Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewöhnung. Frage der Invalidität bei einem Schwerbeschädigten

 

Leitsatz (amtlich)

Auch in der Gewöhnung an einen Krankheitszustand kann eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eines Versicherten liegen, wenn sich seine Erwerbsfähigkeit dadurch erhöht hat. Allerdings darf eine solche Feststellung gerade bei Amputierten nur mit besonderer Vorsicht getroffen werden. Die Entziehung der Rente ist nur gerechtfertigt, wenn der Versicherte infolge dieser wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen wieder in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen.

 

Normenkette

RVO § 1293 Abs. 1 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts in Hamburg vom 25. Oktober 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der 1923 geborene Kläger war von April 1939 bis Oktober 1942 als Klempner- und Mechanikerlehrling tätig. Im Oktober 1942 wurde er zum Wehrdienst einberufen, ohne die Lehre abgeschlossen zu haben. Im August 1944 wurde er verwundet. Das rechte Bein mußte im Oberschenkel und das linke Bein im Unterschenkel amputiert werden; das linke Ohr ertaubte; ein Stecksplitter blieb im Nacken zurück. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist mit 100 v.H. anerkannt. Die Beklagte gewährte die Invalidenrente vom 1. September 1945 an. Im Jahre 1946 erhielt der Kläger Prothesen, die er allerdings erst seit 1949 tragen Konnte. Am 20. Oktober 1949 wurde er auf Grund des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwBG) bei der Firma "M." eingestellt. Nachdem er zunächst drei Jahre lang mit leichten Schweißarbeiten beschäftigt war, ist er nun in der Zugführerkontrolle tätig. Er übt seine Tätigkeit im Sitzen aus; das Material muß ihm, da er es nicht selbst heranholen kann, an seinen Arbeitsplatz gebracht werden. Die Beklagte ließ den Kläger am 21. August 1953 durch den Facharzt für Chirurgie Dr. M. untersuchen. Dieser kam zu dem Schluß, daß der Kläger sich an die Prothesen gewöhnt habe; er könne die bei der Firma "Montblanc" verrichtete Tätigkeit weiter ausüben. Auf Grund dieses Gutachtens entzog die Beklagte die Invalidenrente durch Bescheid vom 16. Oktober 1953 mit Ablauf des Monats November 1953.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 11. November 1953 beim Oberversicherungsamt in Hamburg Berufung ein, die mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht in Hamburg überging. Er beantragte, den Entziehungsbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Invalidenrente über den Monat November 1953 hinaus weiterzugewähren.

Das Sozialgericht holte eine Auskunft bei der Arbeitgeberin des Klägers ein. Nach dieser Auskunft übt der Kläger eine leichte Beschäftigung im Sitzen aus, die im allgemeinen nur von Frauen verrichtet wird. Er erhält den vollen Tariflohn. Wegen Krankheit hat er die Arbeit nie versäumt. Das Sozialgericht hörte in der mündlichen Verhandlung noch den medizinischen Sachverständigen Dr. H... Dieser kam zu dem Schluß, daß der Kläger seine Beschäftigung nicht auf Kosten seiner Gesundheit ausübe; längere Wege zur Arbeit seien ihm allerdings nicht zuzumuten.

Das Sozialgericht wies durch Urteil vom 12. August 1955 die Klage ab. Der Kläger habe sich inzwischen an die Prothesen gewöhnt; er könne eine Beschäftigung im Sitzen ausüben und sei deshalb nicht mehr invalide.

Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung beim Landessozialgericht in Hamburg ein. Dieses ließ den Kläger noch durch den Facharzt für innere Krankheiten Dr. A... untersuchen, der zu dem Ergebnis kam, daß der Kläger eine Tätigkeit im Sitzen regelmäßig ausüben könne, wie dies auch tatsächlich seit 1949 der Fall sei. Auch der Weg zur Arbeitsstätte sei dem Kläger zumutbar, wenn nicht ein längerer Fußweg erforderlich sei. Außerdem hörte das Landessozialgericht noch den Medizinaldirektor Dr. P.... Dieser nahm an, daß eine wesentliche Besserung des Zustandes eingetreten sei und der Kläger die seit 1949 ausgeübte Tätigkeit nicht auf Kosten seiner Gesundheit verrichte. Der Weg zur Arbeit sei dem Kläger auch unter großstädtischen Verhältnissen zumutbar.

Das Landessozialgericht wies durch Urteil vom 25. Oktober 1956 die Berufung zurück und ließ die Revision zu. Es sah eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers darin, daß er es gelernt habe, mit seinen Prothesen zu gehen. Zwar habe er die jetzige Beschäftigung auf Grund des SchwBG erhalten. Er sei jedoch auch ohne den Schutz dieses Gesetzes in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld eine ähnliche Beschäftigung zu erhalten und die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen, wie die ärztlichen Gutachten ergäben. Eine leichte Arbeit im Sitzen sei ihm zumutbar; denn er dürfe die Arbeit eines ungelernten Arbeiters nicht ablehnen, da er keine abgeschlossene Berufsausbildung und keine längere Betätigung in einem Beruf, der eine Vorbildung erfordere, nachweisen könne. Auch der Weg zur Arbeitsstätte, der jetzt 3/4 Stunde betrage und sich aus Fußweg, Bus- und Bahnfahrt zusammensetze, sei ihm zuzumuten.

Gegen dieses ihm am 1. Dezember 1956 zugestellte Urteil legte der Kläger durch seine Prozeßbevollmächtigten am 20. Dezember 1956 Revision ein. Nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 1. März 1957 verlängert worden war, begründete er die Revision am 12. Februar 1957. Er rügt die Verletzung der Amtsermittlungspflicht, die Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung und die unrichtige Anwendung des § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Landessozialgericht; es hätte aufklären müssen, welche konkreten Tätigkeiten er noch verrichten könne, und hätte ihn nicht abstrakt auf Arbeiten im Sitzen auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verweisen dürfen; auch hätte es nicht aus dem Umstand, daß er seine jetzige Tätigkeit verrichte, schließen dürfen, daß er dazu auch auf dem allgemeinen Arbeitsfeld in der Lage sei. Das Landessozialgericht hätte vor allem seine Arbeitgeberin fragen müssen, ob sie ihn auch ohne das SchwBG eingestellt hätte und ihn auch dann weiterbeschäftigen würde, wenn er den Schutz des SchwBG nicht hätte. Er sei nicht wettbewerbsfähig und deshalb invalide; er könne einen Arbeitsplatz mit sitzender Tätigkeit nur mit Hilfe des SchwBG erlangen. Außerdem müsse ihm das Material an den Arbeitsplatz gebracht werden. Die Arbeiten, die er noch verrichten könne, seien ausgesprochene Frauenarbeiten, die ihm deshalb nicht zumutbar seien. Schließlich sei ihm auch der Weg zur Arbeitsstätte nicht zuzumuten, denn er habe kein Bodengefühl und sei außerdem auf einem Ohr taub. Schon das Überqueren einer Straße sei eine ernste Gefahr für ihn.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Oktober 1956 und unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 12. August 1955 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 16. Oktober 1953 zu verurteilen, bei dem Kläger Invalidität über den 30. November 1953 hinaus anzuerkennen und Rente in gesetzlicher Höhe zu zahlen, sowie die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aller drei Rechtszüge zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß der Kläger weder invalide im Sinne des § 1254 RVO a.F. noch berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO sei. Bei dem Kläger sei eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen insofern eingetreten, als er sich an die Prothesen gewöhnt und durch die langjährige Tätigkeit als Schweißer und Kontrolleur neue Fähigkeiten erworben habe. Diese Tätigkeiten seien ihm auch zuzumuten, zumal die Tätigkeit eines Schweißers der früher ausgeübten eines Klempners artverwandt sei. Der Kläger sei auch ohne den Schutz des SchwBG in der Lage, einen Beruf auszuüben. Die Gefährdung im Straßenverkehr sei für ihn bei genügender Sorgfalt nicht größer als für andere Verkehrsteilnehmer.

 

Entscheidungsgründe

Der zulässigen Revision konnte der Erfolg nicht versagt bleiben.

Die Prüfung der Frage, ob dem Kläger die Invalidenrente zu Recht entzogen worden ist, richtet sich hier noch nach altem Recht (vgl. dazu Urteil des 3. Senats vom 17.12.1957 - 3 RJ 160/55 -). Es war daher zu prüfen, ob der Kläger infolge wesentlicher Veränderung in seinen Verhältnissen nicht mehr invalide ist ( § 1293 RVO a.F.).

Nach den vom Landessozialgericht getroffenen Feststellungen, an die der Senat - da sie nicht angegriffen worden sind - nach § 163 SGG gebunden ist, ist in den Verhältnissen des Klägers insofern eine wesentliche Änderung eingetreten, als er sich an den Gebrauch der ihm zur Verfügung gestellten Prothesen gewöhnt hat. wenn auch eine wesentliche Änderung in dem körperlichen Befund des Klägers nicht eingetreten ist und auch kaum eintreten kann, so hat doch das Landessozialgericht zutreffend erkannt, daß auch in der Gewöhnung an einen Krankheitszustand, insbesondere wenn der Gewöhnungsprozeß durch die Benutzung moderner Prothesen unterstützt wird, eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eines Versicherten liegen kann, wenn sich seine Erwerbsfähigkeit dadurch erhöht hat. Allerdings darf eine solche Feststellung gerade bei Amputierten nur mit besonderer Vorsicht getroffen werden. Immerhin aber kann in vielen Fällen durch Benutzung moderner Prothesen doch eine wesentliche Steigerung der Erwerbsfähigkeit erzielt werden. Es ist nicht ersichtlich, daß das Landessozialgericht bei seiner Entscheidung gegen diese Grundsätze verstoßen hätte. Nach § 1293 Abs. 1 RVO a.F. genügt allerdings eine solche wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Versicherten allein nicht, um eine Entziehung der Invalidenrente zu rechtfertigen. Diese ist vielmehr nur dann statthaft, wenn der Versicherte infolge dieser wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr invalide ist, wenn er also wieder in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen ( § 1254 RVO a.F.). Das Landessozialgericht hat angenommen, daß der Kläger wieder in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen, weil er fähig sei, sitzende Tätigkeiten in Gewerbe - und Handelsbetrieben sowie in Verwaltungen auszuüben, und entsprechende Arbeitsplätze in Hamburg in ausreichender Zahl zur Verfügung ständen. Diese Feststellung hat der Kläger angegriffen, indem er dem Landessozialgericht vorwirft, es habe seine Amtsermittlungspflicht verletzt und habe die Grenzen des ihm zustehenden Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten. Diese Rügen greifen durch. Dem Landessozialgericht kann zwar darin zugestimmt werden, daß der Kläger dann nicht mehr als invalide angesehen werden Könnte, wenn er in der Lage wäre, ohne Einschränkung in Hamburg in ausreichendem Umfang vorkommende sitzende Tätigkeiten zu verrichten. Zwar hat das Landessozialgericht der jetzigen Tätigkeit des Klägers - weil er sie auf Grund des SchwBG erhalten hat - keine ausreichende Beweiskraft dafür zugemessen, daß er auch sonst sitzende Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verrichten kann; es hat sich aber andererseits ohne Einschränkung auf die ärztlichen Sachverständigengutachten gestützt, obwohl sich die Sachverständigen ihrerseits bei der Beurteilung unter anderem auch darauf berufen, daß der Kläger seit längerer Zeit seine jetzige Arbeitsstelle innehat, ohne hierbei zu beachten, daß er diesen Arbeitsplatz auf Grund des SchwBG erhalten hat und daß er ihn außerdem auch nicht voll ausfüllt. Im Gegensatz zu seinen Arbeitskameraden ist er nicht in der Lage, sich das Arbeitsmaterial selbst herbeizuschaffen, dieses muß ihm vielmehr herangebracht werden (vgl. dazu Gutachten Dr. A... vom 7.8.1956 und gutachtliche Stellungnahme des Dr. P... vom 25.10.1956). Wenn das Landessozialgericht diese Gutachten trotz der bezeichneten Mängel ohne Einschränkung seiner Entscheidung zugrunde legt, so steht dies im Widerspruch zu seiner eigenen Auffassung, die der jetzigen Tätigkeit des Klägers keinen ausschlaggebenden Beweiswert zumißt. Seine Beweiswürdigung ist daher in sich widerspruchsvoll; es hat damit die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten. Seine Feststellungen sind insoweit für das Revisionsgericht nicht bindend. Das angefochtene Urteil mußte somit aufgehoben werden. Da der erkennende Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht selbst entscheiden konnte, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Das Landessozialgericht wird, wie es auch selbst nicht verkannt hat, dem Umstand, daß der Kläger seit längerem seine jetzige Tätigkeit ausübt, grundsätzlich keine große Bedeutung zumessen dürfen, weil er den jetzigen Arbeitsplatz auf Grund des SchwBG erhalten hat. Zwar könnten auch in einem solchen Falle aus dem Umstand, daß ein Versicherter diese geschützte Tätigkeit längere Zeit hindurch vollwertig ausfüllt, dennoch u.U. geschlossen werden, daß er einen entsprechenden Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsfeld auch ohne den Schutz des SchwBG erhalten würde. Es darf aber bei der Tätigkeit des Klägers nicht außer acht gelassen werden, daß er diese Tätigkeit in Wirklichkeit nicht vollwertig ausübt, da er nicht in der Lage ist, das Arbeitsmaterial selbst herbeizuschaffen. Wenn überhaupt, so könnte diese Tätigkeit nur als Beweis dafür angesehen werden, daß er fähig wäre, sitzende Tätigkeiten zu verrichten, bei denen eine Zuführung von Material nicht erforderlich ist oder dieses den vergleichbaren Arbeitern ohnedies durch Fließband oder auf andere Weise an den Arbeitsplatz gebracht wird. Das Landessozialgericht müßte allerdings auch prüfen, ob es derartige Arbeitsplätze in Hamburg in ausreichendem Umfang gibt und ob diese von der jetzigen Wohnung des Klägers aus so zu erreichen sind, daß ihm bei seiner Behinderung der Weg zuzumuten ist. Da der Kläger durch die Doppelamputation besonders schwer behindert ist und auch seine einseitige Taubheit eine gewisse zusätzliche Belastung darstellt, wird diese Prüfung besonders eingehend durchzuführen sein; es müssen schon ins einzelne gehende Erhebungen angestellt werden, welche derartigen von Kläger von seiner jetzigen Wohnung aus erreichbaren Arbeitsplätze vorhanden sind.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

RegNr, 12961

Sozialrechtliche Entscheidungssammlung, BSG V § 1293 Nr 2 (Leitsatz 1 und Gründe)

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