Leitsatz (amtlich)

Erwerbsunfähig iS des BVG § 31 Abs 3 S 2 ist ein Beschädigter nicht schon deshalb, weil er wegen der wehrdienstbedingten Gesundheitsstörungen arbeitsunfähig ist. Das Vorliegen und gegebenenfalls der Vomhundertsatz einer Minderung der Erwerbsfähigkeit sind unabhängig von dem Bestehen der Arbeitsunfähigkeit zu beurteilen und festzustellen (Abweichung von BSG 1972-02-10 8 RV 557/71 = SozR Nr 54 zu § 30 BVG).

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1971-12-16, § 31 Abs. 1 Fassung: 1974-08-23, Abs. 3 S. 2 Fassung: 1960-06-27; RVO § 182 Abs. 1 Nr. 2; SVG § 85 Abs. 1

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 22. Januar 1975 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger, der Soldat auf Zeit war, wurde während seines Wehrdienstes am 23. März 1972 von der herunterfallenden Zuggabel eines Anhängers, den er von einem Kraftfahrzeug abkuppeln wollte, am rechten Bein getroffen. Er war bis zum 31. März 1973 - und damit für die längste Zeit seines Wehrdienstes, der Ende Mai 1973 endete - außerstande, Dienst zu tun. Stationär wurde er bis zum 6. Mai 1972 behandelt. Wegen des Zustandes nach genagelter Oberschenkelfraktur vermochte sich der Kläger fürs erste nur an Armstützen fortzubewegen. Die ambulante Behandlung wurde bis Ende März 1973 fortgesetzt, vor allem deshalb, weil die Knochenheilung zunächst gestört blieb. Als Wehrdienstbeschädigung wurde schließlich anerkannt: "Verzögerte Knochenheilung eines Oberschenkelbruches rechts mit noch liegendem Marknagel, abklingende Teillähmung des Wadennervs, Schädigung des Schienbeinnervs rechts, trophische Störungen im Gebiet des rechten Unterschenkels und Fußes, Bewegungsbehinderung des Hüftgelenks durch den Oberschenkelmarknagel."

Die Beklagte gewährte für die Wehrdienstbeschädigung einen Ausgleich (§ 85 Abs. 1 des Soldatenversorgungsgesetzes - SVG -) zunächst wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. (Bescheid vom 20. Februar 1973; Beschwerdebescheid vom 1. August 1973) und später, in bezug auf die Monate März 1972 bis Mai 1973, wegen einer Erwerbsbeschränkung von 60 v. H. (Bescheid vom 15. Juli 1974).

Der Kläger verlangt jedoch für die Zeit vom 1. März 1972 bis 31. März 1973 einen Ausgleich entsprechend einer MdE von 100 v. H. Das Sozialgericht - SG - (Urteil des SG Hildesheim vom 22. Januar 1975) hat unter Abänderung bzw. Aufhebung der angefochtenen Bescheide der Klage stattgegeben. Es hat den erhobenen Anspruch für gerechtfertigt gehalten, weil der Kläger in der fraglichen Zeit wegen der Schädigungsfolgen krank, dienstunfähig und arbeitsunfähig gewesen sei. - Das SG hat die Sprungrevision zugelassen - § 161 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (Beschluß vom 28. Februar 1975).

Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie meint, das SG habe den Begriff der MdE verkannt. Die dafür in den Verwaltungsvorschriften (Richtlinie Nr. 3 zu § 85 SVG; Verwaltungsvorschriften Nrn. 1 und 4 zu § 30 BVG) gegebene Definition gehe von einer Fiktion aus. Es werde dort auf die Beeinträchtigung des Geschädigten im allgemeinen Erwerbsleben abgehoben. Behinderten stehe aber nur noch eine auf ihr Leistungsvermögen speziell abgestimmte Arbeitsmöglichkeit und gerade nicht der allgemeine Arbeitsmarkt zur Verfügung. Tatsächlich werde auch mit einem bestimmten Grad der MdE bloß das Ausmaß der Versehrtheit, des anatomischen und funktionellen Schadens bezeichnet, jedoch ohne Rücksicht darauf, ob und in welchem Umfang der Betroffene konkret in seinem oder in anderen ihm zugänglichen und zumutbaren Berufen erwerbsbehindert sei. Schwankungen im Krankheitsverlauf werde mit der Festsetzung einer durchschnittlich bemessenen MdE Rechnung getragen. Eine Krankenhausbehandlung als solche rechtfertige für sich allein nicht schon die Annahme der Erwerbsunfähigkeit; denn sonst würde zB der am Fuß geringfügig Verletzte mit einem beidseitig Amputierten oder einem Blinden gleichgesetzt. Andererseits sei zu bedenken, daß der Grad der MdE mit dem tatsächlichen Arbeitsverhalten des einzelnen nicht gleichzuerachten sei. Es könne jemand erwerbsunfähig, d. h. nach der Bewertungsskala in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v. H. beeinträchtigt sein (§ 31 Abs. 3 Satz 2 BVG), obgleich er noch imstande sei, seinem Beruf nachzugehen. Das effektive Unvermögen zur Berufsausübung sei hingegen Begriffsmerkmal der Arbeitsunfähigkeit. Diesen Unterschied habe das SG außer acht gelassen, wie es auch übersehen habe, daß für den Tatbestand der Arbeitsunfähigkeit und Dienstunfähigkeit das Ausmaß der schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen gleichgültig sei. Daß die MdE-Bemessung von einem Dauerzustand ausgehe, werde durch § 62 Abs. 2 BVG verdeutlicht. Dort sei vorgeschrieben, daß die MdE nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe ihrer Feststellung oder im Falle einer Heilbehandlung frühestens ein Jahr danach niedriger festgesetzt werden dürfe.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist in diesem Rechtszuge nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat Erfolg.

In der streitigen Angelegenheit, welche den Anspruch auf Ausgleich für eine Wehrdienstbeschädigung (§ 85 Abs. 1 SVG) betrifft, ist der Sozialrechtsweg gegeben (§ 88 Abs. 5 Satz 1 SVG).

In der Sache selbst ist der Deutung, welche die Revision dem Begriff der MdE (§ 30 Abs. 1 BVG) gibt, nicht vorbehaltlos beizupflichten. Diesem Begriff geht nicht deshalb jede Gemeinsamkeit mit dem Tatbestand der Arbeitsunfähigkeit im Sinne des Rechts der Krankenversicherung ab, weil ihm den konkrete Bezug auf die Wirklichkeit des Arbeits- und Erwerbslebens fehlt.

Einzuschalten ist, daß im gegenwärtigen Streitfall der Gedanke an ein Zusammentreffen von Arbeitsunfähigkeit und einer MdE ohnehin nur theoretische Bedeutung hat. Denn der Kläger stand vor dem schädigenden Ereignis nicht im Arbeits- und Erwerbsleben. Er war Soldat und davor Schüler, konnte also aus Krankheitsgründen nicht an einer bisher ausgeübten Arbeitstätigkeit gegen Entgelt gehindert worden sein. Somit kann sich hiermit nur die Frage stellen, ob unter den gegebenen Umständen und in welcher Weise ein Sachverhalt, der an sich den Tatbestand der Arbeitsunfähigkeit erfüllen würde, auch dem Begriff der MdE untergeordnet werden könnte. Die Revision sieht diese Überlegung veranlaßt, weil der Kläger in der fraglichen Zeit wegen seiner körperlichen Behinderung außerstande war, seine Dienstpflicht als Soldat zu erfüllen. Damit - so ist wohl die Revision zu verstehen - sei der Kläger zeitweilig dienstunfähig und demgemäß in einer der Arbeitsunfähigkeit vergleichbaren Lage gewesen. Ob die Merkmale der Dienstunfähigkeit (§§ 44 Abs. 4, 55 Abs. 2 Soldatengesetz, Fassung vom 19. August 1975 - BGBl I 2273 -; § 29 Abs. 2, 3 Wehrpflichtgesetz, Fassung vom 28. Dezember 1972 - BGBl I 2277 -) verwirklicht waren, kann dahinstehen. Der Revision ist jedenfalls darin zuzustimmen, daß mit der Bezeichnung der Dienstunfähigkeit wie mit derjenigen der Arbeitsunfähigkeit die Vorstellung verbunden ist, daß jemand wegen körperlicher oder geistiger Schwäche den Anforderungen bestimmter, bisher von ihm wahrgenommener oder damit im wesentlichen verwandter Pflichten nicht genügen kann (zur Dienstunfähigkeit BVerwG, NJW 1956, 156; RGZ 104, 23, 25; Scherer/Krekeler, Wehrpflichtgesetz, Kommentar 3. Aufl. 1966, 358: Wiedergabe eines ministeriellen Erlasses vom 21. Juli 1962). Freilich sind die Pflichtenbereiche hier und dort unterschiedlich. Gleichwohl mag eine gewisse Parallelität im Inhalt der Begriffe Dienstunfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit es gerechtfertigt erscheinen lassen, in dieser Sache die Arbeitsunfähigkeit in ihrem Verhältnis zur MdE zu erörtern.

Bei der Einschätzung der MdE in Hundertsätzen (§ 30 Abs. 1 Satz 6 BVG iVm der dazu erlassenen Verwaltungsvorschrift Nr. 4; BSG 29, 41) geht es nicht nur, wie die Revision meint, um das Maß einer abstrakten Versehrtheit. Es wird nicht bloß eine isolierte Bewertung von körperlichen Funktionsausfällen und Funktionsbeschränkungen vorgenommen (vgl. BSG, SGb 1969, 428, 431, zum Totalverlust eines Sinnesorgans, der als solcher im Durchschnittsberuf sich nicht hinderlich auswirkt). Vielmehr ist für die Beurteilung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG "maßgebend, um wieviel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die ... anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind". Für das Maß der im einzelnen zu bestimmenden MdE sind drei Komponenten kennzeichnend. Neben (a) der Leistungseinbuße infolge einer Schädigung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit sind (b) die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben und (c) das Erfordernis einer Abgeltung desjenigen Mehraufwandes bedeutsam, der dem Beschädigten als Folge der Schädigung oder dem Hinterbliebenen durch den Verlust des Ernährers entsteht (BSG 33, 151, 153; ferner BSG 30, 21, 25 f.). Freilich ist der Revision einzuräumen, daß in diesem Zusammenhang für den entstandenen Schaden kein gegenständlich belegter Nachweis verlangt wird. Der Verlust an Fähigkeit, sich im Wirtschaftsleben einen Erwerb zu verschaffen, wird regelmäßig in summarisch pauschalierender Betrachtung bewertend erkannt (BSG 21, 63, 67; 33, 151, 154; Urteil vom 31. Juli 1975 - 9 RV 354/74 -). Desgleichen ist unerheblich, ob der Beschädigte gegenwärtig Arbeitseinkünfte hat oder ob ihm wegen seines Unvermögens, zu arbeiten, ein Ausgleich aus anderen Quellen, zB Krankengeld oder Übergangsgeld, zufließt (BSG 30, 21, 25; SozR Nr. 54 zu § 30 BVG). Gleichwohl ist bei Würdigung der MdE der Blick darauf gerichtet, ob und in welcher Weise durch die Schädigungsfolgen die Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeit des Betroffenen eingeengt ist (BSG 9, 291, 294 - Zeugungsunfähigkeit -; SGb 1969, 428, 431 - Verlust des Geruchsinns -).

So wie die MdE nach § 30 Abs. 1 BVG von der "Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben" her zu bestimmen ist, so kann dieser Tatbestand auch zugleich und neben dem der Arbeitsunfähigkeit im Sinne des Rechts der Krankenversicherung verwirklicht sein. Arbeitsunfähigkeit bedeutet, daß jemand "seiner" bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit nicht oder nur auf die Gefahr hin nachgehen kann, seinen Zustand zu verschlimmern. Es wird darauf abgehoben, welche Tätigkeit er zuletzt verrichtet hat und ob er sie oder eine ähnlich geartete nach seinem Gesundheitszustand noch auszuüben vermag (BSG 26, 288, 290, 292). Es kommt nicht darauf an, welcher Schweregrad der jeweiligen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung beizumessen ist und ob dem Betreffenden eine Erwerbstätigkeit - wenn auch unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines Berufs - generell zugemutet werden kann. Vielmehr ist die Arbeitsunfähigkeit an der zuletzt ausgeübten Erwerbsarbeit zu messen (BSG 26. 292).

Auf diesen engeren Wirkungskreis ebenso wie auf das Aufgabengebiet, das einem Soldaten obliegt, können Gesundheitsstörungen sich in der gleichen Zeit auswirken wie auf den weiteren Bereich menschlicher Arbeit überhaupt. Letzteres ist für die Feststellung der MdE erheblich. Mit diesem Tatbestand wird der Einfluß körperlicher oder geistiger Behinderungen auf das gesamte Arbeits- und Erwerbsvermögen des Menschen erfaßt. Hiernach sind die einander gegenübergestellten Begriffe der Dienstunfähigkeit, der Arbeitsunfähigkeit und der MdE zwar nicht deckungsgleich; mit ihnen werden unterschiedliche Belange und Bedürfnisse berücksichtigt; aber diese Begriffe dienen auch nicht einander widerstreitenden, sich gegenseitig ausschließenden Interessen. Daran ändert auch nichts, daß die Unfähigkeit zum Tätigwerden sowohl auf dem engeren als auch auf dem übergreifenden Gebiet allein von den Folgen der Wehrdienstbeschädigung herrühren kann (vgl. BSG SozR 2200 § 580 RVO Nr. 1).

Daraus folgt freilich nicht, daß mit der Arbeitsunfähigkeit immer auch eine MdE im versorgungsrechtlichen Sinne gegeben sei. Dies trifft schon deshalb nicht stets zu, weil das dem einzelnen zumutbare generelle Arbeitsfeld nicht gleichermaßen wie der engere berufliche Sektor von einem Krankheitsgeschehen berührt sein muß. Hinzu kommt, daß vorübergehende, eine Zeit von sechs Monaten nicht überschreitende Gesundheitsstörungen als MdE außer Betracht zu bleiben haben (§ 30 Abs. 1 Sätze 3 und 4 BVG; entgegen BSG 27, 126; 33, 112; SozR Nr. 54 zu § 30 BVG).

Umstände, die sich aus einem akuten, kurzfristigen körperlichen oder geistigen Befinden ergeben, wie das zeitweilige Unvermögen, einen Arbeitsplatz auszufüllen, oder der Aufenthalt in einem Krankenhaus, insbesondere Umstände, die außerhalb der Person des Betroffenen liegen, sind regelmäßig dem Begriff der Arbeitsunfähigkeit, nicht aber dem der MdE unterzuordnen. Mit der MdE wird die anerkannte oder anzuerkennende Schädigungsfolge, der Leidenszustand selbst, bemessen (dazu BSG, Urteil vom 10. Dezember 1975 - 9 RV 112/75 m. N.). Da auf "Zustände von gewisser Dauer" (BSG 23, 192, 194) abzustellen ist, schlägt sich nicht jeder Wechsel oder jedes Schwanken eines dynamischen Krankheitsgeschehens in einem Wert der MdE unmittelbar nieder. Es ist in der Regel "unter Berücksichtigung markanter Ereignisse im Krankheitsverlauf" ein durchschnittlicher Grad der Erwerbsbehinderung zu ermitteln (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Nr. 14 (4); BAM, BVBl 1961, 163 Nr. 94). Dies bedeutet freilich nicht, daß eine bleibende Erwerbsbehinderung von Anfang an in durchgängig einheitlicher Höhe ein für allemal festgelegt werden müßte. Der Grad der körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung kann für Übergangsperioden, vor allem bei rückwirkender Betrachtung im Hinblick auf eine allmähliche Besserung, abgestuft bestimmt werden. Aber auch für solche begrenzten Zeitabschnitte ist ein Durchschnittssatz zu finden, in dem kurzfristig sich ändernde Geschehensabläufe angemessen mitzuberücksichtigen sind.

In Anbetracht dieser Leitlinien ist es nicht ohne weiteres gerechtfertigt, wenn der Kläger für die Zeit der stationären und anschließenden ambulanten Behandlung erwerbsunfähig (§ 31 Abs. 3 Satz 2 BVG) gewesen sein will und die Bewertung seiner MdE mit 100 v. H. verlangt. Sein Begehren findet zwar eine Stütze in dem in BSG Nr. 54 zu § 30 BVG veröffentlichten Urteil des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG); dort ist ausgesprochen worden: "Solange der Beschädigte ... allein wegen der Schädigungsfolgen arbeitsunfähig ist, ist er auch erwerbsunfähig i. S. des § 31 Abs. 1 BVG, ohne daß zu prüfen wäre, welche MdE sich aufgrund der Funktionsausfälle ergäbe, wenn keine Arbeitsunfähigkeit vorläge." Diesem Satz vermag der erkennende Senat von der Definition der MdE her, die oben erläutert worden ist, nicht zuzustimmen. Bei der Schlußfolgerung, die in BSG SozR Nr. 54 zu § 30 BVG gezogen worden ist, werden namentlich die Unterschiede übergangen, die zwischen MdE und Arbeitsunfähigkeit in der Umschreibung des maßgeblichen Tätigkeitsfeldes zu sehen sind und die darin liegen, daß einmal eine akute Erkrankung ohne Gewichtung der bleibenden Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Menschen, das andere Mal ein andauernder Leidenszustand in seinem Mittelwert wesentlich sind.

Von der zitierten Entscheidung vermag der erkennende Senat abzuweichen, ohne den Großen Senat (GS) anrufen zu müssen (§ 42 SGG), weil der 8. Senat nicht mehr mit Aufgaben der Kriegsopferversorgung, um die es hier geht, befaßt ist (vgl. im übrigen die jüngere Entscheidung des 8. Senats zur Abgrenzung der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Rechts der Rentenversicherung von der Arbeitsunfähigkeit im oben erörterten Sinne, in: BSG SozR 2200 § 580 RVO Nr. 1).

Geht man im Fall des Klägers von der Auslegung aus, die hier dem Begriff der MdE (§ 30 Abs. 1 BVG) gegeben wird, so läßt sich das angefochtene Urteil nicht aufrechterhalten. Von einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an den Tatsachenrichter ist jedoch abzusehen, weil das festgestellte Sachverhältnis eine abschließende Entscheidung in diesem Rechtszuge erlaubt. Dabei braucht hier die Frage, inwieweit grundsätzlich ein revisionsrichterliches "Durcherkennen" statthaft und geboten sein mag (vgl. BSG 18, 186, 189 f.; BGHZ 53, 128, 130 ff.; BGH, Urteil vom 25. September 1975, NJW 1976, 43; BVerwG 29, 127, 130; BFH, Beschluß vom 17. Juli 1967, BStBl. II 1968, 285, 287; Reuss DVBl 1958, 233, 236; s. aber auch BVerwG, Urteil vom 12. Oktober 1961, DÖV 1962, 508), nicht abschließend erörtert zu werden; denn in seiner - allerdings nur summarischen - Beweiswürdigung hat das SG die von der Verwaltungsbehörde vorgenommene MdE-Bewertung an sich gebilligt und seine der Klage stattgebende Entscheidung allein auf das Urteil des 8. Senats des BSG vom 10. Februar 1972 (SozR Nr. 54 zu § 30 BVG) gestützt.

Der Bescheid der Wehrbereichsverwaltung vom 15. Juli 1974, mit dem der Ausgleichsanspruch des Klägers geregelt wurde, ist auch nach Meinung des Senats rechtlich unbedenklich und sachangemessen. Die Zeit der Beeinträchtigung des Klägers durch den Oberschenkelbruch dauerte länger als ein halbes Jahr. Für die Gesamtzeit, welche die Wehrbereichsverwaltung in ihrer Entscheidung noch über die Dauer der Behandlung hinaus bis zur Entlassung des Klägers aus der Bundeswehr erstreckte, konnte die MdE in einem einheitlichen Durchschnittssatz festgestellt werden. Hierbei nahm die Verwaltung ausdrücklich auf die einschlägigen Tatsachen Bedacht, insbesondere auf die stationäre Behandlung mit Operationen, die Nagelung, das Anlegen einer Gipshülse, dann die verzögerte Knochenheilung, die neurologischen und trophischen Störungen im Gebiet des Unterschenkels und Fußes sowie die elektrophysikalische Behandlung. Es wurde gebührend Rücksicht darauf genommen, daß der Kläger in der ersten Zeit nach dem Unfall starke Schmerzen in der rechten Hüfte zu ertragen und eine Unsicherheit über den Gesundungsverlauf hinzunehmen hatte (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BVG). Bei Bestimmung des Grades, um den die Erwerbsfähigkeit herabgesetzt war, richtete sich die Verwaltung ausdrücklich nach dem Normwert für eine Unterschenkelamputation. Mit dieser Suche nach einer Vergleichsbasis hielt sie sich an den Sinn und die Aufgabe, die dem Katalog von Hundertsätzen für die Ermittlung der MdE zukommt. Diese Prozentsätze dienen dem Zweck einer Objektivierung und Standardisierung der Bewertungsfaktoren sowie der brauchbaren und einheitlichen Handhabung. Sie sind Wegweiser für eine systemgerechte Einstufung des Einzelfalls. Über den Satz für eine Unterschenkelamputation ging die Verwaltung noch - wie sie näher begründete - im Hinblick auf die Art der Verletzung und die Erschwernisse im Heilverlauf beträchtlich hinaus. Sie ließ sich von sachlich angemessenen Erwägungen leiten. Es blieben bei ihren Überlegungen keine wesentlichen, die Entscheidung des Falles bedingten Tatsachen außer acht. Denk- oder Erfahrungssätze wurden nicht verletzt. Die tatsächlichen Grundlagen der von der Verwaltung vorgenommenen Schätzung und ihre Auswertung hat sie nachprüfbar und einleuchtend dargelegt. Hiernach ist an der angefochtenen Verwaltungsentscheidung nichts auszusetzen.

Unter diesen Umständen brauchten die Grenzen, die der gerichtlichen Kontrolle in einem Falle wie diesem gesetzt sind, nicht genauer bestimmt zu werden (dazu: BSG, SGb 1969, 428, 430; ferner BVerwG 16, 285, 287: bei Beurteilung der Dienstunfähigkeit kein gerichtsfreier Spielraum). Auch dann, wenn die MdE (§ 30 Abs. 1 Satz 1 BVG) ein unbestimmter Rechtsbegriff ist und dem Gericht ohne einen, der Verwaltung vorbehaltenen Beurteilungsspielraum die letztverbindliche Entscheidung zukommt, ist das Ergebnis das gleiche. Der erkennende Senat macht sich die Entscheidung der Wehrbereichsverwaltung zu eigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646837

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