Leitsatz (amtlich)

Bei der Entscheidung, ob in den Verhältnissen des Versicherten eine wesentliche Änderung eingetreten ist, sind die Verhältnisse zur Zeit der Rentengewährung auch dann als Ausgangspunkt für den anzustellenden Vergleich maßgebend, wenn dem anhängigen Rentenentziehungsverfahren bereits ein erfolgloses Rentenentziehungsverfahren vorausgegangen ist, welches mit der Verurteilung des Versicherungsträgers zur Weiterzahlung der Rente abgeschlossen worden ist.

Eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eines Versicherten kann auch darin erblickt werden, daß er von einer ländlichen Gegend in eine Industriestadt verzieht.

 

Normenkette

RVO § 1293 Abs. 1 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. November 1956 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1906 geborene Kläger war von Beruf Zimmermann. Seit 1943 leistete er Kriegsdienst. Im Jahre 1944 wurde er durch ein Explosivgeschoß verwundet. Der linke Unterarm mußte dicht unterhalb des Ellenbogengelenks amputiert werden. Der Stumpf war schlecht durchblutet und schmerzhaft; das linke Schultergelenk war versteift, die Muskulatur des Oberarms verschmächtigt. Außerdem war das rechte Schultergelenk bei Bewegungen oberhalb der Horizontalen behindert. Weiterhin litt der Kläger an Herzbeschwerden. Er erhielt Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 70 v.H. Die Beklagte gewährte ihm durch Bescheid vom 26. April 1946 die Invalidenrente vom 1. Februar 1945 an. Im Jahre 1951 entzog sie die Invalidenrente. Der Entziehungsbescheid wurde jedoch auf Berufung des Klägers durch Urteil des Oberversicherungsamts Lüneburg vom 29. Februar 1952 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Rente über den Entziehungstag hinaus weiterzuzahlen. Dieses Urteil wurde rechtskräftig. Der Kläger wohnte bis 1954 in Nettelkamp, Kreis Uelzen. Anschließend verzog er nach Hamburg. Er fand dort in einer Zimmererkolonne Arbeit. Die Kolonne war bei einem Bauunternehmer beschäftigt. Am 20. Juni 1955 verlor er jedoch diesen Arbeitsplatz, weil die Kolonne ihrerseits gekündigt hatte.

Durch Bescheid vom 11. Januar 1955 entzog die Beklagte dem Kläger die Invalidenrente mit Schluß des Monats Januar 1955, weil er nicht mehr invalide sei; er könne noch "mittelschwere Arbeiten, die den Verlust des Armes berücksichtigten", verrichten. Gegen diesen Rentenentziehungsbescheid erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht in Hamburg. Dieses verurteilte die Beklagte durch Urteil vom 29. Februar 1956, dem Kläger die Invalidenrente über den Monat Januar 1955 weiterzuzahlen. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht am 15. November 1956 das Urteil des Sozialgerichts auf und wies die Klage ab. Bei der Prüfung der Frage, ob eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers eingetreten sei, müsse von den Verhältnissen zur Zeit des Urteils des Oberversicherungsamts Lüneburg aus dem Jahre 1952 ausgegangen werden. Dem damaligen Befund gegenüber seien aber keine wesentlichen Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers eingetreten; lediglich die Herzneurose und die Kreislaufschwäche seien nicht mehr feststellbar, wobei aber unklar sei, ob sie damals überhaupt bestanden hätten. Im wesentlichen bestände also nur die Amputation des linken Unterarms. Die Bewegungseinschränkung im linken Oberarm sei jetzt gering. Im rechten Arm beständen lediglich infolge Anstrengung vorübergehende Beschwerden. Andererseits aber sei insofern eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers eingetreten, als er inzwischen nach Hamburg verzogen sei und ihm nun ein ausreichend großes Arbeitsfeld für die Tätigkeiten, welche er noch verrichten könne, zur Verfügung stünde, so daß er seit 1954 nicht mehr invalide sei. Er könne noch Maschinenarbeiten in der holzverarbeitenden Industrie, bei denen die Zuführung der Werkstücke so erfolge, daß er die linke Hand nicht benötige, sowie Aufsichtsarbeiten, welche Zimmererkenntnisse erforderten, ausüben. Auch könne er noch auf Lagerplätzen und in der Geräteverwaltung beschäftigt werden. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.

Gegen das ihm am 27. Dezember 1956 zugestellte Urteil legte der Kläger durch seine Prozeßbevollmächtigten Buhl und Sauer vom Reichsbund der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen, Rechtsschutzsekretariat, Kassel, mit Schriftsatz vom 12. Januar 1957 am 14. Januar 1957 Revision ein und begründete diese, nachdem die Revisionsfrist bis zum 27. März 1957 verlängert worden war, mit Schriftsatz vom 13. März 1957 am 14. März 1957. Das Landessozialgericht habe unterlassen, anzugeben, welche Tätigkeiten er im einzelnen noch verrichten könne; die gemachten Angaben seien zu unbestimmt gehalten. Zudem sei er gelernter Facharbeiter; es sei unzumutbar, ihn auf eine Hilfsarbeitertätigkeit zu verweisen.

Er beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. November 1956 die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 29. Februar 1956 zurückzuweisen,

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen,

sowie die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Es konnte ihr auch der Erfolg nicht versagt bleiben.

Dem Landessozialgericht ist insofern ein Rechtsirrtum unterlaufen, als es bei der Anwendung des § 1293 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. die in dem Urteil des Oberversicherungsamts Lüneburg vom 29. Februar 1952 festgestellten gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers mit denen zur Zeit des jetzt angefochtenen Rentenbescheides vergleicht. Nach richtiger Auslegung dieser Vorschrift sind aber die Verhältnisse zur Zeit der Rentengewährung für diesen Vergleich auch dann als Ausgangspunkt maßgebend, wenn zwischenzeitlich eine rechtskräftige Verurteilung zur Weiterzahlung der vom Versicherungsträger entzogenen Rente erfolgt ist. Wenn dies auch in § 1293 Abs. 1 RVO. a.F. nicht ausdrücklich gesagt ist, so entspricht doch diese Auslegung allein dem Sinn und Zweck des § 1293 Abs. 1 RVO a.F. Der Gesetzgeber hat bei Erlass der Vorschrift nur an den Regelfall gedacht, in welchem nach der Rentengewährung nur der den Gegenstand des Verfahrens bildende Entziehungsbescheid ergangen ist; es besteht aber kein Anlaß, in diesen regelwidrigen Fällen anders zu entscheiden, da die Interessenlage dieselbe ist. Es würde sonst bei mehreren aufeinanderfolgenden - erfolglosen - Rentenentziehungsverfahren mit jeweils unwesentlichen, insgesamt aber wesentlichen Änderungen in den Verhältnissen des Versicherten eine Rentenentziehung u.U. nicht zum Erfolg führen, während andernfalls wirksam entzogen werden könnte. Dieses Ergebnis wäre nicht nur unbillig, sondern würde auch den Vorstellungen des Gesetzgebers widersprechen. Die Rechtskraft des in dem zwischenzeitlichen Verfahren ergangenen Urteils steht dem schon deshalb nicht entgegen, weil - was das Berufungsgericht verkennt - die Rechtskraft nicht die in den Urteilsgründen enthaltenen Feststellungen, z.B. die des Gesundheitszustandes des Versicherten, erfaßt.

Immerhin aber hat das Landessozialgericht auch festgestellt, daß der Kläger zur Zeit der Rentengewährung in Nettelkamp Krs. Uelzen, einem kleinen Ort mit nur geringen Arbeitsgelegenheiten, gewohnt hat und im Jahre 1954 nach Hamburg verzogen ist und daß ihm damit ein größeres Arbeitsfeld zur Verfügung steht. In einem solchen Wohnortwechsel liegt, wie das Berufungsgericht im Grundsatz nicht verkannt hat, eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Versicherten im Sinne des § 1293 Abs. 1 RVO a.F. Wenn auch nach dieser Vorschrift in erster Linie Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen des Versicherten gemeint sind, so können doch auch andere Änderungen in den Verhältnissen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit des Versicherten erhöhen, von Bedeutung sein. Der erkennende Senat hatte keine Bedenken, eine Änderung des Wohnortes dann in diesem Sinne zu bewerten, wenn sich durch den Wechsel die Arbeitsmöglichkeiten wesentlich erweitern, wie es vielfach dann der Fall sein wird, wenn ein Versicherter aus einer ländlichen Gegend in eine Industriestadt verzieht. Der erkennende Senat hatte auch keine Bedenken, diese Voraussetzungen hier als erfüllt anzusehen. Im Gegensatz zu dem früheren Wohnort bietet Hamburg in großem Umfang Arbeitsgelegenheiten in gewerblichen Betrieben, welche einem erwerbsbeschränkten Versicherten wesentlich größere Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, wie das Berufungsgericht zu Recht festgestellt hat.

Nach § 1293 Abs. 1 RVO a.F. kann aber die Rente auch bei einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Versicherten nur dann entzogen werden, wenn er nicht mehr invalide ist. Die vom Berufungsgericht in dieser Hinsicht getroffenen Feststellungen, der Kläger könne eine Reihe von Arbeiten, wie Maschinenarbeiten in der holzverarbeitenden Industrie, bei denen die Zuführung der Werkstücke so erfolge, daß er die linke Hand nicht benötige, Aufsichtsarbeiten, welche Zimmererkenntnisse erforderten, sowie Arbeiten auf Lagerplätzen und in der Geräteverwaltung verrichten, sind, wie der Kläger mit Recht rügt, zu allgemein gehalten, um hierauf eine Entscheidung gründen zu können. Bei dem Kläger, der nach seiner Ausbildung sowie seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im wesentlichen nur auf Arbeiten verwiesen werden kann, bei welchen auch der Verlust der Nichtgebrauchshand ins Gewicht fällt, dürfte die Erwerbsfähigkeit in der Nähe der Invaliditätsgrenze liegen. Gerade in einem solchen Grenzfall hätte das Berufungsgericht genauere Nachforschungen, gegebenenfalls durch Nachfrage bei dem Arbeitsamt anstellen und mehr ins einzelne gehende Feststellungen der in Frage kommenden Arbeiten, welche der Kläger noch verrichten kann, treffen müssen. Insbesondere hätte es auch prüfen müssen, ob es derartige Arbeitsplätze in Hamburg oder Umgebung gibt, welchen Lohn der Kläger mit einer solchen Beschäftigung verdienen kann, ob er einen solchen Arbeitsplatz ohne Schutz des Schwerbeschädigtengesetzes oder sonstige Vergünstigungen erlangen kann und auch, ob ihm als gelernten Zimmermann diese Arbeiten zumutbar sind. Während die Feststellungen des Landessozialgerichts in dieser Hinsicht zu wenig eingehend sind, läßt es andererseits eine Auseinandersetzung mit der Frage offen, ob der Kläger noch Zimmererarbeiten verrichten kann. Dazu lag Veranlassung vor, weil er diese Tätigkeit zuletzt noch eine gewisse Zeit ausgeübt hat. Wenn er auch geltend macht, daß er diese Tätigkeit nicht vollwertig verrichtet habe, so hätte doch immerhin eine Prüfung nahegelegen.

Da mangels ausreichender Feststellungen eine eigene Entscheidung des erkennenden Senats nicht möglich war, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Das Berufungsgericht wird, wenn es wiederum zu dem Ergebnis kommt, daß der Kläger nicht mehr invalide ist, noch zusätzlich zu prüfen haben, ob nicht für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit nach dem Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz vorliegen. Sollte dies der Fall sein, müßte es die Beklagte zur Weitergewährung der Rente vom 1. Januar 1957 an verurteilen.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2000685

BSGE, 215

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge