Leitsatz (amtlich)

War wegen einer Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst die Aufnahme einer Hochschulausbildung zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Beendigung der Schulausbildung unmöglich, so ist die Zeit zwischen dem Ende der Schulausbildung und dem Beginn des Wehrdienstes Ausfallzeit iS von § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 RVO, wenn das später abgeschlossene Studium zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach dem Ende des Dienstes aufgenommen worden ist.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Fassung: 1972-10-16; AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.03.1980; Aktenzeichen L 18 An 208/79)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 22.08.1979; Aktenzeichen S 20 An 181/78)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger die Zeit zwischen der Ablegung der Reifeprüfung und dem Beginn des Grundwehrdienstes als Ausfallzeit vorzumerken hat.

Der im August 1948 geborene Kläger legte am 10. Juli 1967 die Reifeprüfung ab. Vom 2. Oktober 1967 bis zum 31. März 1969 leistete er Grundwehrdienst. Im April 1969 nahm er das Studium der Rechtswissenschaften auf, das er am 9. Februar 1974 mit der ersten Staatsprüfung abschloß.

Die Beklagte merkte die Zeiten vom 24. August 1964 bis 10. Juli 1967 und vom 9. April 1969 bis 9. Februar 1974 als Ausfallzeiten vor, lehnte aber eine Vormerkung der Monate August und September 1967 ab. Der nach erfolglosem Widerspruch erhobenen Klage, mit der der Kläger eine Vormerkung auch dieser Monate begehrte, gab das Sozialgericht (SG) statt, das Landessozialgericht (LSG) wies sie ab. Zur Begründung seines Urteils hat das LSG ausgeführt, die streitige Zeit sei keine Ausbildungszeit. Zwar sei Ausfallzeit auch die Zeit, die zwischen der Schulentlassung des Abiturienten und dem zum nächstmöglichen Termin aufgenommenen und später abgeschlossenen Hochschulstudium liege. Das könne jedoch nicht für den Fall gelten, daß ein Abiturient zunächst Wehrdienst ableiste, ohne, wie das hier zutreffe, bereits an einer Hochschule immatrikuliert zu sein. In einem solchen Falle pflege noch nicht einmal festzustehen, welchen weiteren Ausbildungsgang oder welchen Berufsweg der Abiturient einschlagen werde; auch der Kläger habe in dieser Hinsicht noch keine völlige Klarheit gewonnen gehabt.

Die Wartezeit zwischen dem Ende der Schulausbildung und dem Beginn des Wehrdienstes stehe in keinem Zusammenhang mit dem späteren Hochschulstudium. Das gefundene Ergebnis stehe auch nicht im Widerspruch zum Gleichheitssatz. Eine Berücksichtigung der streitigen Zeit wäre vielmehr eine ungerechtfertigte Bevorzugung gegenüber Versicherten, die in einer solchen Zeit weder einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen seien noch einen der sonstigen Ausfallzeittatbestände erfüllt und sich nach dem Wehrdienst einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zugewandt hätten.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG). Es sei sachfremd, die Zeit erzwungener Untätigkeit zwischen Abitur und Wehrdienst anders zu behandeln als eine ebenso lange Zeit zwischen Abitur und Studiumbeginn.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Berufungsurteil aufzuheben und die

Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sind Ausfallzeiten ua Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung bis zur Höchstdauer von vier Jahren und einer Hochschulausbildung bis zur Höchstdauer von fünf Jahren. Hierzu zählt, wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 16. Februar 1966 (SozR Nr 16 zu § 1259 RVO) entschieden hat, auch der Zeitabschnitt zwischen dem Abschluß der Schulausbildung und der Aufnahme eines später abgeschlossenen Studiums zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Der erkennende Senat ist dem im Urteil vom 31. Mai 1979 (SozR 2200 § 1259 Nr 39) beigetreten; er hat dabei als wesentlich den Gedanken bezeichnet, daß bei einem solchen häufigen und typischen Sachverhalt, wie er sich aus schul- und hochschulorganisatorischen Gründen für studierwillige Abiturienten ergibt, die Zwischenzeit regelmäßig für die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und für eine Beitragsleistung ausfällt. Diesen Gedanken hat der Senat in dem angeführten Urteil auf den Fall übertragen, daß die Schulausbildung durch eine Verpflichtung zum Notdienst und zum Kriegsdienst unterbrochen worden ist, und auch die Zeit zwischen dem Wegfall der zwangsweisen Unterbrechung der Schulausbildung und dem tatsächlichen Schulbeginn als Ausfallzeit anerkannt.

Von diesen Überlegungen ist auch hier auszugehen. Daß ein Abiturient zum gesetzlichen Wehrdienst oder Zivildienst herangezogen wird, bevor er ein Studium aufnehmen kann, ist kaum weniger häufig und typisch als der Fall einer Aufnahme des Studiums zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Ablegung der Reifeprüfung; in beiden Fällen fällt die Zwischenzeit regelmäßig für die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung aus. Auch hier stellen sich schließlich Schul- und Hochschulausbildung als eine einheitliche, notwendig zusammenhängende Ausbildung dar (vgl SozR Nr 16 zu § 1259 RVO), die durch den Wehrdienst zwangsweise unterbrochen worden ist (SozR 2200 § 1259 Nr 39); für eine unterschiedliche Behandlung von Zeiten vor und nach der Unterbrechung fehlt es an einem einleuchtenden Grund.

Das bedeutet, daß es bei Anwendung von § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG der Aufnahme des Studiums zum frühestmöglichen Zeitpunkt gleichsteht, wenn ein solcher Studienbeginn wegen einer Einberufung zum Wehrdienst oder Zivildienst unmöglich war und wenn das - später abgeschlossene - Studium zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach der Beendigung des Wehrdienstes oder Zivildienstes aufgenommen worden ist. Diese Voraussetzungen sind nach den Feststellungen des LSG hier erfüllt. Darauf, ob der Kläger bereits vor dem Wehrdienst zu studieren beabsichtigte, kann es nicht ankommen; auch dort, wo das Studium zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach der Ablegung der Reifeprüfung aufgenommen worden ist, wird zu Recht nicht darauf abgehoben, wann sich der Versicherte zum Studium entschlossen hat, zumal es sich hier um einen inneren Vorgang handelt, der einer zuverlässigen Kontrolle nicht zugänglich ist. Wie zu verfahren ist, wenn das Studium aus anderen Gründen als wegen der Ableistung von Wehrdienst oder Zivildienst nicht mit dem Beginn des auf die Ablegung der Reifeprüfung folgenden Semesters aufgenommen werden konnte, insbesondere wegen einer Erkrankung des Versicherten oder wegen Mangels an Studienplätzen, bedarf hier keiner Entscheidung.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und mit der sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergebenden Kostenfolge in der Sache zu entscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658723

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