Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit eines Metzgers. Verweisungstätigkeiten

 

Orientierungssatz

Ein gelernter Metzger, dem als Verkäufer in einem Selbstbedienungsgeschäft vorzugsweise der Verkauf in der Metzgereiabteilung und der Einkaufspositionen sowie Preiskalkulationen für Fleisch- und Wurstwaren obliegt, übt als sogenannter "Verkaufsmetzger" lediglich eine besonders gestaltete Metzgertätigkeit aus. Die Tätigkeitsmerkmale des "Verkaufsmetzgers" genügen für die Annahme, daß es sich um eine dem "eigentlichen" Metzger gleichrangige, dem Leitbild des Facharbeiters zuzuordnende Tätigkeit handelt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 22.03.1979; Aktenzeichen L 1 J 56/76)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 27.09.1976; Aktenzeichen S 4 J 141/70)

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente.

Der 1927 geborene Kläger übte bis 1949 den zunächst erlernten Beruf des Autoschlossers aus. Anschließend absolvierte er eine Metzgerlehre; 1954 legte er die Gesellen- und 1956 die Meisterprüfung ab. Er arbeitete in diesem Beruf von 1953 bis 1958, war dann als Verkäufer in der Fleisch- und Wurstwarenabteilung eines Selbstbedienungsgeschäfts tätig und eröffnete mit seinem Vater im April 1960 ein Lebensmittelgeschäft. Von diesem Zeitpunkt an wurden ebenso wie in den Jahren von 1953 bis 1957, als er im väterlichen Geschäft tätig gewesen war, keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet. Im Oktober 1965 stürzte er im Geschäft und war nach seinen Angaben wegen der Verletzungsfolgen monatelang bettlägerig. Anfang 1966 wurde das Geschäft aufgegeben.

Nachdem der Kläger im März 1966 erstmals einen Rentenantrag gestellt und die Klage gegen den ablehnenden Bescheid im März 1969 zurückgenommen hatte, beantragte er im Februar 1970 erneute eine Versichertenrente. Die Beklagte ließ ihn von dem Facharzt für Orthopädie Dr med M untersuchen. Dieser verneinte die Einsatzfähigkeit im Metzgerberuf, er empfahl die Aufnahme eines aktiven Trainings der Rückenmuskulatur und hielt wegen des Eindrucks einer neurotischen Fehlhaltung eine psychiatrische Beurteilung für erforderlich. Die Beklagte leitete Eignungsuntersuchungen für eine Umschulung ein. Sie gewährte mit Bescheid vom 14. August 1970, ausgehend von einem am 8. Januar 1970 (dem Beginn einer von ihr bewilligten vierwöchigen Kur) eingetretenen Versicherungsfall, Zeitrente wegen Berufsunfähigkeit vom 9. Juli 1970 bis zum 30. September 1972; dieser vom Kläger mit der Klage angefochtene Bescheid wurde hinsichtlich der Rentenhöhe durch den während des sozialgerichtlichen Verfahrens ergangenen Bescheid vom 30. März 1971 geändert.

Das Sozialgericht (SG) für das Saarland hörte zunächst gutachtlich den Internisten Dr med E und den Orthopäden Dr med U. Beide hielten eine in gewisser Regelmäßigkeit auszuübende Erwerbstätigkeit für nicht zumutbar; sie stellten einen allgemeinen schweren körperlichen Haltungsverfall mit Muskelverschmächtigung, eine erhebliche Funktionsbehinderung des Rumpfes sowie eine Bandscheibenschädigung im Hals- und Brustwirbelsäulenbereich und beginnende rechtsseitige Coxarthrose fest und empfahlen ein langfristiges Heilverfahren. In einem nervenärztlichen Gutachten sprach sich Dr med S für eine neun- bis zwölfmonatige Kur in einer psychosomatischen Klinik aus. Die Beklagte beabsichtigte Umschulungsmaßnahmen und ließ 1972 im Berufsförderungswerk H eine praktische Arbeitserprobung nebst testpsychologischer Eignungsuntersuchung des Klägers - allerdings erfolglos - durchführen; vorgesehene Heilmaßnahmen kamen nicht zur Durchführung, weil die entsprechenden Kliniken in S, S, H und St B einer Aufnahme des Klägers ablehnend gegenüberstanden. Weitere Gutachten erstatteten der Facharzt für Orthopädie Prof Dr C (nach dessen Beurteilung der Kläger leichtere körperliche oder geistige Arbeiten verrichten könne), der Neurologe Prof Dr G (der wie Prof Dr C eine psychosomatische Untersuchung vorschlug) und der Endokrinologe Prof Dr B. Zuletzt führte Prof Dr B in einem psychosomatischen Gutachten aus, bei dem Kläger bestehe eine tendenziöse Fehlhaltung mit Neigung zur Überbewertung von körperlichen Allgemeinbeschwerden; aus psychosomatischer Sicht könne er noch leichtere körperliche oder geistige Arbeiten im Stehen und Sitzen zumindest halbschichtig ausführen.

Das SG hat die auf Dauerrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 27. September 1976). Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat den Bescheid vom 14. August 1970 in der Form des Bescheides vom 30. März 1971 sowie das angefochtene Urteil dahin abgeändert, daß dem Kläger über den Monat September 1972 hinaus Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren ist. Es hat im Urteil vom 22. März 1979 im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger könne noch leichtere körperliche Arbeiten vollschichtig verrichten und sei deshalb nicht erwerbsunfähig. Dagegen bestehe über September 1972 hinaus Berufsunfähigkeit. Als Metzger könne er nicht mehr arbeiten. Den im Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 (= SozR 2200 § 1246 Nr 33) einem Metzger angesonnenen Verweisungstätigkeiten sei der Kläger zwar vom körperlichen Leistungsvermögen her gewachsen, aber nicht hinsichtlich der besonderen Anforderungen. Dies folge einmal aus dem Gutachten des Prof Dr B, zum anderen aus den im Berufsförderungswerk erstellten Berichten, denen wegen ihrer Praxisbezogenheit besondere Bedeutung zukomme. Im übrigen sei in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers seit 1970 jedenfalls keine Besserung eingetreten.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Ansicht, der Kläger besitze noch genügend geistige Fähigkeiten und bringe das erforderliche Verantwortungsbewußtsein mit, um zumindest auf gehobene ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden zu können. Das gehe aus dem Gutachten des Orthopäden Prof Dr C hervor. Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus der Stellungnahme des Diplompsychologen L vom Berufsförderungswerk. Soweit das LSG unter Berufung auf Prof Dr B ausgeführt habe, der Kläger könne keine besonderes Verantwortungsbewußtsein voraussetzende Tätigkeiten ausüben, weil er wegen der langen Inaktivität wohl überfordert werde, sei dies ein unzulässiger Gedankenschluß.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das

Saarland vom 22. März 1979 aufzuheben und die

Berufung des Klägers gegen das Urteil des

Sozialgerichts für das Saarland vom 27. September

1976 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten als unbegründet

zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat dem Kläger zu Recht Berufsunfähigkeitsrente zuerkannt.

Streitbefangen ist lediglich der Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit ab 1. Oktober 1972, da das LSG nur insoweit Rente zugesprochen hat.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können". Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum "bisherigen Beruf" (Hauptberuf). Von ihm aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit von seiner Qualität abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden.

Das Berufungsgericht ist vom Metzgerberuf ausgegangen, hat also diesen als Hauptberuf angesehen. Dagegen bestehen im Ergebnis keine Bedenken. Zwar gilt - vorbehaltlich einer gesundheitlich bedingten Lösung vom Beruf - grundsätzlich die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit vor dem Versicherungsfall als Hauptberuf (wegen Einzelheiten vgl zuletzt Urteil des BSG vom 11. September 1980 - 1 RJ 94/79 -, S 5 bis 7 mwN), und dies war hier - da der Kläger während der Tätigkeit im eigenen Geschäft ab 1960 keine (Pflicht-) Beiträge entrichtete - die Beschäftigung als Verkäufer in einem Selbstbedienungsgeschäft. Da ihm dort jedoch nach den Feststellungen des LSG vorzugsweise der Verkauf in der Metzgereiabteilung oblag und er überdies Einkaufsdispositionen und Preiskalkulationen für Fleisch- und Wurstwaren selbst vornahm, es sich somit also etwa um eine Stellung handelte, die im Urteil des Senats vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 - (= SozR 2200 § 1246 Nr 33) mit "Verkaufsmetzger" umschrieben worden ist, wird man darin, wie dies anscheinend das Berufungsgericht ohne nähere Erläuterung getan hat, eine lediglich besonders gestaltete Metzgertätigkeit sehen können. Jedenfalls sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß der Kläger innerhalb seiner Berufssparte auf einen weniger qualifizierten Beruf übergewechselt wäre, von dem aus dann die Verweisbarkeit beurteilt werden müßte (vgl hierzu Urteil des BSG vom 28. November 1978 - 4 RJ 123/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 34 S 104); vielmehr genügen die im angefochtenen Urteil enthaltenen Tätigkeitsmerkmale für die Annahme, daß es sich um eine dem "eigentlichen" Metzger gleichrangige, dem Leitbild des Facharbeiters zuzuordnende Tätigkeit gehandelt hat.

Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG kann der Kläger als Metzger nicht mehr arbeiten. Dies ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Berufsunfähigkeit. Die Verweisbarkeit eines Facharbeiters unterliegt aber Beschränkungen. Er kann grundsätzlich nur auf Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters verwiesen werden, wobei darunter nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren (mindestens aber ein Jahr) voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (zB BSG, Urteil vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter ausnahmsweise auch ungelernte Tätigkeiten, und zwar dann, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben. Das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität - nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse - tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl zuletzt Urteil des 1. Senats des BSG vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 - und die dort zitierte weitere Rechtsprechung).

Diese Grundsätze für die subjektive Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten (Verweisbarkeit im engeren Sinn) hat das Berufungsgericht, wie seine Entscheidungsgründe erkennen lassen, zutreffend beachtet; insoweit erhebt auch die Beklagte keine Einwände. Es hat aber auch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise geprüft, ob der Kläger die objektiven Voraussetzungen für die Ausübung (sozial) zumutbarer Tätigkeiten erfüllt, und dies wegen Fehlens eines entsprechenden Leistungsvermögens sowie, soweit berufsfremde Tätigkeiten in Erwägung zu ziehen sind, mangels entsprechender Ausbildung und Umstellungsfähigkeit verneint. Hierzu verweist das LSG auf den medizinischen Sachverständigen Prof Dr B, der in seinem psychosomatischen Gutachten ausgeführt habe, der Kläger sei bei Ausübung von Tätigkeiten, die besonderes Verantwortungsbewußtsein voraussetzten, überfordert. Es beruft sich weiter vor allem auf die im Berufsförderungswerk H erstellten Berichte, die praxisbezogener als die eingeholten Gutachten seien und sich auf sonst nicht vorgenommene Untersuchungsmethoden stützten. Weil bei der testpsychologischen Eignungsuntersuchung der Kläger nicht einmal den "minimalsten theoretischen Anforderungen" genügte, die mit einer Umschulungsmaßnahme verbunden seien, und sich der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie des Berufsförderungswerks ähnlich geäußert hätte, hat das LSG gefolgert, daß der Kläger weder eine im Sinn der Rechtsprechung herausgehobene ungelernte Tätigkeit noch eine solche als Verkaufsmetzger oder Vertreter von Metzgereiartikeln verrichten könne.

Der Senat ist an diese tatsächlichen Feststellungen gebunden (§ 163 SGG). Die Beklagte hat hiergegen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Sie rügt keinen Fehler im Gang des Verfahrens, sondern wendet sich lediglich gegen die vom LSG vorgenommene Beweiswürdigung, ohne indessen vortragen zu können, daß die Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten worden seien, insbesondere das LSG gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen habe. Entgegen der Ansicht der Revision ist es nicht unlogisch "und daher unzulässig", wenn das Berufungsgericht den Orthopäden Prof Dr med C hinsichtlich der Beurteilung geistiger Fähigkeiten von seinem Fachgebiet her für überfordert (wohl im Sinne von nicht kompetent genug) hält und sich stattdessen den Ausführungen eines Diplompsychologen und eines Psychosomatikers anschließt. Abgesehen davon stand auch in diesem Zusammenhang nicht allein die Beurteilung geistiger Fähigkeiten in Frage. Soweit die Beklagte die Ausführungen des Diplompsychologen L anders als das LSG verstehen möchte, hat sie zumindest nicht dargelegt, daß ihre Auslegung die einzig mögliche sei. Schließlich vermag die Beklagte auch nicht mit dem Einwand durchzudringen, das Berufungsgericht hätte sich nicht dem Sachverständigen Prof Dr med B anschließen und den Kläger für Tätigkeiten mit besonderem Verantwortungsbewußtsein als überfordert ansehen dürfen. Zum einen ist das LSG hierbei lediglich den Ausführungen des für diese Frage fachlich kompetenten Sachverständigen gefolgt, der seine Beurteilung unter Hinweis auf die lange Zeit der Inaktivität des Klägers abgabe; zum anderen aber hat das LSG betont, daß es den Kläger auch aus anderen ( mehreren") Gesichtspunkten für nicht mehr verweisbar hält (vgl LSG-Urteil S 27).

Nach alledem konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658101

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