Leitsatz (amtlich)

Zum Begriff der Internierung im Sinne des BVG § 1 Abs 2 Buchst c. (Internierung von Volksdeutschen in Rußland vor Kriegsausbruch).

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Juni 1957 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater des Klägers zu 2), Reinhold F, war russischer Staatsangehöriger deutscher Volkszugehörigkeit. Er wurde am 13. Juni 1938 in seinem damaligen Wohnort T. (Wolhynien) von einem russischen Polizisten verhaftet und in das Gefängnis der Kreisstadt G. verbracht. Über sein Schicksal seit dieser Zeit haben die Kläger, die sich seit dem 9. Juli 1954 mit einer im Notaufnahmeverfahren erteilten Erlaubnis im Bundesgebiet aufhalten, nichts mehr erfahren.

Den Antrag der Kläger auf Hinterbliebenenversorgung lehnte das Versorgungsamt (VersorgA.) Karlsruhe mit Bescheid vom 14. Juni 1955 ab, weil die Verschleppung nicht im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg erfolgt sei. Der Widerspruch der Kläger wurde aus den gleichen Gründen mit Entscheidung vom 17. Februar 1956 zurückgewiesen.

Auf die Klage der Kläger hob das Sozialgericht (SG.) Karlsruhe mit Urteil vom 23. Oktober 1956 die Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, die Verschollenheit des Ehemannes der Klägerin zu 1) und Vaters des Klägers zu 2) als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzuerkennen und Hinterbliebenenrente zu gewähren.

Die gegen dieses Urteil vom Beklagten eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg mit Urteil vom 27. Juni 1957 als unbegründet zurück.

Das LSG. stellte fest, daß Reinhold F am 13. Juni 1938 wegen seiner Eigenschaft als Volksdeutscher in seinem Heimatort in Wolhynien verhaftet, wahrscheinlich nach dem Osten Rußlands verbracht und dort in Lagern zunächst festgehalten wurde. Seit der Verhaftung fehle jegliche Nachricht über ihn. Auch bei den Suchdiensten sei über sein Schicksal nichts mehr in Erfahrung zu bringen gewesen. Auf Grund der Angaben der Klägerin und des Gutachtens des Osteuropa-Instituts hat das LSG. ferner festgestellt, daß die Lebensverhältnisse der nach dem Osten Rußlands transportierten und in Lagern festgehaltenen Volksdeutschen während der Zeit vor dem Kriegsausbruch unterschiedlich waren, aber offenbar noch keine ernstliche Gefahr für das Leben der Internierten bestand. Dies habe sich mit dem Kriegsausbruch jedoch geändert, zumal jetzt das ursprüngliche Motiv der Internierung Wirklichkeit geworden sei. Von da an hätten sich die Lebensbedingungen der Volksdeutschen so verschlechtert, daß ihre Gesundheit und ihr Leben in äußerste Gefahr geraten seien. Der Tod des Reinhold F sei wahrscheinlich in der Zeit des Krieges mit Rußland zwischen Juni 1941 und Mai 1945 eingetreten. Das LSG. nahm an, daß Reinhold F im Sinne des § 52 Abs. 1 BVG verschollen ist. Nach Auffassung des LSG. ist die anfänglich allein oder vorwiegend wegen der deutschen Volkszugehörigkeit - zur Sicherung gegen einen befürchteten Krieg - vorgenommene Internierung H jedenfalls spätestens mit dem Kriegsausbruch in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg zu bringen. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses am 25. Juli 1957 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 22. August, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 23. August 1957, Revision eingelegt und diese im Schriftsatz vom 12. September, eingegangen am 20. September 1957, begründet. Er beantragt,

das Urteil des LSG. Baden-Württemberg vom 27. Juni 1957 und das Urteil des SG. Karlsruhe vom 23. Oktober 1956 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des VersorgA. Karlsruhe vom 14. Juni 1955 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 1956 als unbegründet abzuweisen.

Der Beklagte rügt eine Verletzung des § 52 in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG. Der Grund zur Internierung seien innerpolitische Verhältnisse im Jahre 1938 gewesen, die Internierung könne nicht als Vorbereitungs- und Sicherungsmaßnahme für den zweiten Weltkrieg betrachtet werden. Dieser Grund habe sich nicht geändert, auch wenn später der Krieg zwischen Rußland und Deutschland begonnen habe. Die Ursache der Verhaftung sei demnach eine Folge von Gewaltmaßnahmen, die in der Sowjetunion seit Jahren üblich waren. Der Verschollene sei als Bürger eines mit Gewaltmaßnahmen regierenden Staates betroffen worden, eine unmittelbare Kriegsdrohung habe zu einer Verhaftung nicht Anlaß geboten. Der Ausbruch des Krieges habe diese Ursache nicht beseitigt.

Die Kläger beantragen,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen und dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist statthaft, weil das LSG. sie zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die sonach zulässige Revision ist aber nicht begründet.

Die Kläger machen einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung (§ 38 BVG) geltend. Zwar liegt eine Sterbeurkunde oder Todeserklärung für Reinhold H nicht vor, jedoch hat das LSG. auf Grund der Angaben der Kläger und des Gutachtens des Osteuropa-Instituts festgestellt, daß er seit seiner Verhaftung verschollen und sein Tod wahrscheinlich zwischen Juni 1941 und Mai 1945 eingetreten ist (§ 52 BVG). Da der Beklagte diese Feststellungen nicht angegriffen hat, ist das BSG. gemäß § 163 SGG an sie gebunden. Das LSG. hat ferner festgestellt, daß der wahrscheinliche Tod des Reinhold F auf die Verhältnisse zurückzuführen ist, unter denen er festgehalten wurde. In rechtlicher Beziehung hat das LSG. zutreffend in dem Festhalten, zum mindesten in dem Festhalten seit Ausbruch des Krieges mit Rußland, eine Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG gesehen und hat demnach zu Recht den wahrscheinlichen Tod des Reinhold F auf eine Schädigung im Sinne des BVG zurückgeführt.

Nach § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG ist eine Versorgung für die Folgen von solchen Schädigungen zu gewähren, die durch eine Internierung im Ausland wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit herbeigeführt worden sind. Es könnten Bedenken bestehen, ob es sich im vorliegenden Fall um eine "Internierung im Ausland" gehandelt hat, da Reinhold F russischer Staatsangehöriger deutscher Volkszugehörigkeit war, der in seinem Heimatland, von ihm aus gesehen also nicht im Ausland, interniert worden ist. Wie aber aus der Erwähnung des Auslandes zugleich mit den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden Gebieten hervorgeht, sollten damit nur Internierungen ausgeschlossen werden, die in Deutschland oder in den unter deutscher Verwaltung stehenden Gebieten durchgeführt worden sind.

Demnach ist das Festhalten eines deutschen Volkszugehörigen auch dann als Internierung im "Ausland" im Sinne des BVG anzusehen, wenn er in seinem Heimatland, außerhalb Deutschlands und der unter deutscher Verwaltung stehenden Gebiete, festgehalten worden ist. Im vorliegenden Fall geht der Streit auch nicht um den Begriff "Ausland" im § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG, sondern darum, ob das Festhalten des Herter als "Internierung" im Sinne dieser Vorschriften anzusehen ist.

Das BVG hat den Begriff der Internierung nicht definiert. Da dieser Begriff vornehmlich dem Völkerrecht angehört, ist zunächst von dem Begriff in diesem Sinne auszugehen. Er setzt - vom internierenden Staat aus betrachtet - stets fremde Staatsangehörigkeit voraus (IV. Genfer Abkommen vom 12.8.1949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten Teil I Art. 4 Abs. 1, BGBl. 54, Teil II, S. 917). So betrachtet wäre das Festhalten des Reinhold H keine Internierung gewesen. Da das BVG aber ausdrücklich neben den deutschen Staatsangehörigen die deutschen Volkszugehörigen in den Kreis der versorgungsberechtigten Internierten einbezieht, ist zu schließen, daß sich der Begriff der Internierung im Sinne des BVG in dieser Beziehung nicht mit dem des Völkerrechts deckt. Bei einer Gleichheit des Inhalts der Begriffe in beiden Rechtsgebieten wären alle Volksdeutschen, die in dem Staat interniert wurden, dessen Staatsangehörigkeit sie besaßen, von einer Versorgung nach dem BVG ausgeschlossen. Es wäre aber unverständlich, wenn der Gesetzgeber nur den kleinen Teil der deutschen Volkszugehörigen versorgen wollte, die von einer ihnen fremden Staatsgewalt wegen ihrer Volkszugehörigkeit festgehalten wurden (soweit solche Fälle überhaupt denkbar sind), dagegen die große Zahl der Volksdeutschen, die von ihrer eigenen Staatsgewalt aus dem gleichen Grunde festgehalten wurden, ohne Versorgung lassen wollte (Schönleiter, Komm. zum BVG, § 1, Anm. 12 und 14; Roeckner-Bluschke, Komm. zum BVG, § 1, Anm. 14 S. K 47). Es muß daher angenommen werden, daß von § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG alle Personen erfaßt werden sollen, die wegen ihres Bekenntnisses zum Deutschtum festgehalten worden sind und dadurch Schädigungen erlitten haben. Insoweit bestehen daher keine Bedenken, wenn das LSG. in dem Festhalten des Reinhold H eine Internierung im Sinn dieser Vorschrift gesehen hat, obwohl F die Staatsangehörigkeit des Staates besaß, der ihn internierte.

Zu dem Begriff der Internierung gehört ferner, daß das Festhalten im Zusammenhang mit einem Kriege oder kriegerischen Ereignissen erfolgt ist. Dieser Zusammenhang ist nicht nur nach dem völkerrechtlichen Begriff der Internierung erforderlich (so Art. 4 Abs. 1 des Genfer Rotkreuzabkommens von 1949 a. a. O., wo im Zusammenhang mit der Internierung von "bewaffnetem Konflikt" die Rede ist), sondern auch nach dem Versorgungsrecht selbst. Die Versorgung internierter Zivilpersonen wurde erstmalig im Kriegspersonenschädengesetz geregelt. Nach § 2 Abs. 2 dieses Gesetzes vom 15. Juli 1922 i. d. Fassung vom 22. Juni 1937 (BGBl. I S. 650) erhielten Reichsangehörige Versorgung für Schädigungen, die im letzten Krieg durch Festhaltung entstanden waren. In den Ausführungsbestimmungen hierzu ist erwähnt, daß unter diese Vorschrift die im "feindlichen" Ausland angeordneten Internierungen fallen (vgl. auch Verdrängungsschädengesetz vom 28.7.1921, § 2, RGBl. 1921, S. 1021). Da das BVG den gleichen Tatbestand in § 1 Abs. 2 Buchstabe c regelt, so ist schon aus der geschichtlichen Entwicklung dieser Vorschrift zu schließen, daß die Internierung mit einem Krieg oder kriegerischen Ereignissen zusammenhängen muß. Dieser notwendige Zusammenhang ergibt sich aber auch allgemein aus dem Zweck der Kriegsopferversorgung (KOV). Danach sollten zwei Gruppen von Fällen entschädigt werden, erstens Soldaten und ihnen gleichgestellte Personen ohne Rücksicht darauf, ob sie im Krieg oder im Frieden beschädigt wurden, zweitens Zivilpersonen, wenn ihre Schädigung im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege steht. Auch das LSG. hat nicht verkannt, daß ein solcher Zusammenhang bei einer Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG bestehen muß. Seine Auffassung, es habe ein Zusammenhang zwischen der Festnahme des Reinhold Herter am 13. Juni 1938 und dem zweiten Weltkriege zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestanden, könnte Bedenken unterliegen. Nach Auffassung des Senats hängt eine Internierung nicht nur dann mit einem Kriege zusammen, wenn die Festnahme nach der Kriegserklärung oder nach Beginn der kriegerischen Ereignisse stattgefunden hat, sondern schon dann, wenn die Festnahme während und wegen einer drohenden Kriegsgefahr stattgefunden hat. Es kann zweifelhaft sein, ob im vorliegenden Fall bei der Festnahme des Reinhold F nicht bereits eine drohende Kriegsgefahr bestand, da die Tschechoslowakei am 20. Mai 1938 wegen deutscher Kriegsvorbereitungen mobilisiert hatte und Rußland auf Grund eines Beistandspaktes vom 16. Mai 1935 zur Teilnahme an einem Krieg, in den die Tschechoslowakei als Angegriffene verwickelt wurde, verpflichtet war (Ploetz, Auszug aus der Geschichte, 25. Aufl., 2. Bd. S. 996, 999). Diese Frage kann jedoch im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Das LSG hat auf jeden Fall das weitere Festhalten des Reinhold H vom Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Rußland im Juni 1941 an als eine Internierung im Sinne des BVG angesehen, weil das Festhalten zu mindesten von diesem Zeitpunkt an mit diesem Kriege in Zusammenhang stand.

Der Einwand des Beklagten, daß es sich bei dem Festhalten des Reinhold H um eine "innerpolitische Maßnahme" der Sowjetunion gegenüber ihren eigenen Staatsangehörigen gehandelt habe, die deshalb nicht als Internierung im Sinne des BVG angesehen werden könne, geht fehl. Jede Maßnahme eines Staates innerhalb der Grenzen seines Hoheitsgebietes, unabhängig davon, ob sie sich gegen seine eigenen Staatsbürger oder fremde Staatsangehörige richtet, ist im weitesten Sinne stets eine "innerpolitische Maßnahme" im Gegensatz zu einer außerpolitischen, wie etwa der Kriegserklärung an eine fremde Macht. Die innerpolitischen Maßnahmen unterscheiden sich lediglich in ihren Ursachen und in ihrem Zweck (Maßnahmen zum Arbeitseinsatz, zum Schutz gegen störende Umtriebe und staatsfeindliche Handlungen usw.). Eine Internierung im Sinne des BVG ist daher nur eine innerpolitische Maßnahme besonderer Art, deren Ursache ein Krieg oder eine drohende Kriegsgefahr ist und die den Zweck hat, die Internierten im eigenen Staatsgebiet von staatsfeindlichen Handlungen abzuhalten oder sie zu einem neutralen Verhalten zu zwingen. Es besteht mithin zwischen einer innerpolitischen Maßnahme und einer Internierung kein Gegensatz, der es einschlösse, daß eine innerpolitische Maßnahme nicht auch eine Internierung sein kann.

Der Senat hat auch keine Bedenken, der Auffassung des LSG. zu folgen, daß ein Festhalten, das zunächst keine Internierung war, eine Internierung werden kann, selbst wenn daher das Festhalten des Reinhold H im Zeitpunkt der Festnahme noch keine Internierung war, weil sie nicht mit einem Kriege oder kriegerischen Ereignissen zusammenhing, so konnte sich mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges das Festhalten in eine Internierung umwandeln, wenn nunmehr der Krieg, sei es allein oder vorwiegend, Ursache des weiteren Festhaltens war. Da somit die Änderung des Grundes des weiteren Festhaltens die Änderung der rechtlichen Beurteilung des Festhaltens bedingt, ist regelmäßig zu fordern, daß die Änderung des Grundes aus irgendwelchen äußeren Umständen hervorgeht, welche diese Annahme rechtfertigen. Im vorliegenden Fall hat das LSG. festgestellt, daß die Lebensverhältnisse der in der Sowjetunion in Lagern festgehaltenen Volksdeutschen und damit auch die des Reinhold H, die bis zum Ausbruch des Krieges noch einigermaßen erträglich gewesen waren, sich von diesem Zeitpunkt an so verschlechtert hatten, daß nunmehr die Gesundheit und das Leben der Festgehaltenen in äußerste Gefahr gerieten. Aus diesen Umständen konnte das LSG., ohne daß ein Rechtsirrtum erkennbar wäre, schließen, daß von diesem Zeitpunkt ab der Krieg der Grund für das weitere Festhalten und die Art des Festhaltens war, und damit das Festhalten des Reinhold H zu einer Internierung im Sinne des BVG geworden war. Das LSG. hat somit zutreffend entschieden, daß Reinhold H an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG wahrscheinlich verstorben ist (§ 52 BVG) und daher den Klägern Hinterbliebenenrente zusteht. Die Revision des Beklagten war mithin als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2136311

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