Leitsatz (amtlich)

Die stationäre Heilbehandlungen umfassen außer den in RVO § 1237 Abs 2 erwähnten medizinischen Maßnahmen auch damit zusammenhängende Nebenleistungen; als Nebenleistung in diesem Sinne ist auch die Gewährung eines geringfügigen Barbetrags zur Befriedigung kleinerer persönlicher Bedürfnisse ("Taschengeld") zulässig.

 

Normenkette

RVO § 1237 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. März 1960 wird aufgehoben; die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 15. Oktober 1959 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob ein Träger der Rentenversicherung berechtigt ist, während der Durchführung einer von ihm gewährten stationären Heilbehandlung dem Betreuten neben dem Übergangsgeld ein sogen. "Taschengeld" zu zahlen.

Die Klägerin gewährt - wie alle Rentenversicherungsträger - ihren Versicherten, die sich auf Kosten der Rentenversicherung in stationärer Heilbehandlung befinden, einen geringfügigen Betrag - von z. Zt. 1 DM täglich - zur Befriedigung kleinerer persönlicher Bedürfnisse, z. B. zur Haarpflege, zum Kauf von Körperpflegemitteln, einer Zeitung oder dergleichen. Sie rechnet dieses "Taschengeld" zu den erforderlichen und deshalb erlaubten Nebenmaßnahmen bei stationären Heilbehandlungen. Ihrer Meinung nach verdient diese Art der Nebenleistung in bar den Vorzug vor entsprechenden Sachleistungen; sie sei für die Verwaltung einfacher und wirtschaftlicher, für den Patienten aber individueller.

Dagegen ist die Beklagte der Ansicht, die Vorschriften der Rentenversicherungen über "Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit", die die gesetzliche Grundlage für die Durchführung von Heilbehandlungen bildeten, sähen keine Barleistung dieser Art vor, so daß die Zahlung eines Taschengeldes ungesetzlich sei. Das Bundesversicherungsamt ordnete deshalb im Aufsichtswege an, daß die Zahlung von Taschengeld zu unterbleiben habe (Anordnung vom 18. Februar 1959). Diese Anordnung griff die Klägerin mit der Klage an und hatte damit vor dem Sozialgericht (SG) Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Klage jedoch ab; es ließ die Revision zu (Urteil vom 11. März 1960).

Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Sie rügte, das Berufungsgericht habe § 1237 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unrichtig angewandt, indem es den Begriff "alle erforderlichen medizinischen Maßnahmen" in dieser Vorschrift zu eng ausgelegt habe.

Die Beklagte hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Die Klägerin darf Gelder nur für die gesetzlich vorgeschriebenen Zwecke verwenden (§ 25 Abs. 1 RVO). Das Bundesversicherungsamt ist verpflichtet, dies zu überwachen (§ 30 Abs. 1 RVO) und deshalb berechtigt zu prüfen, ob die Zahlung von Taschengeld durch die Klägerin mit dem Gesetz vereinbar ist. Der Anordnung vom 18. Februar 1959 steht jedoch das Gesetz entgegen. Die Klägerin hält sich bei Taschengeldzahlungen - jedenfalls in der bisher üblichen Höhe - im Rahmen ihrer Befugnisse.

Zu den Vorkehrungen, die die Klägerin zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit als Regelleistungen zu treffen hat, gehören ua Heilbehandlungen. Diese umfassen - mindestens - alle erforderlichen medizinischen Maßnahmen, insbesondere stationäre Behandlungen (§§ 1235, 1237 Abs. 2 RVO). Das Gesetz sagt nicht definitiv, was unter Heilbehandlungen zu verstehen ist. Gesetzlich geregelt sind lediglich wenige Sonderfälle bei der Durchführung von Heilbehandlungen, die aber für die Entscheidung dieses Rechtsstreits ohne Bedeutung sind (§§ 1238, 1239 RVO). Alles weitere über Heilbehandlungen ist offen geblieben. Dieses gesetzliche Schema - von einer gesetzlichen Regelung kann bei der Unvollständigkeit der Vorschriften kaum gesprochen werden - stellt eine unfertige, jedoch auslegungsfähige Formulierung des Gewollten dar. Was nun gewollt ist, deuten die Wortfolgen "die Heilbehandlung umfaßt" und "alle erforderlichen medizinischen Maßnahmen" in § 1237 Abs. 2 RVO an. Daß die Heilbehandlungen sich nicht in rein medizinischen Verrichtungen erschöpfen sollen, darf aus dem vorangehenden Wort "umfaßt" gefolgert werden. Es heißt nicht etwa, daß eine Heilbehandlung in den erforderlichen medizinischen Maßnahmen "besteht". Das Wort "umfassen" läßt vielmehr die Deutung zu, daß in den Begriff "Heilbehandlung" auch solche Leistungen mit einbezogen sind, die den medizinischen Maßnahmen unmittelbar zugehören. Das ist allgemein - auch von den Aufsichtsbehörden der Rentenversicherungsträger - anerkannt z. B. für die freie Beförderung zu den Stätten medizinischer Maßnahmen, für Unterkunft, Verpflegung u. dgl.. Dies hat zudem im Gesetz selbst, nämlich in § 1241 Abs. 2 letzter Satz RVO seinen Niederschlag gefunden; dort ist davon die Rede, daß das Übergangsgeld mit Rücksicht auf gewährte Unterkunft und Verpflegung gekürzt werden kann. Die Zulässigkeit derartiger Leistungen wird also vorausgesetzt.

Die als solche umrißhafte Regelung, die der Gesetzgeber in § 1237 Abs. 2 RVO getroffen hat, erklärt sich daraus, daß die Heilbehandlungen - genau wie die Heilverfahren des früheren Rechts (§ 1311 RVO aF), für die es ebenfalls keine vollständige Regelung gab, und anders als das eigentliche Rentenrecht, das genau und detailliert festgelegt ist (§§ 1245 bis 1301 RVO), - wegen der Vielfalt der Besonderheiten und Bedürfnisse einer exakten und endgültigen Normierung bislang nur schwer zugänglich sind. Eine starre, ins einzelne gehende Regelung war auch nicht erwünscht. Sollte es doch - wie seit eh und je - zu den Selbstverwaltungsaufgaben der Rentenversicherungsträger gehören, die Möglichkeiten der Rehabilitation zu erkennen, zu erproben und auf- und auszubauen. Den Gesetzgeber war bewußt, daß seiner Regelung der Charakter des Vorläufigen und einer gewissen Unvollkommenheit anhaftet. In der amtlichen Begründung zu der Vorschrift, die dem § 1237 des Gesetzes entspricht, das ist § 1242 des Gesetzentwurfs, heißt es wörtlich: "Im ganzen gesehen handelt es sich bei dem § 1242 nur um eine Rahmenvorschrift. Sie soll dem Versicherungsträger möglichst weiten Spielraum lassen, weil für die Ausgestaltung der Rehabilitation im heutigen Sinne noch nicht genügend Erfahrungen vorliegen" (BT-Drucks. 2437 - 1953, 2. Wp. - S. 67). Diese Erläuterung zur Eigenart der gesetzlichen Vorschrift ist für die Auslegung ein bedeutsamer Hinweis. Nicht weniger wichtig ist aber auch, daß der Gesetzgeber bei der Neuregelung der Rentenversicherung im Jahre 1957 kein Neuland oder rechtsfreies Gebiet betrat. Er fand vielmehr gerade auf diesem Leistungssektor von ihm selbst gebilligte Gegebenheiten und Rechtsinstitute vor, die sich unter der Eigenverantwortung der Rentenversicherungsträger organisch entwickelt hatten und die er, wie aus seinem Schweigen dazu geschlossen werden darf, übernommen hat. Die - ergänzungsbedürftige - Gesetzgebung zu den Rehabilitationsmaßnahmen ist aus dieser Sicht her sinnvoll und gewollt. Um der Selbstverwaltung die nötige Gestaltungsfreiheit zu belassen, bot sich für den Gesetzgeber das Mittel der Rahmenvorschriften als der geeignete Weg an. Der Umstand, daß die Vorschriften über Rehabilitationsmaßnahmen ein Taschengeld ausdrücklich nicht erwähnen, besagt daher noch nichts über die Befugnis der Klägerin, es trotzdem zahlen zu dürfen.

Die Taschengeldleistung ist dem Begriff der "Heilbehandlung" zuzuordnen; eine derartige rechtliche Einordnung beruht auf einer jahrzehntelangen übereinstimmenden Verwaltungsübung der Rentenversicherungsträger. Die Rentenversicherungsträger ließen sich von der Erwägung leiten, daß zu den medizinischen Maßnahmen immer diejenigen notwendigen Nebenleistungen zu treten hätten, die die ersteren ergänzen und unterstützen und ohne die der Kurerfolg vereitelt oder vermindert würde. Medizinische Maßnahmen und Nebenleistungen zusammen ergeben erst eine geordnete stationäre Heilbehandlung. Die Nebenleistungen können je nach der Art der Behandlung vielfältig sein. Zu ihnen gehört auch die Befriedigung der kleinen persönlichen Bedürfnisse, für die das Taschengeld gedacht ist. Ob die Versorgung mit diesen kleinen Dingen des täglichen Lebens durch entsprechende Sachleistungen geschieht oder durch einen minimalen Geldbetrag abgegolten wird, ist rechtlich nicht von entscheidender Bedeutung (vgl. auch § 1244 a Abs. 6 Buchst. c RVO). Beide Formen sind vom Gesetz gedeckt, weil dieses insoweit nur einen Rahmen bildet. Wählt ein Versicherungsträger für diese Nebenleistungen die Form der Abgeltung, so macht er von einer zulässigen Gestaltungsmöglichkeit Gebrauch, wandelt aber nicht etwa eine fest bestimmte Sachleistung generell in eine Barleistung um. Das letztere wäre allerdings unzulässig. Daß es bei unbestimmten Tatbeständen oder Rechtsbegriffen, deren Anwendung an sich der Aufsicht und Gerichtskontrolle unterliegt, in gewissem Umfange freie Gestaltungsmöglichkeiten der Verwaltung geben kann, ist allgemein anerkannt. Fällt somit die Gewährung von Taschengeld in der bisher üblichen Höhe noch unter die Vorschrift des § 1237 Abs. 2 RVO, so darf sie im Aufsichtswege nicht beanstandet werden.

Die Auffassung, daß das stationäre Heilverfahren - insgesamt gesehen - die Taschengeldgewährung mit umfaßt, ist von den Aufsichtsbehörden früher nie beanstandet worden; diese haben die Verwaltungspraxis vielmehr - gleich aus welcher rechtlichen Ansicht - tatsächlich gefördert. Das tritt namentlich darin zutage, daß die Aufsichtsstellen die Haushaltspläne der Versicherungsträger, in denen der Aufwand für Taschengeldleistungen eigens ausgewiesen wurde, immer wieder genehmigten. Die etatmäßige Bereitstellung der erforderlichen Mittel und ihre aufsichtsbehördliche Sanktion dürfen als Legitimation verwaltungsmäßigen Handelns angesehen werden (vgl. dazu Bundesverwaltungsgericht 6, 282, 287/8). Der Gesetzgeber fand mithin gerade beim Taschengeld eine gefestigte und im Rechtsbewußtsein der Rentenversicherungsträger wie der Versicherten verankerte Verwaltungsübung vor. - Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß der einzelne Versicherte aus einer derartigen Übung eine subjektive Berechtigung herleiten kann, wohl aber, daß der Versicherungsträger objektiv-rechtlich als zur Leistung ermächtigt gilt. Die Verwaltungsübung hat durch die lange Dauer ihres Gebrauchs eine - wenn auch nicht normative, so aber doch faktische - Rechtsgeltung erlangt. Gerade um deswillen hätte es eines ausdrücklichen Hinweises bedurft, wenn die sanktionierte Übung hätte beendet werden sollen.

In diesem Zusammenhang weist die Beklagte zu Unrecht auf die Änderung der Vorschriften über das Hausgeld in der Krankenversicherung (§§ 186, 194 RVO) hin. Diese unter anderen Voraussetzungen und in anderer Verknüpfung vorgenommene Gesetzesänderung zeigt keinen grundlegenden Wandel der Rechtsauffassung an. Diese hat vielmehr im § 1244 a Abs. 6 Buchst. c RVO und im § 21 Abs. 3 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Januar 1961, also noch in jüngster Zeit, ihren Niederschlag gefunden. Die Gesetzesänderung auf dem Gebiete der Krankenversicherung zwingt in der Rentenversicherung nicht zu einer anderen als der gefundenen Lösung. Das sogenannte Taschengeld der Krankenversicherung war im Rahmen der Hausgeldregelung früher eine Mehrleistung für Versicherte ohne Angehörige, ist aber inzwischen auch für diese Versicherten eine Regelleistung geworden. Es war keine Leistung, die allen Versicherten neben der Krankenhauspflege und dem Hausgeld gewährt wurde. In der Rentenversicherung hatte sich, wie ausgeführt, eine andere feste Übung entwickelt. Die tatsächlichen Verhältnisse dürften in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung auch unterschiedlich liegen: der Aufenthalt in einem Krankenhaus ist meist nur kurz, ein Heilverfahren dauert oft sehr lange, bei Knochentuberkulose vielleicht Jahre. Das erfordert einen individuelleren Spielraum der Verwaltung zugunsten der Patienten.

Die vorstehenden Ausführungen dürfen jedoch nicht dahin verstanden werden, daß die Klägerin bei ihren Entscheidungen über die Art der Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen völlig frei sei. Ihr ist nicht die Freiheit ungebundenen Ermessens eingeräumt. Dafür spricht z. B. der Gebrauch des Wortes "erforderlich" in § 1237 Abs. 2 RVO. Es wird vielmehr von einer Unbestimmtheit der Rechtsfolgeanordnung auszugehen sein, bei der die Rechtsanwendung - ähnlich wie bei einem unbestimmten Rechtsbegriff - sowohl von der Aufsichtsbehörde als auch von den Gerichten nachprüfbar bleibt.

Versteht man § 1237 Abs. 2 RVO, wie dargelegt, dahin, daß diese Vorschrift die Taschengeldleistung mit umfaßt, dann erledigen sich die Überlegungen der Aufsichtsbehörde, die sich auf andere Vorschriften stützen, von selbst. Das Taschengeld ist kein Mittel der "sozialen Betreuung" (§ 1237 Abs. 1 und 4 RVO); es dürfte selbst dann gewährt werden, wenn das Gesetz die Leistungsart der sozialen Betreuung nicht eingeführt hätte. Es überschneidet sich deshalb nicht mit dem Übergangsgeld (§ 1237 Abs. 4 in Verbindung mit § 1241 RVO). Die eine Leistung schließt die andere nicht notwendig aus. Auch zu den "zusätzlichen Leistungen aus der Versicherung" (§§ 1305, 1306 RVO) zählt das Taschengeld nicht. Denn zusätzliche Leistungen kommen erst in Betracht, wenn eine Leistung nicht unter den Begriff einer Regelleistung subsumiert werden kann. Davon ist aber nach dem vorher Gesagten auszugehen. Die Klägerin darf also ein "Taschengeld" gewähren, ohne die Genehmigung der Aufsichtsbehörde einholen zu müssen.

Die Anordnung des Bundesversicherungsamtes überschritt daher das Aufsichtsrecht.

Daß keine Kosten zu erstatten sind, folgt aus § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2379995

BSGE, 226

NJW 1964, 1340

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