ihre Tilgung erfolgt aus den zur Verfügung stehenden Unterhaltsmitteln, das wirtschaftliche Gewicht der beiderseitigen Einkommen wird damit zu Lasten des schuldenfreien Ehegatten verschoben. Es kann daher nicht zulässig sein, auch die zur Tilgung von Schulden nur eines Ehegatten verwandten Beträge, gleichgültig aus welcher Zeit die Schulden stammen und wer im Einzelfall sie bezahlt hat, vom Familienunterhalt abzuziehen. Diese Beträge sind auch nicht, wie zB die Lohnsteuer und die Mehrkosten der doppelten Haushaltsführung zwangsläufig mit einer bestimmten Unterhaltsquelle in der Weise verknüpft, daß sie den daraus fließenden Ertrag von vornherein mindern; es ist deshalb unerheblich, daß im vorliegenden Fall der Arbeitgeber sie bereits vom Verdienst des Klägers abgezweigt hat. Schuldtilgungsbeträge sind nach alledem Teil des Familienunterhalts im Sinne des § 43 Abs. 1 AVG.

Da das LSG festgestellt hat, die Versicherte habe auch nach Abzug des betreffenden Tilgungsbetrages (von 1.600,- DM) noch nicht soviel für den Familienunterhalt beigetragen wie der Kläger (Differenz rd. 300,- DM), mußte es für sein Ergebnis noch die Haushaltsarbeiten der Versicherten bewerten. Dies hat es, weil das nach seiner Auffassung genügte, nur insoweit getan, als die Versorgung des gemeinsamen Kindes von Montag bis Freitag jeder Woche in Rede stand; hierdurch hatte die Versicherte 1969 nach den Berechnungen des LSG im Höchstfall 1.560,- DM zusätzlich zum Familienunterhalt beigetragen. Erhöht sich das dem Unterhalt der Familie zuzurechnende Einkommen des Klägers indessen nun um die 1.600,- DM, mit denen er seine Schulden abgezahlt hat, dann ergibt sich keine Differenz mehr zugunsten der Versicherten. Nach den bisherigen Feststellungen des LSG steht ihrem Einkommen von 13.440,15 DM (11.880,15 plus 1.560,- DM) dann ein Einkommen des Klägers von 13.709,34 DM (16.637,59 plus 1.600,- DM minus 4.528,25 DM) gegenüber, so daß sie den Unterhalt ihrer Familie nicht überwiegend bestritten hat.

Der Anspruch des Klägers auf Witwerrente kann hiernach nur begründet sein, wenn die Versicherte noch weitere ihr gutzubringende Arbeiten im Haushalt geleistet hat. Ob das der Fall ist, hat das LSG offen gelassen; es wird die fehlenden tatsächlichen Feststellungen deshalb nachholen müssen. Dabei wird es für die Wochenenden, an denen der Kläger zu Hause war, unter anderem zu bedenken haben, daß Ehegatten bei gleicher beruflicher Belastung sich grundsätzlich nach besten Kräften im gleichen Umfang an der Haushaltsführung und der Kindesbetreuung beteiligen müssen. Zu beachten ist ferner, daß - wie schon dargelegt - bei der Beurteilung der Frage, welche Beträge dem Unterhalt der Familie zuzurechnen sind, von den Nettoeinkünften der Familienmitglieder auszugehen ist (SozR Nr. 12 zu § 1266 RVO; BSGE 32, 197, 199).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 186

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