Leitsatz (amtlich)

Ist der Versicherte infolge eines Arbeitsunfalls gestorben und ist die Zeit vom Kalendermonat seines Eintritts in die Versicherung bis zum Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist, zwar voll mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung, aber nur für 59 Monate belegt, so kann daraus, daß die Wartezeit nach AVG § 29 Nr 1 (= RVO § 1252 Nr 1) als erfüllt und nach AVG § 35 Abs 5 (= RVO § 1258 Abs 5) mindestens 5 Versicherungsjahre als anrechnungsfähig gelten, nicht gefolgert werden, daß damit, wie es für die Anrechnung der Ausfallzeiten nach AVG § 36 Abs 3 (= RVO § 1259 Abs 3) erforderlich ist, wenigstens 60 Monate mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind.

 

Normenkette

AVG § 29 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1252 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; AVG § 35 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1258 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Abs. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 3 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Juni 1972 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Unter den Beteiligten ist streitig, ob Ausfallzeiten i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (= § 1259 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) gemäß § 36 Abs. 3 AVG (= § 1259 Abs. 3 RVO) anzurechnen sind.

Die Klägerin bezieht aufgrund des Bescheides der Beklagten vom 23. März 1971 Witwenrente aus der Versicherung ihres am 24. November 1970 infolge Arbeitsunfalls gestorbenen Ehemannes. Er hatte im Juli 1957 das Abitur, am 14. Dezember 1965 die Diplomprüfung als Ingenieur des Bau- und Vermessungswesens und am 10. Dezember 1968 die Große Staatsprüfung für den höheren bautechnischen Verwaltungsdienst in Bayern abgelegt. Seit dem 1. Januar 1966 war er ununterbrochen rentenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Für diese Zeit sind für ihn 59 Beiträge zur Angestelltenversicherung nachgewiesen. Die Beklagte sah die Wartezeit gemäß § 29 Nr. 1 AVG (= § 1252 Nr. 1 RVO) als erfüllt an und berücksichtigte bei der Berechnung der Witwenrente gemäß § 35 Abs. 5 AVG (= § 1258 Abs. 5 RVO) fünf Versicherungsjahre als anrechnungsfähig; die Ausfallzeiten nach § 36 AVG ließ sie unberücksichtigt, weil bis zum Eintritt des Versicherungsfalles nicht mindestens 60 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt seien (§ 36 Abs. 3 AVG).

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Nürnberg durch Urteil vom 23. November 1971 den Bescheid der Beklagten abgeändert und diese verurteilt, bei der Witwenrente 108 Monate als Ausfallzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG anzurechnen. Es hat seine Entscheidung im wesentlichen damit begründet, daß der Zeitraum vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles voll mit Pflichtbeiträgen belegt sei und trotzdem nicht 60 Monate umfasse. In einem solchen Falle der Vollbelegung stehe die Vorschrift über das Erfordernis der Mindestbeitragsleistung des § 36 Abs. 3 AVG der Anrechnung der Ausfallzeiten nicht entgegen; denn sie wolle nur solche Personen von der Anrechnung von Ausfallzeiten ausschließen, die in der Zeit zwischen dem Eintritt in die Versicherung und dem Eintritt des Versicherungsfalles nicht überwiegend rentenversicherungspflichtig tätig gewesen seien. Nach dem Wortlaut des Gesetzes werde nicht die tatsächliche Entrichtung von 60 Pflichtbeiträgen verlangt, sondern nur die Belegung von 60 Monaten mit Pflichtbeiträgen. Das sei aber hier über die Vorschriften der §§ 29, 35 Abs. 5 AVG der Fall.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 13. Juni 1972 (AMBl Bay. 1973, B 9) - unter Zulassung der Revision - das Urteil des SG Nürnberg aufgehoben und die Klage abgewiesen. Nach § 36 Abs. 3 AVG sei die Anrechnung von Ausfallzeiten nur zulässig, wenn der Versicherte der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für mindestens 60 Monate unterlegen hat. Über die §§ 29, 35 Abs. 5 AVG könne diese für die Anrechnung von Ausfallzeiten geforderte Voraussetzung bei einer tatsächlichen Beitragsleistung von nur 59 Monaten nicht im Wege der Fiktion erfüllt werden. Damit sei eine Anrechnung von Ausfallzeiten für nachgewiesene Schul- und Hochschulausbildung nicht möglich.

Gegen das Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 36 Abs. 3 AVG und beantragt, das Urteil des Bayerischen LSG vom 13. Juni 1972 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Bei der Berechnung der Witwenrente der Klägerin können die geltend gemachten Ausfallzeiten - wie das LSG zutreffend entschieden hat - nicht berücksichtigt werden, weil die in § 36 Abs. 3 AVG für die Anrechnung von Ausfallzeiten aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Der Auffassung der Revision, im Sinne dieser Vorschrift seien 60 Monate stets dann mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt, wenn die Wartezeit nach § 29 AVG als erfüllt gilt und nach § 35 Abs. 5 AVG mindestens fünf Versicherungsjahre bei der Berechnung der Rente angerechnet worden sind, kann nicht zugestimmt werden.

Nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AVG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes - RVÄndG - vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) werden Ausfallzeiten nur dann angerechnet, wenn die Zeit vom Kalendermonat des Eintritts in die Versicherung bis zum Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist, mindestens zur Hälfte, jedoch nicht unter 60 Monaten mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt ist. Mit diesen besonderen Voraussetzungen für die Anrechenbarkeit der Ausfallzeiten bringt das Gesetz zum Ausdruck, daß durch die Gewährung von Ausfallzeiten nur diejenigen Versicherten begünstigt werden sollen, die eine gewisse Mindestzeit der gesetzlichen Rentenversicherung als Pflichtversicherte oder ihnen Gleichgestellte angehört haben. Das Gesetz trägt aber nicht nur durch die vorgeschriebene Halbbelegung dem Sicherungsbedürfnis der überwiegend versicherungspflichtig Beschäftigten oder Tätigen Rechnung, sondern es bezieht in den Kreis der Begünstigten überhaupt nur diejenigen ein, die der Versichertengemeinschaft als Pflichtversicherte oder ihnen Gleichgestellte während einer Mindestzeit von 60 Monaten angehört haben. Eine solche qualifizierte Zugehörigkeit zur Rentenversicherung ist in jedem Falle Voraussetzung für die Anrechnung von Ausfallzeiten. Fehlt es daran, so müssen Ausfallzeiten unberücksichtigt bleiben. Insbesondere gilt dies nach dem Sinn und Zweck des § 36 Abs. 3 AVG auch für den Fall, daß bei einer Zugehörigkeit als Pflichtversicherter zur Rentenversicherung von weniger als 60 Monaten gleichwohl die Wartezeit aufgrund der besonderen Vorschriften des § 29 AVG als erfüllt gilt und mindestens fünf Versicherungsjahre für die Rentenberechnung nach § 35 Abs. 5 AVG angerechnet werden. Denn mit dem Erfordernis einer Pflichtbeitragsleistung für mindestens 60 Monate soll trotz des Grundanliegens des Gesetzes, mit den Ausfallzeiten den Versicherten eine ausreichende Rente zu sichern, verhindert werden, daß die nach dem Gesetz mögliche Anrechnung von insgesamt 9 Jahren Ausbildungszeit - wie es auch in dem gegenwärtigen Fall zuträfe - solchen Personen zukommt, die nur verhältnismäßig kurze Zeit mit der Rentenversicherung verbunden gewesen sind (Elsholz/Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, Syn. Komm. Nr. 41 Anm. 11 b), und daß sich dadurch die Rentenansprüche zum überwiegenden Teil auf Ausfallzeiten aufbauen (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 700 b). Die Vergünstigung der Zubilligung von beitragslosen Ausfallzeiten hat das Gesetz demnach von vornherein unter die Bedingung gestellt, daß der Versicherte wenigstens eine gewisse Mindestzeit der gesetzlichen Rentenversicherung als Pflichtversicherter angehört hat, für ihn also mindestens 60 Monate mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind.

Von diesem Grundsatz hat das Gesetz auch für die Fälle der Wartezeitfiktion des § 29 AVG keine Ausnahme gemacht. An dieser Voraussetzung hat der Gesetzgeber vielmehr bei allen Verbesserungen der gesetzlichen Rentenversicherung seit den Neuregelungsgesetzen stets festgehalten. Selbst das in vieler Hinsicht grundlegende Rentenreformgesetz - RRG - vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) ist von dieser Voraussetzung nicht abgewichen, obgleich ausdrücklich vorgeschlagen war, bei der fiktiven Erfüllung der Wartezeit zB infolge Arbeitsunfall für die Anrechnung von Ausfallzeiten von dem Erfordernis abzusehen, daß mindestens für 60 Monate Pflichtbeiträge entrichtet sind. Das RRG ist dieser Anregung nicht gefolgt, sondern hat es bei dem seit den Neuregelungsgesetzen geltenden Recht belassen. Es hat im Gegenteil eine dem § 36 Abs. 3 AVG entsprechende Regelung für die Anrechnung von Ersatzzeiten noch ausdrücklich in das Gesetz neu eingefügt (§ 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG idF des RRG).

In dem Bericht der Bundesregierung zu Fragen der Rentenversicherung (BT-Drucks. VI/1126), der nach seinem Vorwort als eine umfassende Dokumentation die an die Bundesregierung herangetragenen Anregungen zusammenfaßt und daher Einzelanregungen enthält, die sich auf das geltende Recht der gesetzlichen Rentenversicherung und seine bessere Ausgestaltung beziehen, sind für das Leistungsrecht zu den Änderungen hinsichtlich anzurechnender Versicherungsjahre die Vorschläge über die Erleichterung der Voraussetzungen für die Anrechnung von Ausfallzeiten aufgeführt. Unter anderem ist dort auch die Anregung vermerkt, bei der Wartezeitfiktion (zB Arbeitsunfall) auf die Zurücklegung von 60 Beitragsmonaten zu verzichten (BT-Drucks. VI/1126 S. 28). Zur Begründung wird hier ausgeführt, die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit betrage grundsätzlich 60 Monate. Unter bestimmten Voraussetzungen gelte diese Wartezeit als erfüllt, zB dann, wenn ein Versicherter infolge eines Arbeitsunfalls oder als Wehrdienstleistender berufsunfähig oder erwerbsunfähig werde oder sterbe. Die Anrechnung von Ausfallzeiten setze voraus, daß mindestens 60 Pflichtbeiträge oder ihnen gleichgestellte Beiträge entrichtet seien. Nach vorgetragenen Anregungen solle durch eine Gesetzesänderung sichergestellt werden, daß in den Fällen, in denen die Wartezeit als erfüllt gelte, auch Ausfallzeiten angerechnet werden könnten, weil andernfalls das mit der Wartezeitfiktion verfolgte sozialpolitische Ziel nur unvollständig erreicht werde. Die gewünschte Gesetzesänderung könnte in Einzelfällen zu einer fühlbaren Rentenerhöhung führen. Die finanziellen Mehraufwendungen dürften insgesamt jedoch kaum ins Gewicht fallen.

Dementsprechend sah der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum RRG (BT-Drucks. VI/2916) unter Art. 1 § 1 Nr. 9 und Art. 1 § 2 Nr. 10 Neufassungen des § 1259 RVO und des § 36 AVG vor, in denen für die Anrechnung der Ausfallzeiten nicht mehr darauf abgestellt wurde, daß mindestens eine Zeit von 60 Monaten mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt ist (Abs. 3 der vorgeschlagenen Vorschriften). Diese vorgeschlagenen Neufassungen sind aber nicht Gesetz geworden. Das RRG hat es vielmehr bei den bisherigen Vorschriften über die Anrechnung der Ausfallzeiten der §§ 1259 Abs. 3 RVO, 36 Abs. 3 AVG belassen, so daß sie weiterhin geltendes Recht sind. Das Gesetz hat darüber hinaus die hier aufgestellte besondere Voraussetzung einer Zurücklegung von mindestens 60 Beitragsmonaten in die Vorschrift des § 28 AVG (= § 1251 RVO) aufgenommen. Mit der neu eingefügten Vorschrift des § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AVG über die Anrechnung von Ersatzzeiten bei Halbbelegung hat das Gesetz eine Regelung getroffen, die dem des § 36 Abs. 3 AVG idF des RVÄndG seit dem 1. Juli 1965 entspricht, so daß nunmehr Ersatzzeiten stets angerechnet werden können, wenn auch nachgewiesene Ausfallzeiten anrechenbar wären (vgl. hierzu Mitteilungen LVA Oberfranken und Mittelfranken 1972, 274). Dies zeigt aber, daß der dem § 36 Abs. 3 AVG zugrunde liegende und auf die Vorschrift des § 28 AVG ausgedehnte Rechtsgedanke, daß in diesen Fällen nicht mit Pflichtbeiträgen belegte Zeiten als Ersatz- oder Ausfallzeiten nur solchen Versicherten zugute kommen sollen, die der Rentenversicherung als Pflichtversicherte eine Mindestzeit von 60 Monaten angehört haben, weiterhin seine Gültigkeit hat.

Diese Rechtsentwicklung bestätigt mithin, daß nach dem geltenden Recht Ausfallzeiten nur dann angerechnet werden können, wenn der Versicherte die vorgesehene Mindestzeit von 60 Monaten Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt hat. Die Besonderheit des vorliegenden Falles, daß die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles voll mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung belegt ist, vermag an dem Ergebnis nichts zu ändern, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anrechnung der nachgewiesenen Ausfallzeiten i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG nicht erfüllt sind. Die Vorschrift des § 36 Abs. 3 AVG hat - entgegen der Auffassung des SG - auch für diesen Fall zu gelten, da er die allgemeinen Voraussetzungen für die Anrechenbarkeit von Ausfallzeiten abschließend und ausnahmslos regelt. Eine Anrechnung von Ausfallzeiten, ohne daß die Voraussetzungen des § 36 Abs. 3 AVG erfüllt sind, sieht das Gesetz bewußt nicht vor. Aus den Vorschriften der §§ 29, 35 Abs. 5 AVG läßt sich entgegen der Auffassung der Revision eine entsprechende Fiktion für § 36 Abs. 3 AVG in dem Sinne nicht herleiten, daß im Falle der Wartezeitfiktion auch mindestens 60 Monate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit als belegt gelten; denn eine solche Fiktion würde nicht nur dem Wortlaut, sondern auch - wie dargelegt - dem erkennbaren Sinn und Zweck des § 36 Abs. 3 AVG widersprechen.

Die Revision kann aus diesen Gründen keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669389

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