Leitsatz (redaktionell)
1. Arbeitsuchender iS von AFG § 47 ist, wer nach Abschluß der Umschulungsmaßnahme eine Tätigkeit, für die Arbeitskräfte eingestellt zu werden pflegen, ausüben kann und will.
2. Für die Beurteilung, ob die Förderung der Teilnahme an einr Bildungsmaßnahme auch unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig erscheint, kommt es grundsätzlich auf die Verhältnisse in dem angestrebten Beruf (Zielberuf) an, nicht aber generell auf einen Vergleich mit den Verhältnissen im bisherigen Beruf (Ausgangsberuf).
3. Die Prüfung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes im Rahmen des AFG § 36 läßt keinen Raum für eine Ordnung des Arbeitsmarktes, insbesondere für eine Lenkung der Arbeitskräftefluktuation zwischen verschiedenen Berufen. Bei der Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Förderung sind regelmäßig die Zwecke maßgebend, denen die jeweilige Maßnahme dient; Zweck der Umschulung ist es in erster Linie, die berufliche Beweglichkeit des Arbeitnehmers zu sichern oder zu verbessern.
Orientierungssatz
Die Zweckmäßigkeit einer Förderung kann jedenfalls dann nicht mit der Begründung verweigert werden, der Bildungswillige komme aus einem Beruf (hier: Industriekaufmann, Buchhalter), für den es eine hohe Anzahl offener Stellen gebe, wenn auch der angestrebte Beruf (hier: Erzieherin) ein Mangelberuf ist. Zweck der Umschulung ist es in erster Linie, die berufliche Beweglichkeit des Arbeitnehmers zu sichern oder zu verbessern (AFG § 47 Abs 1, § 2 Nr 2). Dieses Ziel wird erreicht, wenn der Kläger in dem neuen Beruf eine reale zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeit erwirbt.
Normenkette
AFG § 2 Nr. 2 Fassung: 1969-06-25, § 47 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, § 36 Fassung: 1969-06-25; AFuU § 8 Fassung: 1969-12-18
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Januar 1974 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 1972 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16. November 1971 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1972 verurteilt, die Teilnahme der Klägerin an dem Seminar der Berufsfachschule und Fachschule für Erzieher des Diakonischen Werkes in B in der Zeit vom 8. November 1971 bis 16. Oktober 1973 zu fördern.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Umschulung der Klägerin vom Beruf der Buchhalterin zur Erzieherin zu fördern.
Die im März 1949 geborene Klägerin machte nach dem Besuch der Volksschule und einer Handelsschule von April 1965 bis September 1967 eine Lehre zum Industriekaufmann durch, die sie mit der Gehilfenprüfung abschloß. Sie war dann bis Oktober 1971 als Buchhalterin tätig. Sie kündigte ihr Arbeitsverhältnis, um Erzieherin zu werden.
In der Zeit vom 8. November 1971 bis Oktober 1973 nahm sie an einem Seminar der Berufsfachschule und Fachschule für Erzieher des Diakonischen Werkes in B teil und legte am 16. Oktober 1973 ihre Prüfung als Erzieherin ab. Danach hatte sie noch ein einjähriges Berufspraktikum zu absolvieren.
Den Antrag der Klägerin auf Förderung lehnte die Beklagte unter Hinweis auf § 8 der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung vom 18. Dezember 1969 (ANBA 1970, 85 - AFuU 1969 -) mit der Begründung ab, an Buchhalterinnen bestehe auf dem Arbeitsmarkt ein großer Bedarf. Eine Umschulung in einen anderen Mangelberuf sei deshalb nicht zweckmäßig (Bescheid vom 16. November 1971; Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 1972).
Die Beklagte hat sich darauf berufen, daß im Dezember 1971 in den Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen in B 1.861 offene Stellen vorhanden gewesen seien gegenüber nur 335 im Sozial- und Erziehungsbereich, in geistes- und naturwissenschaftlichen Berufen. Betrachte man das gesamte Gebiet der Bundesrepublik einschließlich Berlin (West), ergebe sich dasselbe Bild. 40.517 offenen Stellen für Frauen in Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen hätten im Dezember 1971 nur 6.153 im Sozial- und Erziehungsbereich, in geistes- und naturwissenschaftlichen Berufen gegenübergestanden (Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit 1972, S. 48 und 120). Auch die statistischen Unterlagen über den Bestand an offenen Stellen, die letztmalig beruflich gegliedert nach dem Stande von Mitte Mai 1971 erstellt worden seien, wiesen im gesamten Gebiet der Bundesrepublik einschließlich Berlin (West) für Buchhalterinnen 6.759, dagegen für Kindergärtnerinnen und Heimerzieherinnen nur 3.460 offene Stellen aus. Stelle man die Gruppe der Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe, zu der auch der von der Klägerin erlernte Beruf des Industriekaufmanns gehöre, der Gruppe der sozialpflegerischen Berufen gegenüber, so verschiebe sich das Bild noch weiter zu Ungunsten der Klägerin. 62.332 offene Stellen seien bei den Büroberufen vorhanden, dagegen nur 6.196 bei den sozialpflegerischen (Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit 1971, Heft 11 S. 903, 906).
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 28. September 1972 die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 18. Januar 1974 zurückgewiesen und ausgeführt: Die Klägerin sei nicht Arbeitsuchende im Sinne des § 47 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Diesem Begriff sei nicht schon damit Genüge getan, daß sich ein Beschäftigter ein anderes Berufsziel setze und seine - nicht durch Arbeitslosigkeit gefährdete - Arbeit aufgebe, um sich auf dieses Berufsziel vorzubereiten. Die Förderung der Umschulung der Klägerin sei auch nicht zweckmäßig; denn als unzweckmäßig seien Förderungen anzusehen, wenn sie dem Mangel in einer Berufsgruppe zu Lasten eines anderen Mangelberufes abzuhelfen suchten.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 36, 47 AFG durch das LSG und führt insbesondere aus: Für die Bejahung des Tatbestandsmerkmals "Arbeitsuchender" reiche es aus, wenn der Arbeitnehmer aus offensichtlich nicht abwegigen Motiven sich ein anderes Berufsziel setze und die bisherige Arbeit aufgebe. Nach den Feststellungen des LSG sei sowohl der Beruf der Buchhalterin als auch der einer Erzieherin ein Mangelberuf. Die Maßnahme stelle sich deshalb zunächst als wertneutral dar und erweise sich schließlich als zweckmäßig, wenn man den Umstand berücksichtige, daß sie in einem sozialen Beruf höhere Leistungen erbringen werde.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 28. September 1972 sowie des Bescheides vom 16. November 1971 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1972 die Beklagte zu verurteilen, die Teilnahme der Klägerin an dem Seminar der Berufsfachschule und Fachschule für Erzieher des Diakonischen Werkes in B in der Zeit vom 8. November 1971 bis 16. Oktober 1973 zu fördern.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Nicht jeder Beschäftigte, der sich ein anderes Berufsziel setze, könne als Arbeitsuchender im Sinne des § 47 Abs. 1 AFG angesehen werden. Als Industriekaufmann und Buchhalterin habe die Klägerin bereits einen qualifizierten Beruf, der ihr auch Aufstiegsmöglichkeiten biete. Es würde dem arbeitsmarktpolitischen Grundgedanken der Umschulungsförderung (§ 36 AFG) widersprechen und sei mit dem vom Gesetzgeber in §§ 1 und 2 AFG erteilten Auftrag nicht vereinbar, die Klägerin zur Kindergärtnerin/Erzieherin umzuschulen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat nach § 47 Abs. 1 AFG einen Anspruch gegen die Beklagte auf Förderung ihrer Teilnahme an dem Seminar der Fachschule für Erzieher des Diakonischen Werkes in B.
Zu Recht hat das LSG die Bildungsmaßnahme, an der die Klägerin teilgenommen hat, als Umschulung im Sinne des § 47 AFG angesehen. Nach § 47 Abs. 1 AFG fördert die Beklagte die Teilnahme von Arbeitsuchenden an Maßnahmen, die das Ziel haben, den Übergang in eine andere geeignete berufliche Tätigkeit zu ermöglichen. Eine andere berufliche Tätigkeit ist eine Berufstätigkeit mit neuem Inhalt (§ 3 Abs. 2 Satz 1 AFuU 1969). Der Wechsel von der Tätigkeit der Buchhalterin und des Industriekaufmanns zur Erzieherin stellt einen Übergang in einen Beruf mit neuem Inhalt dar. Die Klägerin kann ihre bisherigen Berufskenntnisse nicht in die neue Aufgabe übernehmen. Zudem stehen bei der Tätigkeit als Erzieherin die pädagogischen Anforderungen im Vordergrund.
Zu Unrecht hat das LSG die Klägerin deshalb nicht als arbeitsuchend angesehen, weil sie in einer ungekündigten Stellung gestanden hat, als sie den Entschluß faßte, sich zur Erzieherin ausbilden zu lassen. Entscheidend ist nicht, daß die Klägerin jederzeit wieder in dem Beruf als Buchhalterin oder Industriekaufmann eine Anstellung finden könnte. Daß die Klägerin während ihrer Umschulung nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, hindert ebenfalls nicht die Annahme, sie sei arbeitsuchend. Nach der Rechtsprechung des Senats hat als arbeitsuchend jede Person zu gelten, die eine Tätigkeit, für die Arbeitskräfte eingestellt zu werden pflegen, ausüben kann und will. Es genügt, daß die Klägerin gegenüber dem Arbeitsamt den Willen bekundet, nach Abschluß der Umschulungsmaßnahme eine Beschäftigung aufzunehmen (SozR 4100 § 47 Nr. 6). Das ist hier aber der Fall.
Wie das LSG festgestellt hat, besteht die Bildungsmaßnahme, an der die Klägerin teilgenommen hat, aus einer Schulzeit von zwei Jahren und einem Praktikum von einem Jahr. Die Förderung der Teilnahme der Klägerin an dieser Maßnahme scheitert also nicht an der Dauer der Ausbildung (§ 47 Abs. 3 Satz 2 AFG; § 6 Abs. 1 Satz 3 AFuU 1969).
Ferner steht der Förderung der Teilnahme der Klägerin an der Umschulungsmaßnahme nicht entgegen, daß der Beruf, aus dem die Klägerin kommt, eine hohe Zahl offener Stellen aufweist, also einen sogenannten Mangelberuf darstellt. Für die Beurteilung, ob die Förderung des Lehrgangsbesuchs auch unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig ist, kommt es grundsätzlich auf die Verhältnisse in dem angestrebten Beruf an, nicht aber - wie das angefochtene Urteil und die Beklagte meinen - generell auf einen Vergleich mit den Verhältnissen im bisherigen Beruf (Urteil des Senats vom 6. März 1975 - 7 RAr 66/72 -). Hiervon geht die Beklagte in der Neufassung von § 8 AFuU (Fassung 19. Dezember 1973) - die hier nicht anzuwenden ist - selbst grundsätzlich aus. Bereits der Wortlaut des § 36 AFG läßt erkennen, daß Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes bei der Beurteilung der Zweckmäßigkeit lediglich berücksichtigt werden müssen. Diese Prüfung gibt keinen Raum für eine Ordnung des Arbeitsmarktes, insbesondere für eine Lenkung der Arbeitskräftefluktuation zwischen verschiedenen Berufen durch die Beklagte. Eine solche allgemeine Lenkungsbefugnis der Beklagten dem § 36 AFG zu entnehmen, würde den in § 2 AFG aufgeführten allgemeinen Zielen des Gesetzes nicht entsprechen. Ob eine Förderung nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig erscheint, orientiert sich vielmehr regelmäßig an den Zwecken, denen die jeweilige Maßnahme dient. Zweck der Umschulung ist es in erster Linie, die berufliche Beweglichkeit des Arbeitnehmers zu sichern oder zu verbessern (§ 47 Abs. 1; § 2 Ziff. 2 AFG). Dieses Ziel wird regelmäßig erreicht, wenn der Bildungswillige in dem neuen Beruf - zusätzlich zu seinem bisherigen Beruf - eine auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Beschäftigungsmöglichkeit erhalten kann. Diese Voraussetzung ist grundsätzlich dann erfüllt, wenn es sich bei dem angestrebten Beruf um einen sogenannten Mangelberuf handelt; anders mag es sein, wenn der neue Beruf überbesetzt ist oder wegen rückläufiger Tendenzen in absehbarer Zeit Unterbringungsschwierigkeiten erwarten läßt. Wo für die Annahme derartiger Gegebenheiten die genauen Grenzen liegen, ist nach Lage des Einzelfalles zu entscheiden. Dabei können u. U. auch die Verhältnisse in dem bisherigen Beruf von Bedeutung sein. Es ist durchaus denkbar, daß der Wechsel in den neuen Beruf die Möglichkeiten des Einsatzes auf dem Arbeitsmarkt nicht erweitert, weil eine Rückkehr in den bisherigen Beruf ausgeschlossen erscheint oder sehr erschwert ist, so z. B. bei besonders schneller Entwicklung der Anforderungen an die Berufskenntnisse oder weil ständige Übung bestimmter Tätigkeiten erforderlich ist. Im vorliegenden Fall hat das LSG festgestellt, daß es sich bei dem angestrebten Beruf der Erzieherin um einen Mangelberuf handelt. Damit sind die Voraussetzungen des § 36 AFG erfüllt.
Da somit aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG der Anspruch der Klägerin zu bejahen ist, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zur Leistung zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen