Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 27.01.1988)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Januar 1988 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt die Feststellung, daß der bei ihm am 8. August 1984 eingetretene dislozierte Bruch des rechten Außenknöchels die Folge eines Arbeitsunfalles ist.

Der Kläger war seit Anfang August 1984 als Auszubildender (Bergvermessungstechniker) im Werk S. … der K. und S. AG tätig. In der Zeit vom 6. bis 10. August 1984 veranstaltete dieses Unternehmen im CVJM-Heim in Dassel ein Einführungsseminar, an dem auch der Kläger teilnahm.

Am Abend des 8. August 1984 spielte der Kläger zusammen mit anderen Lehrgangsteilnehmern in den Räumlichkeiten des CVJM-Heims Tischtennis. Dabei glitt er mit seinem linken Fuß aus, stürzte zu Boden und zog sich einen dislozierten Bruch des rechten Außenknöchels zu, der operativ versorgt werden mußte.

Mit Bescheid vom 25. Januar 1985 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger wegen der gesundheitlichen Folgen seines Unfalles vom 8. August 1984 eine Entschädigung zu gewähren. Nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchsverfahrens (Bescheid vom 26. Juni 1985) hat das Sozialgericht (SG) Hannover die dagegen erhobene Klage mit dem Begehren, festzustellen, daß das Ereignis vom 8. August 1984 ein Arbeitsunfall iS der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei, abgewiesen (Urteil vom 8. Mai 1987). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen dieses Urteil sowie die Bescheide der Beklagten aufgehoben und antragsgemäß festgestellt, daß die Gesundheitsstörung „dislozierter Bruch des rechten Außenknöchels” Folge des Arbeitsunfalles am 8. August 1984 ist (Urteil vom 27. Januar 1988). Das LSG hat ausgeführt, daß das Tischtennisspiel während der unterrichtsfreien Zeit am 8. August 1984, bei dem der Kläger gestürzt sei, mit dem Ausbildungsverhältnis in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang gestanden habe. Diese sportliche Betätigung des Klägers sei noch innerhalb der Grenze gelegen, bis zu der der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reiche.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 55 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie einen Verstoß gegen § 548 Abs 1 Satz 1 RVO. Das LSG habe zu Unrecht eine Sachentscheidung getroffen, da die Klage unzulässig sei. Eine Feststellungsklage könne allenfalls auf § 55 Abs 1 Nr 3 SGG gestützt werden. Danach könne die Feststellung begehrt werden, daß eine Gesundheitsstörung bzw der Tod Folge eines Arbeitsunfalles sei. Eine derartige Feststellung erstrebe der Kläger nicht. Er verfolge ausschließlich die Feststellung, daß der Unfall beim Tischtennisspiel ein Arbeitsunfall sei. Soweit die Auffassung vertreten werde, daß im Rahmen des § 55 Abs 1 Nr 3 SGG der ganze rechtliche und medizinische Tatbestand erfaßt werde, könne dem nicht gefolgt werden. Auch das Bundessozialgericht habe in einem Urteil vom 17. Januar 1957 zu der sprachlich fast indentischen Regelung des § 150 Nr 3 SGG ausgeführt, daß die Frage, ob eine Krankheit als Berufskrankheit iS der gesetzlichen Vorschriften anzusehen sei, schon rein sprachlich nicht als Streit über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Berufskrankheit angesehen werden könne. Ebenso habe das LSG Rheinland-Pfalz in einer Entscheidung vom 7. Februar 1964 hervorgehoben, daß der Wortlaut des § 55 Abs 1 Nr 3 SGG eindeutig sei und eine extensive Auslegung dem Zusammenhang der Vorschriften über die Zulässigkeit der Feststellungsklage widerspreche. Die Ausdehnung der Feststellungsklage nur auf die Kausalität sei auch sachgerecht. Den besonderen Beweisschwierigkeiten habe der Gesetzgeber im Rahmen des § 55 Abs 1 Nr 3 SGG dadurch Rechnung getragen, daß er ganz spezifisch hinsichtlich der (medizinischen) Zusammenhangsfrage zwischen Gesunheitsstörung und schädigendem Ereignis iS des Arbeitsunfalles die Feststellungsklage zugelassen habe. Da aber im Streitfall die vom Kläger erhobene Feststellungsklage diesen Ursachenzusammenhang nicht zum Gegenstand habe, sei die Klage als unzulässig abzuweisen. Das LSG habe schließlich auch keine Ermittlungen zum Feststellungsinteresse des Klägers vorgenommen. § 55 Abs 1 SGG setze zumindest voraus, daß die begründete Besorgnis bestehe, die Gesundheitsstörung könne auch in Zukunft Beschwerden verursachen. Vorsorglich sei anzuführen, daß das LSG auch den Begriff des Arbeitsunfalles iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO verkannt habe. Das spätabendliche Tischtennisspiel des Klägers sei keine versicherte Tätigkeit gewesen. Diese sportliche Betätigung habe ausschließlich im Belieben des Klägers gestanden und sei in keiner Weise vom Unternehmer beeinflußt worden. Ein innerer Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit sei zu verneinen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Januar 1988 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 8. Mai 1987 zurückzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).

Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Es fehlen bereits die notwendigen Tatsachenermittlungen, um über die Zulässigkeit der Klage zu entscheiden. Es kann noch nicht geklärt werden, ob der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (§ 55 Abs 1 letzter Halbsatz SGG).

Gegenstand des Rechtsstreits ist allein das Begehren des Klägers auf Feststellung, daß die bei ihm am 8. August 1984 aufgetretene Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalles ist. Dieser Antrag ist nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG grundsätzlich zulässig. Der Kläger kann nicht nur verlangen, gegenwärtige Leistungspflichten der Beklagten aufgrund des Unfallversicherungsverhältnisses festzustellen, sondern auch darauf klagen, die Entschädigungsverpflichtung der Beklagten für einen drohenden künftigen Leistungsfall festzustellen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 55 Rdnr 8). Dabei wird eine Aufteilung in einen statthaften und einen als Elementenfeststellungsklage nicht statthaften Teil dem vom Kläger nach seinem gesamten Klagevorbringen erkennbar als einheitliches Feststellungsbegehren verfolgten Rechtsschutzziel nicht gerecht. Der in der ersten Instanz formulierte Klageantrag lautete zwar ua auf Feststellung, daß das „Ereignis vom 8. August 1984 ein Arbeitsunfall iS der RVO ist”. Ob dieser Antrag als Feststellungsantrag nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG zu verstehen und zu behandeln ist (vgl BSGE 21, 167, 169; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, Band I/2, S 240m IV, 240n, 240s I, 240s II), weil die Gerichte über die vom Kläger erhobenen Ansprüche entscheiden, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein (vgl § 123 SGG; BSGE 21, 168, 169), mag dahinstehen. Der Kläger hat seinen Antrag jedenfalls in der Berufungsinstanz – zulässigerweise (vgl § 99 Abs 3 Nr 2 SGG) – in der bereits oben angeführten Art und Weise geändert. Dabei ist zu beachten, daß die nunmehr geltend gemachte Gesundheitsstörung nach den Feststellungen des LSG Folge des Ereignisses vom 8. August 1984 ist. Zulässige und begründete Revisionsgründe (vgl § 163 SGG) zur Frage dieses haftungsausfüllenden Kausalzusammenhanges hat die Beklagte nicht vorgebracht. Sie rügt zwar fehlende Ausführungen des LSG hierzu, hält jedoch andererseits die Sachverhaltsdarstellung für unstreitig.

Die Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses (§ 55 Abs 1 Nr 1 SGG) darf zwar grundsätzlich nicht auf die Feststellung einzelner Elemente gerichtet werden (vgl Brackmann aaO, S 240l, 240m; Meyer-Ladewig § 55 Rdnr 9). Ob auch die auf dem Versicherungsverhältnis beruhende Klage, bestimmte Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalles festzustellen, keine Elemente, sondern das Versicherungsverhältnis betrifft (vgl Brackmann aaO S 240m IV mwN), kann offenbleiben. Die in § 55 Abs 1 Nr 3 SGG vorgesehene, dem sozialgerichtlichen Verfahren eigentümliche besondere Ausgestaltung des auch den anderen Verfahrensordnungen geläufigen Instituts der allgemeinen Feststellungsklage sieht jedenfalls die Feststellung, ob eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit ist, nach dem Gesetzeswortlaut vor. Diese Regelung mag – argumentum e contrario – außerhalb der Unfallversicherung und des sozialen Entschädigungsrechts entsprechende Feststellungsklagen ausschließen (vgl Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, Anm 4 zu § 55). Aber sowohl der Wortlaut des Gesetzes als auch sein Sinn und Zweck unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte (vgl BT-Drucks 4357, 1. Wahlperiode) lassen es zu, die Vorschrift dahin auszulegen, daß die Frage des Ursachenzusammenhanges die ganze Kausalkette und auch die Frage umfaßt, ob eine bestimmte Gesundheitsstörung im Rahmen einer versicherten Tätigkeit iS von § 548 Abs 1 Satz 1 RVO eingetreten ist (vgl Meyer-Ladewig, § 55 Rdnr 13; Brackmann aaO S 200m IV; BSG SozR 2200 § 548 Nr 72; BSG vom 27. Juli 1989, 2 RU 54/88). Damit soll festgestellt werden, daß die Trägerin der Unfallversicherung zur Entschädigung eines Gesundheitsschadens verpflichtet ist, wenn in Zukunft der Leistungsfall eintreten wird, dh alle weiteren jeweils erforderlichen Entschädigungsvoraussetzungen vorliegen werden.

Die Argumentation der Beklagten – insbesondere unter Berufung auf die Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz vom 7. Februar 1964 (Breithaupt 1964, S 656 ff) – trifft also nicht zu. Die vom Senat vertretene Auffassung steht insbesondere nicht in Widerspruch zu der dort angeführten Rechtsprechung des BSG. Der Beschluß des Großen Senats vom 27. November 1957 (BSGE 6, 120) betraf die Statthaftigkeit der Revision im Rahmen des § 162 Abs 1 Nr 3 SGG aF. Dabei blieb ausdrücklich dahingestellt, ob die Vorschriften des SGG mit ähnlicher Fassung eine entsprechende Auslegung erfordern. Das Urteil vom 17. Januar 1957 (BSGE 4, 215) erging zur Frage der Zulässigkeit der Berufung gemäß § 150 Nr 3 SGG. Das BSG subsumierte die Entscheidung darüber, ob überhaupt eine Berufskrankheit vorliegt, nicht unter diese Vorschrift. Ob dem zu folgen ist, kann der Senat offenlassen. § 150 Nr 3 und § 55 Abs 1 Nr 3 SGG weichen nicht nur im Wortlaut voneinander ab, sondern haben auch eine unterschiedliche Stellung im Verfahren, so daß ihre verfahrensrechtliche Aufgabe eine einheitliche Auslegung nicht zwingend erfordert.

Zu Recht beanstandet die Revision allerdings, daß das LSG keine Ermittlungen zum Feststellungsinteresse des Klägers vorgenommen hat. Dieses nach § 55 Abs 1 SGG in jedem Fall erforderliche berechtigte Interesse an der begehrten Feststellung stellt als besondere Ausprägung des allgemeinen Rechtsschutzinteresses eine unverzichtbare und damit auch noch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfende Prozeßvoraussetzung dar, ohne daß es dazu einer entsprechenden Rüge der Beklagten bedarf. Aus dem vom LSG festgestellten Sachverhalt sind hierfür keinerlei Hinweise zu entnehmen. Auch wenn der Kläger selbst in den Tatsacheninstanzen sein Feststellungsinteresse nicht ausdrücklich vorgetragen haben sollte, war das LSG nicht von seiner Verpflichtung entbunden, von Amts wegen (§ 103 SGG) alle Gesichtspunkte heranzuziehen, die für die Verfolgung des Feststellungsbegehrens im sozialgerichtlichen Verfahren wesentlich sind.

Allein das Begehren, eine Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalles festzustellen, bietet keine Grundlage, das Feststellungsinteresse zu bejahen. Zwar ist grundsätzlich in Fällen, in denen geringfügige Schädigungen im Zeitpunkt der Entscheidung nicht geeignet sind, Leistungsansprüche auszulösen, die in § 55 Abs 1 Nr 3 SGG vorgesehene Feststellungsklage geboten. Erforderlich ist aber zumindest, daß Spätfolgen, sei es in Gestalt einer Verschlimmerung, sei es in Gestalt einer erneuten Erkrankung, für welche die Vorschädigung unter Umständen von Bedeutung ist, auftreten können. Solche nicht auszuschließenden Spätfolgen können ein Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung rechtfertigen (vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 53).

Das LSG wird die erforderlichen Feststellungen – eventuell durch Anhörung eines Sachverständigen – nachzuholen und über den Rechtsstreit erneut zu entscheiden haben. Obwohl die hier klärungsbedürftige Frage eine Prozeßvoraussetzung betrifft, sieht sich der erkennende Senat nicht veranlaßt, diese Tatsachenermittlungen selbst vorzunehmen. Tatsachenfeststellungen, ausgenommen einfachster Art aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes, sind dem Revisionsgericht verschlossen. Jedenfalls macht der Senat von dem ihm eingeräumten Ermessen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) Gebrauch und verweist den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurück. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174687

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