Leitsatz (amtlich)

1. Ein Schwerbehinderter, der mit Krücken gehen und stehen kann, ist nicht allein deshalb von öffentlichen Veranstaltungen ständig ausgeschlossen und von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien, weil er für längere Wege Rollstuhl und Begleitperson braucht.

2. Das gilt auch dann, wenn er auf dem Land wohnt und in seiner näheren Umgebung keine Veranstaltungen stattfinden, die seinen persönlichen Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs 4; RdFunkGebBefrV SH 1980 § 1 Abs 1 Nr 3; RdFunkGebVtr 1974 Art 7 Abs 1 Nr 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 11.02.1985; Aktenzeichen L 2 Vsb 126/84)

SG Schleswig (Entscheidung vom 21.08.1984; Aktenzeichen S 5 Vsb 187/83)

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

Der Kläger - Jahrgang 1912, alleinstehend und im Besitz eines angepaßten Elektrokrankenfahrzeuges - erhält ua wegen knöcherner Versteifung des rechten Kniegelenks durch Resektion mit Verlust der Kniescheibe, Verkürzung des linken Beines um 6,5 cm und Verkürzung des rechten Beines um 5 cm, geringer Bewegungseinschränkung in beiden Fußgelenken sowie arthrotischer Veränderungen im linken Kniegelenk Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH. Sein Antrag, das Merkzeichen "RF" anzuerkennen, wurde abgelehnt. Das Versorgungsamt stellte fest, daß der Schwerbehindertenausweis die Merkzeichen "G" und "1. Kl." enthalten werde; die Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens "RF" seien nicht erfüllt (Bescheid vom 29. Juni 1983; Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 1983). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger mit einem neuen Bescheid das Merkzeichen "RF" zu gewähren (Urteil vom 21. August 1984). Auf die - zugelassene - Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Februar 1985). Es hat den Gebührenbefreiungstatbestand, daß der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann, als nicht verwirklicht angesehen. Der Kläger könne mit Hilfe seines Rollstuhls und einer Begleitperson sowie seiner zwei Krückstöcke zumindest einen Teil des vielfältigen Angebots an öffentlichen Veranstaltungen wahrnehmen. Auf seine konkreten Wohnverhältnisse komme es nicht an.

Der Kläger rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das Berufungsgericht hätte sich mit dem tatsächlichen Vorhandensein einer Begleitperson, mit der räumlichen Entfernung zwischen Wohnung und Gemeindezentrum (3 km) unter Beachtung der geringen Fahrgeschwindigkeit des Elektro-Rollstuhls (6 km/h) sowie mit der individuellen Interessenlage des Klägers auseinandersetzen müssen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das zweitinstanzliche Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat seine Klage zu Recht abgewiesen.

Die Eintragung des Merkzeichens "RF" in den Schwerbehindertenausweis (§ 3 Abs 5 Satz 1 und 5 Schwerbehindertengesetz -SchwbG- idF vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 -/22. Dezember 1983 - BGBl I 1532 -; § 4 Abs 5 Satz 1 und 5 SchwbG idF vom 26. August 1986 - BGBl I 1421 -; § 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 3 Abs 1 Nr 4 Ausweisverordnung vom 15. Mai 1981 - BGBl I 431 -) ist - neben dem Antrag des Behinderten - davon abhängig, daß die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom Versorgungsamt festgestellt worden sind (§ 3 Abs 4 iVm § 1 SchwbG aF, § 4 Abs 4 iVm § 1 SchwbG 1986; BSGE 52, 168 = SozR 3870 § 3 Nr 13; BSG vom 23. Februar 1987 - 9a RVs 72/85 - - zur Veröffentlichung vorgesehen -; BVerwGE 66, 315). Zu ihnen gehört gemäß dem mit dem Recht der anderen Bundesländer übereinstimmenden § 1 Abs 1 Nr 3 der schleswig-holsteinischen Landesverordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 13. Februar 1980 (GVOBl Schl-H S 71) - RGVO -, der seine Ermächtigungsgrundlage in Art 7 Abs 1 Nr 1 des Staatsvertrages über die Regelung des Rundfunkgebührenwesens vom 5. Dezember 1974 findet (Gesetz vom 31. März 1975 - GOVBl Schl-H S 56), daß der Behinderte nicht nur vorübergehend um wenigstens 80 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist und wegen seiner Leiden an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann.

Bei der Auslegung dieser Vorschrift, die eine Teilnahme am öffentlichen Leben und kulturellen Geschehen ermöglichen und behinderungsbedingte Störungen in bezug auf die Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben durch erleichterten Zugang zu Rundfunk- und Fernsehsendungen ausgleichen will und so der Eingliederung Behinderter in die Gesellschaft dient (§ 1 Abs 1, § 10 Nr 2, § 29 Abs 1 Nr 3 Buchst i Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -), ist von den bislang durch den Senat entwickelten Abgrenzungskriterien (BSGE 53, 175 = SozR 3870 § 3 Nr 15; BSG vom 3. Dezember 1986 - 9a RVs 4/84 - und 23. Februar 1987 - 9a RVs 72/85 -; vergleiche auch Bayerisches LSG, Breithaupt 1985, 604) auszugehen. Danach muß der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden "allgemein" und "umfassend" von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, daß sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen, etwa Massenveranstaltungen, verbietet. Der Betroffene muß vielmehr behinderungsbedingt am Besuch eines nennenswerten Teiles aller üblichen Veranstaltungen gehindert sein (insbesondere BSGE 53, 178, 179, 181; BSG vom 23. Februar 1987 - 9a RVs 72/85 -). Diese Auslegung steht ua mit einem Paralleltatbestand der Vorläuferbestimmungen des § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO in Einklang, in dem eine "ständige Bindung" des Behinderten "an seine Wohnung" gefordert wurde (§ 1 Nr 3 Buchst b der Verordnung vom 14. Januar 1970 - GVOBl Schl-H S 15 -, § 1 Abs 1 Nr 3 Buchst b der Verordnung vom 15. Dezember 1972 - GVOBl Schl-H S 255 -, § 1 Abs 1 Buchst a der Verordnung vom 24. September 1975 - GVOBl Schl-H S 260 -).

Die funktionellen Auswirkungen der anerkannten Behinderungen des Klägers, soweit sie für die Fähigkeit, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, bedeutsam sind, ergeben sich aus den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die für das Revisionsgericht verbindlich sind (§ 163 SGG). Danach ist der Kläger zwar - insbesondere wegen der Funktionseinbuße seiner beiden Beine - auf einen eigens angepaßten Elektro-Rollstuhl angewiesen. Er kann jedoch mit Hilfe des Rollstuhls und einer Begleitperson sowie seiner zwei Krückstöcke zumindest einen Teil des vielfältigen Angebots an öffentlichen Veranstaltungen wahrnehmen. Was im Fall des Klägers unter Notwendigkeit einer "Begleitperson" zu verstehen ist, erscheint unklar. Vom LSG nicht gemeint sein kann die Zuerkennung des Merkzeichens "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung). Denn dem Kläger sind lediglich die Merkzeichen "G" und "1. Kl." zugestanden worden. Auch hat das LSG festgestellt, daß der Kläger jedenfalls bei günstiger Witterung mit seinem Rollstuhl allein ausfahren kann; er ist in der Lage, etwa zwei Stunden in seinem Rollstuhl zu sitzen, kürzere Gehstrecken außerhalb desselben mit Hilfe von zwei Krückstöcken zu überwinden und bis zu zwanzig Minuten auf flachem Boden zu stehen. Sofern das LSG daran gedacht haben sollte, daß der Kläger bei ungünstigen Witterungsverhältnissen (insbesondere Kälte, starkem Wind, Glatteis) nicht allein ausfahren kann, ist das kein zwingender Gesichtspunkt, der für die Einräumung des Merkzeichens "RF" spricht, denn dann wäre dem Kläger die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht behinderungsbedingt (wegen seiner Leiden), sondern witterungsbedingt unmöglich. In solchen Fällen teilt der Kläger das Problem, seine Wohnung nicht verlassen zu können, mit anderen, vor allem älteren Menschen, die nicht behindert sind. Letztlich kann dahinstehen, ob der Kläger nur mit Hilfe sowohl eines Rollstuhls als auch einer Begleitperson in nennenswertem Umfang am kulturellen Leben teilnehmen kann. Denn selbst wenn dem so ist, besteht kein Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Solange ein Schwerbehinderter mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen. Insoweit ist auf die §§ 57, 58 SchwbG aF, 60 SchwbG 1986 zu verweisen, durch die für bestimmte Behinderte - die gravierender beeinträchtigt sind als der Kläger - gerade die Möglichkeit eröffnet worden ist, mit einer Begleitperson kostenlos öffentliche Veranstaltungen zu erreichen; es wäre widersinnig anzunehmen, der Gesetzgeber habe einerseits eine solche Fahrgelegenheit angeboten, andererseits wegen der Notwendigkeit einer Begleitperson die Unmöglichkeit der Teilnahme am kulturellen Leben unterstellen wollen (Bayerisches LSG, Breithaupt 1985, 604, 605 f). Im Ergebnis zur selben Auffassung kommen die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1983, Ziff 33 (2) c) = S 131). Danach gehören zu den Behinderten (mit einer MdE um wenigstens 80 vH), die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können, ua solche Behinderte, bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (zB Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in ihnen zumutbarer Weise nicht besuchen können. Ein vergleichbarer Behinderungsgrad ist beim Kläger, der jedenfalls bei günstiger Witterung mit seinem Rollstuhl allein ausfahren kann und in der Lage ist, etwa zwei Stunden in seinem Rollstuhl zu sitzen, kleinere Wegstrecken außerhalb desselben mit zwei Krückstöcken zu überwinden und bis zu zwanzig Minuten auf flachem Boden zu stehen, nicht gegeben. Keiner Hervorhebung bedarf, daß eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen durch Rollstuhlfahrer mit und ohne Begleitperson heute als normal empfunden wird und für diesen Personenkreis in den meisten Fällen auch entsprechende Vorkehrungen getroffen worden sind (Rampen, verbreiterte Türen, geeignete Toiletten). Auf das Fehlen einer Begleitperson kann der Kläger sich, obwohl alleinstehend, nicht mit Erfolg berufen. Insoweit muß er im Einzelfall ggf von der Möglichkeit eines Hin- und Rücktransportes durch die im allgemeinen gut organisierten Sozialdienste Gebrauch machen.

Der Hinweis des Klägers, er könne wegen der räumlichen Entfernung zwischen Wohnung und Gemeindezentrum (3 km) bei Beachtung der geringen Fahrgeschwindigkeit des Elektro-Rollstuhls (6 km/h) an keinen Veranstaltungen teilnehmen, ist nicht geeignet, zu einem anderen Ergebnis zu führen. Insoweit nämlich ist die Nichtteilnahme am kulturellen Geschehen nicht behinderungs-, sondern wohnungsbedingt. Das Risiko der räumlichen Entfernung ist - ähnlich wie das schlechter Witterungsverhältnisse - von jedermann selbst zu tragen.

Schließlich kann es nicht, wie der Senat im bereits zitierten Urteil vom 23. Februar 1987 entschieden hat, darauf ankommen, ob diejenigen Veranstaltungen, an denen der Kläger teilnehmen kann, seinen persönlichen Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen. Andernfalls müßte jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Das aber wäre mit dem Gebührenrecht nicht vereinbar, das sich nicht am individuell unterschiedlichen Interesse, sondern an der Gesamtheit des Rundfunkprogrammes orientiert.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657395

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