Leitsatz (amtlich)
Trifft eine Schädigung iS des BVG § 1 einen Körperteil, der vorher unabhängig vom Wehrdienst geschädigt worden war, so ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles zu bewerten. Sie wird in der Regel höher als der durch den Vorschaden eingetretene Verlust einer oder mehrerer Funktionen (Bewegungseinschränkung, Versteifung, Verkürzung) dieses Körperteils anzunehmen sein, wegen des Vorschadens aber regelmäßig nicht den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit erreichen, der ohne den Vorschaden zuzubilligen wäre.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 1 Fassung: 1964-02-21
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. Juni 1964 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger war seit dem zweiten Lebensjahr beinleidend. Das rechte Bein war verkürzt, der Unterschenkel verkrümmt; vier Querfinger oberhalb des Sprunggelenks bestand eine Pseudoarthrose, welche durch mehrere Operationen nicht beseitigt werden konnte.
Am 17. Mai 1945 wurde der Kläger im Alter von 12 Jahren durch die Explosion eines Sprengkörpers am rechten Unterschenkel so schwer verletzt, daß dieser abgenommen werden mußte. Am 10. Oktober 1957 beantragte er die Gewährung von Versorgung. Das Versorgungsamt (VersorgA) stellte als kriegsbedingte Schädigungsfolgen fest: 1. Amputation am rechten Unterschenkel bei vorgeschädigtem Bein, 2. Narben und Stecksplitter im Bereich der rechten Hand, des Rückens links und beider Beine (Bescheid vom 29. Oktober 1958 und Anerkenntnis vom 25. Juni 1964); es schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen des kriegsunabhängigen Beinleidens auf 40 bis 50 v. H. und versagte die Gewährung von Versorgungsrente, weil die durch den Kriegsschaden verursachte MdE weniger als 25 v. H. betrage. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA) wies mit Bescheid vom 16. April 1959 den Widerspruch des Klägers zurück.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hob mit Urteil vom 5. Februar 1960 die Verwaltungsbescheide auf und verurteilte den Beklagten, wegen der anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer MdE um 30 v. H. vom 1. Oktober 1957 an zu gewähren. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 25. Juni 1964 als unbegründet zurück. Zwar sei nach den Verwaltungsvorschriften (VerwV) "lediglich die infolge der Schädigung hinzugetretene weitere MdE der Rentenbemessung zugrunde zu legen", wenn "bei Eintritt der Schädigung eine meßbare MdE an demselben Organsystem bestanden" habe. Diese VerwV paßten aber nicht für den vorliegenden Fall; der durch Pseudoarthrose geschädigte Unterschenkel könne nicht dem abgesetzten Unterschenkel gleichgesetzt werden; dem Kläger stehe daher an sich eine Rente nach einer MdE um 40 v. H. zu. Die beantragte Rente nach einer MdE um 30 v. H. müsse ihm daher zugesprochen werden.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Beklagte:
Die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 25.6.1964 und des Sozialgerichts Lübeck vom 5.2.1960 werden aufgehoben; die Klage wird abgewiesen.
Er rügt eine Verletzung der §§ 1 und 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), weil der Gesundheitsschaden durch Amputation dem Gesundheitsschaden infolge der Beinarthrose gleichzustellen sei (ebenso BSG 17, 99 und 114). Die vom Kläger herangezogene Entscheidung des früheren Reichsversorgungsgericht (RVG) in RVG 3, 185 betreffe einen anderen Fall. Durch den Kriegsunfall sei die Erwerbsfähigkeit nicht weiter herabgesetzt worden. Da nachteilige Folgen fehlten, müsse eine Rente versagt werden.
Der Kläger beantragt:
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Nach RVG 3, 185 seien die Versorgungsrenten ohne Rücksicht auf die Höhe der vor dem Eintritt der Schädigung vorhandenen Erwerbsfähigkeit einheitlich bemessen. Die Schädigung i. S. des § 1 BVG mindere die Erwerbsfähigkeit in dem vom LSG festgestellten Umfange, so daß das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden sei. Die Berechnung mittels einfacher Subtraktion eines auf dem Vorschaden beruhenden imaginären Grades der MdE von der vollen Erwerbsfähigkeit könne nicht zu einem richtigen Ergebnis führen.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§ 164 Abs. 1 SGG) worden; ihr ist jedoch der Erfolg zu versagen.
Streitig ist, wie die MdE des Klägers zu bewerten ist; dabei muß sein altes Beinleiden berücksichtigt und darauf geprüft werden, ob und in welchem Ausmaß es als Vorschaden die kriegsbedingte MdE beeinflußt. Auszugehen ist von § 30 BVG. Nach dieser Vorschrift ist die MdE nach der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen. Aus dem Gesetz ergibt sich unmittelbar kein Anhalt, ob und gegebenenfalls wie ein Vorschaden zu berücksichtigen ist.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat über einen wehrdienstunabhängigen Vorschaden zwar noch nicht in einem bestimmten Fall entschieden, hat aber anläßlich der Beurteilung eines wehrdienstunabhängigen Nachschadens dazu mehrfach Ausführungen gemacht. So hat es in BSG 17, 103 (oben) bei Verlust der Sehkraft auf einem Auge vor Eintritt der wehrdienstbedingten Schädigung entschieden, daß die MdE bei Verlust der Sehfähigkeit des anderen Auges im Sinne des § 31 Abs. 4 BVG mit einer MdE von 100 v. H. festzusetzen sei. Es hat dabei ausgeführt, daß
durch die Versorgungsrente ausgeglichen werden solle, was sich gegenüber dem Zustand des Beschädigten, bevor er die wehrdienstbedingte Schädigung erlitten habe, geändert habe. Deshalb werde es bei Bemessung der Entschädigung darauf abgestellt, welche Ausfälle der Versehrte durch die Schädigung erlitten habe.
Die Entscheidung in BSG 17, 115 hat diese rechtliche Überlegung dahin fortgeführt,
daß für das Ausmaß des Schadens auch nicht wehrdienstbedingte gesundheitliche Schädigungen, die bei Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden hätten, also Vorschäden, zu berücksichtigen seien; sie gehörten zu den tatsächlichen Verhältnissen, die für die Feststellung der Rente maßgebend seien. ... Der wehrdienstunabhängige Vorschaden sei rechtlich anders zu bewerten als der wehrdienstunabhängige Nachschaden. Der nicht wehrdienstbedingte "Vorschaden" könne dann eine wesentliche Bedingung für den "Erfolg" des wehrdienstbedingten Ereignisses gewesen sein, wenn sich das wehrdienstbedingte zweite Ereignis auf den Grad der MdE auswirke (BSG 17, 118).
Schließlich ist in BSG 19, 203 ausgeführt,
daß ohne Rücksicht darauf, ob der Vorschaden wehrdienstbedingt sei oder nicht, ein Vorschaden bei der Feststellung der MdE zu berücksichtigen sei. Auch anlagebedingte Krankheitserscheinungen seien danach zu berücksichtigen, wenn sie bei Eintritt der Schädigung bereits vorgelegen hätten.
In Anlehnung an diese Entscheidungen und in Fortführung der darin enthaltenen Rechtsauffassung darf bei der Frage, ob und welche Folgen ein Vorschaden für die Höhe der MdE hat, kein bestimmtes Schema maßgebend sein; vielmehr sind die Umstände des Einzelfalles entscheidend. Hat ein schädigendes Ereignis im sinne des § 1 BVG einen bereits vorgeschädigten Körper getroffen, so muß ein Vorschaden nicht immer zu einer niedrigeren als der nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (Anhaltspunkte) vorgesehenen MdE führen; er kann ausnahmsweise auch eine höhere MdE rechtfertigen, schließlich kann er aber auch ohne Einfluß auf die nach den Grundsätzen des BVG festzustellende MdE sein. Bei dieser individuellen Beurteilung können Vorschaden und - nachfolgende-Schädigung durch den Wehrdienst nicht etwa rein mathematisch behandelt werden (aM Dr. T. in KOV 1964, 45, 46). Eine solche rein mathematische Berechnung ist jedoch dem Versorgungsrecht fremd. Sie würde in vielen Fällen zu einem unzutreffenden Ergebnis führen. Auch bei mehreren individuellen körperlichen Störungen läßt sich die MdE nicht mathematisch, sondern nur durch Schätzung unter Berücksichtigung der Gesamtwirkung ermitteln. So werden bei der Häufung mehrerer Einzelleiden mit verschiedenen einzelnen Minderungen der Erwerbsfähigkeit bei der Ermittlung der Gesamt-MdE durch alle Schädigungsfolgen nicht etwa die einzelnen MdE-Werte zusammengerechnet, sondern die Gesamt-MdE und damit die einheitliche Rente werden unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Schädigungsfolgen in ihrer Gesamtheit auf die Erwerbsfähigkeit festgesetzt. Einer individuellen Beurteilung bei Vorschäden folgt auch das Schrifttum (so Klink in "Der medizinische Sachverständige" Nr. 2/1966 S. 35; Wilke in "Bundesversorgungsgesetz", 2. Aufl. § 30 Anm. I Abs. 2; Schmidt/Wolf in KOV, 1966, 1). Auch die VerwV zu § 30 BVG (und zwar in sämtlichen Fassungen vom 3.9.1958, 14.8.1961 und 23.1.1965) lassen bei einer durch die frühere Gesundheitsstörung verursachten besonderen Beeinträchtigung unter Umständen eine höhere Bewertung der MdE zu, als es bei einem bisher völlig Erwerbsfähigen im gleichen Schadensfall zu geschehen hätte. Schließlich billigen die Anhaltspunkte in den Ausgaben 1954, 20; 1958, 26 und 1965, 24 bei einem nicht auf dem Wehrdienst beruhenden Vorschaden und einem wehrdienstbedingten Nachschaden eine höhere MdE zu. So wird
der Verlust der rechten Hand (Vorschaden) mit 50 v. H. MdE beim nachträglichen Zusammentreffen mit dem Verlust des rechten Armes (wehrdienstbedingter Schaden) - = 70 v. H. MdE. - in der Weise berücksichtigt, daß dem Beschädigten eine höhere MdE gewährt wird als sich rein rechnerisch ergibt. Statt einer MdE von 70 v. H. abzüglich 50 v. H. Vorschaden = 20 v. H. wird der Körperschaden mit einer MdE von 40 v. H. bewertet (Körperschaden an demselben Körperteil).
Bei diesem Beispiel in den Anhaltspunkten ist der Vorschaden (Verlust der rechten Hand) durch die Schädigungsfolge im Sinne des BVG (Verlust des rechten Armes) ebenso weggefallen wie im vorliegenden Fall, bei dem der Beschädigte den erkrankten Unterschenkel durch Kriegseinwirkung verloren hat. Die Gleichartigkeit der Fälle im Vorschaden und wehrdienstbedingten Schaden an demselben Körperteil erfordert auch hier, wie die Vorinstanzen nicht übersehen haben, den Schadensfall höher zu bewerten als der bloße Unterschied im Grad der MdE für Vorschaden und Versorgungsleiden an sich zuließe. Denn der Kläger hat mit dem Verlust des kranken Unterschenkels alle Funktionen dieses Körperteils eingebüßt, mit dem er vor der Amputation, wenn auch behindert, noch gehen, laufen, tasten, springen und sich drehen konnte. Entgegen der Auffassung des LSG wirkt sich die Schädigung durch die Amputation schwerer aus als der Vorschaden. Im Ergebnis muß daher - im Gegensatz zur Auffassung der Revision - der Vorschaden bei der Bemessung der MdE berücksichtigt werden.
Das LSG hat allerdings angenommen, der Vorschaden habe sich auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Amputation nicht ausgewirkt. Diese Auffassung mag begründet sein, wenn ein Vorschaden nicht am später betroffenen Körperteil des Beschädigten vorgelegen hat, so daß die nicht wehrdienstbedingte Gesundheitsstörung auch noch nach der Entstehung des Versorgungsleidens andauert und fortwirkt. Hier aber handelt es sich um zwei aufeinanderfolgende, sich ablösende Leidenszustände, von denen der spätere den ersteren einschließt. In einem solchen Fall darf die bisherige Beeinträchtigung des Beschädigten bei der Bemessung der MdE nicht völlig außer acht gelassen werden. Dies hat das LSG verkannt. Der Senat braucht aber wegen dieser teilweise unzutreffenden Begründung das angefochtene Urteil nicht aufzuheben, weil das LSG im Ergebnis zutreffend entsprechend dem Antrag des Klägers entschieden und die Höhe der MdE bei 30 v. H. belassen hat. An dieser Entscheidung vermag der Hinweis der Revision auf die Urteile in BSG 17, 99 und 17, 114 nichts zu ändern. In diesen beiden Fällen hat das BSG, wie bereits oben ausgeführt, zwar die Frage eines wehrdienstunabhängigen Vorschadens am Rande behandelt; zu entscheiden waren aber Rechtsstreite, in denen der wehrdienstbedingte Gesundheitsschaden dem wehrdienstunabhängigen Schaden nicht nachgefolgt, sondern vorausgegangen ist, und das BSG über die Bedeutung eines vom Wehrdienst unabhängigen Nachschadens zu entscheiden hatte. In solchen Fällen werden die Folgen der Schädigung im Sinne des § 1 BVG nicht berührt; denn für die Feststellung der Gesundheitsfolgen des schädigenden Vorgangs sind stets nur die Verhältnisse maßgebend, die bei seinem Eintritt bestanden haben (BSG 19, 202).
Damit konnte die Revision des Beklagten im Ergebnis keinen Erfolg haben, so daß sie als unbegründet zurückgewiesen werden mußte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen