Verfahrensgang
SG Frankfurt am Main (Urteil vom 12.12.1986) |
Tenor
Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 12. Dezember 1986 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten Altersruhegeld.
Der 1920 geborene Kläger war bis 1975 italienischer Staatsangehöriger und erwarb dann unter Verlust der italienischen Staatsangehörigkeit die kanadische. Von 1962 bis 1966 arbeitete er in der Bundesrepublik Deutschland und entrichtete in dieser Zeit 48 Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Bereits vorher hatte er Versicherungszeiten in Italien und Frankreich zurückgelegt.
Im März 1985 beantragte der Kläger bei der Beklagten Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Die Beklagte lehnte diesen Antrag (Bescheid vom 3. Juni 1986) mit der Begründung ab, nach dem Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) seien die in den Mitgliedstaaten der EWG entrichteten Beiträge nur dann zusammen zu berücksichtigen, wenn der Versicherte zur Zeit des Rentenantrages Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der EWG sei.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 12. Dezember 1986 die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1985 Altersruhegeld zu gewähren. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe bereits entschieden, daß es für die Anwendung der EWG-Verordnung (EWG-VO) 1408/71 nur darauf ankomme, ob der Versicherte in dem Zeitpunkt Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der EWG gewesen sei, in dem er die Beiträge entrichtet habe.
Die Beklagte hat die vom SG zugelassene Sprungrevision mit schriftlich erklärtem Einverständnis des Klägers eingelegt und trägt vor: Die im Urteil des EuGH vom 12. Oktober 1978 in der Rechtssache 10/78 vertretene Auffassung, auf die sich das angefochtene Urteil stütze, werde von den deutschen Rentenversicherungsträgern nicht geteilt. Das Urteil des EuGH betreffe auch einen anderen Sachverhalt, nämlich den, daß der Wechsel der Staatsangehörigkeit durch staatlich-dirigistische Maßnahmen verursacht sei, während er hier auf dem freien Willen des Versicherten beruhe.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die durch Zulassung statthafte und gemäß § 161 Sozialgerichtsgesetz (SGG) formgerecht eingelegte Sprungrevision der Beklagten ist nicht begründet. Das Erstgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Gewährung des Altersruhegeldes wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu Recht bejaht.
Die Beklagte geht in ihrer Revisionsbegründung selbst davon aus, daß die Voraussetzungen für den geltend gemachten Rentenanspruch erfüllt sind, wenn die vom Kläger in Italien, Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten in den Anwendungsbereich des EWG-Rechts fallen und deshalb gemäß Art 44, 45 Abs 1 iVm Art 94 Abs 2 EWG-VO 1408/71 zusammenzurechnen sind.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist dies im angefochtenen Urteil unter Berufung auf die Entscheidung des EuGH vom 12. Oktober 1978 (SozR 6050 Art 2 Nr 4) zutreffend angenommen worden. Danach hindert – wie der 5a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits in seinem Urteil vom 1. April 1981 (Az.: 5a/5 RKn 3/79) ausgeführt hat – der spätere Wechsel der Staatsbürgerschaft eines Versicherten nicht die Berücksichtigung der in verschiedenen EWG-Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten nach den genannten Vorschriften der EWG-VO 1408/71, wenn der Versicherte – wie hier der Kläger – während der Dauer dieser Versicherungszeiten noch Staatsangehöriger eines EWG-Mitgliedstaats war und damit die in Art 2 Abs 1 EWG-VO 1408/71 aufgestellten persönlichen Geltungsvoraussetzungen erfüllt hat. Der EuGH hat im Urteil vom 12. Oktober 1978 aaO Art 2 Abs 1 und Art 94 Abs 2 EWG-VO 1408/71 dahin ausgelegt, „daß sie für die Feststellung des Anspruchs auf Leistung nach dieser VO die Berücksichtigung aller Versicherungs-, Beschäftigungs- und Wohnzeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor Inkrafttreten dieser VO zurückgelegt worden sind, unter der Voraussetzung gewährleisten, daß der Wanderarbeitnehmer zur Zeit ihrer Zurücklegung Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats gewesen ist.” Da dem EuGH im Verhältnis zum BSG gemäß Art 177 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) vom 25. März 1957 die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrags und über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft zukommt, sieht sich der erkennende Senat schon deswegen außerstande, eine iS der Ausführungen der Revision abweichende Entscheidung zu treffen.
Daran ändert auch nichts der von der Revision vorgetragene Umstand, daß der Kläger im Jahre 1975 freiwillig die italienische Staatsangehörigkeit aufgab und kanadischer Staatsbürger wurde, während bei dem dem Urteil des EuGH zugrundeliegenden Sachverhalt der Versicherte die französische Staatsangehörigkeit infolge des Ausscheidens Algeriens aus der Französischen Union im Jahre 1962 zwangsläufig verloren hatte. Dieser Unterschied hätte für den erkennenden Senat nur dann Anlaß für eine erneute Anrufung des EuGH sein können, wenn der Grund für den späteren Wechsel der Staatsangehörigkeit nach der bereits vorliegenden Entscheidung vom 12. Oktober 1978 aaO für die Auslegung der Art 2 Abs 1 und 94 Abs 2 EWG-VO 1408/71 rechtserheblich wäre. Das ist indes nicht der Fall. Vielmehr hat der EuGH aufgrund des Hauptzwecks des Art 51 EWG-Vertrag – Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer – sowie unter dem Aspekt der Rechtssicherheit für die genannten Vorschriften die Staatsangehörigkeit zur Zeit der Zurücklegung der Versicherungszeiten als maßgebend angesehen. Auf einen späteren Staatsangehörigkeitswechsel kommt es dabei also unabhängig von der dafür wesentlichen Ursache gerade nicht an.
Der Sprungrevision der Beklagten muß nach alledem der Erfolg versagt bleiben; sie ist zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen