Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung. Zweijahresfrist. Zehnjahresfrist. Gutgläubigkeit. Bösgläubigkeit. fehlerhafter Rücknahmebescheid nach § 45 SGB 10. teilweise Aufrechterhaltung als Feststellungsbescheid
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 S 1 SGB 10 setzt nur voraus, daß der Begünstigte zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts mit Dauerwirkung gutgläubig war; erlangt er erst danach Kenntnis oder grob fahrlässig keine Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, so hindert das weder den Ablauf der Zweijahresfrist noch wird dadurch eine Zehnjahresfrist iS des § 45 Abs 3 S 3 SGB 10 in Lauf gesetzt (Bestätigung von BSG vom 22.3.1995 – 10 RKg 10/89 = SozR 3-1300 § 45 Nr 24).
2. Zur teilweisen Aufrechterhaltung eines fehlerhaften Rücknahmebescheides nach § 45 SGB 10 als Feststellungsbescheid.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB X § 45 Abs. 3 Sätze 1, 3, Abs. 2 S. 3 Nr. 3, § 48 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Oktober 1996 und des Sozialgerichts Detmold vom 3. Mai 1996 mit der Maßgabe abgeändert, daß die Klage insoweit abgewiesen wird, als der Beklagte mit seinem Rücknahmebescheid vom 19. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1994 die Rechtswidrigkeit seines Bescheides vom 2. Oktober 1991 und der auf seiner Grundlage ergangenen Folgebescheide festgestellt hat.
Im übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft die Rechtmäßigkeit der teilweisen Rücknahme von Bescheiden, mit welchen der Beklagte der Klägerin Witwenausgleichsrente gewährt hat.
Die 1919 geborene Klägerin hatte nach dem Tode ihres im Februar 1965 verstorbenen ersten Ehemannes, des Beschädigten E. … H. … (H) vom Beklagten Versorgungswitwenrente bezogen. 1968 heiratete sie erneut. Als im Januar 1979 auch ihr zweiter Ehemann H. … K. … (K) verstorben war, gewährte ihr der Beklagte durch das Versorgungsamt Gießen (mit Bescheiden vom 22. Oktober und 13. November 1979 sowie vom 11. Juli 1980) ab 1. Februar 1979 wiederaufgelebte Witwenrente nach § 44 Abs 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Außerdem erhielt die Klägerin von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ab 1. Februar 1979 wiederaufgelebte Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes (1. AnV-Witwenrente – Bescheid der BfA vom 22. Mai 1980), auf welche die (geringere) Witwenrente aus der Versicherung ihres zweiten Ehemannes (2. AnV-Witwenrente) nach rentenversicherungsrechtlichen Vorschriften angerechnet wurde. Da das nach § 41 Abs 3 BVG anzurechnende Einkommen der Klägerin den Betrag der Ausgleichsrente überstieg, wurden ihr vom Beklagten keine einkommensabhängigen Leistungen, sondern nur die Witwengrundrente (§ 40 BVG) gezahlt. Eine Anrechnung der 2. AnV-Witwenrente gemäß § 44 Abs 5 BVG unterblieb seit März 1979, weil diese Leistung in gleicher Höhe bereits zum Ruhen der 1. AnV-Witwenrente geführt hatte.
Im Jahr 1984 hob die BfA ihren Bescheid vom 22. Mai 1980 mit Wirkung zum 1. Juli 1984 auf, weil auf die 1. AnV-Witwenrente neben der 2. AnV-Witwenrente weitere aus der zweiten Ehe erlangte Bezüge (solche nach dem Lastenausgleichsgesetz ≪LAG≫) anzurechnen waren. Diese Bezüge und die 2. AnV-Witwenrente zusammen überstiegen den Betrag der 1. AnV-Witwenrente, so daß sich für die letztgenannte Leistung kein Zahlbetrag mehr errechnete. Aufgrund dieser Änderung der Verhältnisse beantragte die Klägerin im Oktober 1989 bei dem inzwischen zuständig gewordenen Versorgungsamt Bielefeld „die Überprüfung der vom Einkommen abhängigen Leistungen”.
Mit Bescheid vom 2. Oktober 1991 (abgesandt an die Klägerin am 10. Oktober 1991) berechnete der Beklagte die wiederaufgelebte Versorgungswitwenrente ab 1. Oktober 1989 neu. Dabei unterließ er es rechtsirrtümlich, bei der Ermittlung des nach § 41 Abs 3 BVG auf die Witwenausgleichsrente anzurechnenden Einkommens gemäß § 14 Abs 4 der Ausgleichsrentenverordnung (AusglV) die ruhende 1. AnV-Witwenrente (seinerzeit zunächst 782,70 DM monatlich) als Bruttoeinkommen zu berücksichtigen. Dadurch ergab sich ein zu niedriger Wert für das anzurechnende Einkommen und – folglich – eine zu hohe monatliche Witwenausgleichsrente (zunächst 501 DM) sowie eine zu hohe Gesamtwitwenrente (zunächst 1.052 DM). Von dieser setzte der Beklagte – gemäß § 44 Abs 5 Satz 1 BVG – den Unterschiedsbetrag (von zunächst 127 DM) zwischen der ruhenden 1. AnV-Witwenrente (seinerzeit 782,70 DM) und den aus der zweiten Ehe erlangten Bezügen (seinerzeit 909,70 DM) ab, so daß sich ein (wiederum zu hoher) Auszahlungsbetrag von zunächst 925 DM ergab. Außerdem verzinste der Beklagte mit Bescheid vom 18. Oktober 1991 die sich aus dem Bescheid vom 2. Oktober 1991 ab 1. Oktober 1989 ergebende Nachzahlung und erhöhte mit weiteren Folgebescheiden vom 12. Oktober 1992 und vom 6. Mai 1994 die Versorgungswitwenrente zum 1. Juli 1992 und für die Zeit vom 1. Juli 1993 bis 30. September 1993 auf zuletzt monatlich 1.122 DM.
Mit Schreiben vom 21. September 1993 kündigte der Beklagte der Klägerin die Rücknahme des Bescheides vom 2. Oktober 1991 sowie der darauf beruhenden Folgebescheide für die Zukunft an. Die Ausgleichsrente werde ab 1. Oktober 1993 nur noch etwa 61 DM betragen. Nach Anhörung der Klägerin nahm er, gestützt auf § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X), mit Bescheid vom 19. Mai 1994 den Bescheid vom 2. Oktober 1991 und die darauf fußenden Folgebescheide (vom 18. Oktober 1991, 12. Oktober 1992 und 6. Mai 1994) mit Wirkung vom 1. Oktober 1993 insoweit zurück, als er bei der Berechnung der Ausgleichsrente die (ruhende) 1. AnV-Witwenrente entgegen § 14 Abs 4 AusglV nicht als Einkommen berücksichtigt hatte. Die seit 1. Oktober 1993 zustehende Leistung ermittelte er – nunmehr unter Anwendung des § 14 Abs 4 AusglV – mit zunächst nur noch monatlich 574 DM. Dieser Betrag werde „in der bisherigen Weise laufend gezahlt”. Mit damit verbundenem weiteren Bescheid vom 19. Mai 1994 forderte er die in der Zeit vom 1. Oktober 1993 „bis 31. Juli 1994” zu Unrecht „erhaltenen” Bezüge der Klägerin in Höhe von 4.930 DM nach § 50 SGB X zurück. Die Widersprüche der Klägerin blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1994).
Auf die Klage hob das Sozialgericht Detmold (SG) die Bescheide des Beklagten vom 19. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides auf (Urteil vom 3. Mai 1996). Die Berufung des Beklagten blieb erfolglos. Die Zurückweisung des Rechtsmittels begründete das Landessozialgericht (LSG) sinngemäß damit, daß der Beklagte die für die Rücknahme des Bescheides vom 2. Oktober 1991 gegen ihn laufende zweijährige „Handlungsfrist” des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X nicht eingehalten habe. Der Senat halte an seiner in früheren Urteilen vertretenen Auffassung nicht fest, wonach es für den Ablauf der Zweijahresfrist schädlich sei, wenn der Begünstigte vor Fristablauf die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides erfahre. Insbesondere führe ein Anhörungsschreiben des rücknahmewilligen Leistungsträgers nicht dazu, daß dem Begünstigten der „Vertrauensschutz” entzogen werde. Es komme nur darauf an, daß der Begünstigte zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides gutgläubig gewesen sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 45 Abs 1, 2 und 3 SGB X und macht ua geltend: Der angefochtene Rücknahmebescheid vom 19. Mai 1994 sei innerhalb der maßgeblichen Frist des § 45 Abs 3 SGB X ergangen. Zwar sei die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X nicht eingehalten worden. Diese sei aber auch nicht maßgeblich geblieben. Denn durch das Anhörungsschreiben vom 21. September 1993 habe die Klägerin noch vor Ablauf der Zweijahresfrist von der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 2. Oktober 1991 Kenntnis erlangt, so daß seitdem die Zehnjahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X zu laufen begonnen habe. Der entgegenstehenden Meinung des LSG sei ebensowenig zu folgen wie derjenigen des Bundessozialgerichts (BSG) in seiner Entscheidung vom 22. März 1995 (SozR 3-1300 § 45 Nr 24). Das ergebe sich aus Wortlaut und Sinn des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Das müsse auch aus historischen Gründen gelten, denn die Vertrauensschutzregelung des § 47 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) aF, an deren Stelle diejenige des § 45 SGB X getreten sei, habe für das Behaltendürfen der Leistung auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung auch dann abgestellt, wenn diese nach Bekanntgabe des Leistungsbescheides eingetreten sei. Selbst wenn man dem nicht folgen wolle, so sei der Rücknahmebescheid vom 19. Mai 1994 jedenfalls insoweit aufrechtzuerhalten, als in ihm die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ursprungsbescheides vom 2. Oktober 1991 getroffen worden sei.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Oktober 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 3. Mai 1996 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für richtig.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist im wesentlichen unbegründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen den Bescheid des Beklagten vom 19. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1994 insoweit aufgehoben, als der Beklagte damit seinen Bescheid vom 2. Oktober 1991 und die darauf gestützten Folgebescheide zurückgenommen hat. Denn der Beklagte hatte die für die Rücknahme maßgebliche Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X nicht eingehalten. Da der Rücknahmebescheid aufzuheben ist, kann auch der mit ihm verbundene Rückforderungsbescheid keinen Bestand haben (§ 50 Abs 1 SGB X), so daß das Urteil des LSG auch insofern zu bestätigen ist.
Gemäß § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung … nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Unzweifelhaft handelt es sich bei dem Bescheid vom 2. Oktober 1991, mit dem der Anspruch der Klägerin auf Witwenausgleichsrente festgestellt worden ist, um einen begünstigenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Seine teilweise Rechtswidrigkeit und deren Umfang sind nicht streitig. Sie ergibt sich aus der im Einklang mit der Ermächtigungsnorm des § 41 Abs 3 Satz 4 iVm § 33 Abs 5 BVG stehenden Regelung des § 14 Abs 4 Satz 1 AusglV. Nach dieser auf Art 1 Nr 2 Buchst b der Verordnung vom 22. Dezember 1978 (BGBl I S 2089) zurückgehenden Vorschrift gelten bei der Feststellung der nach § 44 Abs 2 BVG wiederaufgelebten Witwenausgleichsrente Versorgungs- und Rentenansprüche aus der früheren Ehe auch insoweit als Einkommen, als auf sie Ansprüche aus der neuen Ehe anzurechnen sind. Die Voraussetzungen dieser – der Vermeidung einer ungerechtfertigten Besserstellung der Witwe dienenden – Vorschrift (vgl BR-Drucks 345/78 B S 2; 345/78 S 6; Rohr/Sträßer, Bundesversorgungsrecht, Anm 10 zu § 44 auf S K 12 Mitte und Anm 5 zu § 14 AusglV auf S K 89 ff) sind hier erfüllt: Durch die nach § 68 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) bzw nach § 90 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) erfolgte Anrechnung der 2. AnV-Witwenrente sowie der ebenfalls aus zweiter Ehe stammenden Bezüge nach dem LAG erreichte die 1. AnV-Witwenrente keinen Zahlbetrag mehr. Sie war aber gerade deswegen nach § 14 Abs 4 Satz 1 AusglV in voller Höhe als – fiktives – Einkommen in die Berechnung des anzurechnenden Einkommens iS des § 41 Abs 3 BVG einzubeziehen. Das ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Da der Beklagte mit Bescheid vom 2. Oktober 1991 diese Einbeziehung unterlassen hat, ist der Bescheid rechtswidrig iS des § 45 SGB X. Diese Rechtswidrigkeit schreiben die auf diesen Bescheid gestützten Anpassungsbescheide vom 12. Oktober 1992 und vom 6. Mai 1994 fort, mögen sie auch hinsichtlich ihres eigenen Regelungsgehalts rechtmäßig sein (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 37 S 115 mwN).
Als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung konnte der Bescheid vom 2. Oktober 1991 aber nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 45 Abs 3 SGB X zurückgenommen werden. Diese Voraussetzungen sind entgegen der Ansicht des Beklagten nicht erfüllt, weil vor Zugang des Rücknahmebescheides vom 19. Mai 1994 die seit Bekanntgabe des Bescheides vom 2. Oktober 1991 laufende zweijährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X verstrichen war. Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger begünstigender Bescheid mit Dauerwirkung nur innerhalb einer Frist von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Wie aus den weiteren Vorschriften des § 45 Abs 3 SGB X hervorgeht, setzt die Maßgeblichkeit dieser Frist voraus, daß der durch den rechtswidrigen Bescheid mit Dauerwirkung Begünstigte guten Glaubens war, dh, daß auf ihn die in § 45 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB X iVm Abs 2 Satz 3 geregelten Ausnahmevorschriften nicht zutrafen. Unstreitig war die Klägerin zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 2. Oktober 1991 in gutem Glauben, so daß mit Bekanntgabe dieses Bescheides die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X zu laufen begann. Zu Unrecht meint der Beklagte, durch den noch vor Ablauf der Zweijahresfrist erfolgten Zugang des Anhörungsschreibens vom 21. September 1993 sei eine neue Frist, nämlich die für bösgläubig Begünstigte geltende Zehnjahresfrist (§ 45 Abs 3 Satz 3 SGB X), in Lauf gesetzt worden. Die Maßgeblichkeit dieser Frist würde voraussetzen, daß die Tatbestände des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 oder Nr 3 SGB X gegeben waren. Der davon hier allein in Betracht zu ziehende Tatbestand des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X (Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides) lag zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht vor. Zwar mochte die Klägerin seit Erhalt des Anhörungsschreibens vom 21. September 1993 die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 2. Oktober 1991 kennen, dies reicht jedoch für die Anwendung des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X nicht aus. Die Bösgläubigkeit hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des begünstigenden Bescheides muß zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes vorgelegen haben (so auch der 10. Senat des BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 24 S 82 mwN; Wiesner in Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, 3. Aufl, RdNr 23 zu § 45 SGB X mwN; ähnlich, zumindest für den hier vorliegenden Fall der erst durch die Mitteilung des Leistungsträgers bewirkten nachträglichen „Bösgläubigkeit”: Steinwedel in Kasseler Kommentar, RdNr 41 zu § 45 SGB X).
Der Meinung des 10. Senats in der zitierten Entscheidung und des überwiegenden Schrifttums zu dieser Frage ist beizupflichten. Gemäß § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X beginnt die Jahresfrist mit der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes und endet zwei Jahre später (vgl §§ 186 ff Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫). Eine vorzeitige Beendigung oder Unterbrechung der Zweijahresfrist oder ihre Verdrängung durch die in § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X geregelte Zehnjahresfrist sieht das Gesetz nicht vor. Es ist auch nicht zu erkennen, wodurch die Zehnjahresfrist überhaupt in Lauf gesetzt werden sollte. Denn auch sie beginnt (nur) mit der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes. Schon die Maßgeblichkeit der Bekanntgabe für die Berechnung der Fristen sowohl des Satzes 1 als auch des Satzes 3 spricht dagegen, der nachträglichen Kenntnis (oder fahrlässigen Unkenntnis) Bedeutung für den Beginn, die Dauer oder das Ende der Fristen beizumessen. Es mag sein, daß der Gesetzgeber des SGB X bei der Einführung der Zweijahresfrist von dem typischen Fall ausging, daß der Begünstigte während des gesamten Fristablaufs auf den Bestand des begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vertrauen durfte. Dieser Gedanke hat jedoch nicht Eingang in das Gesetz gefunden, vielmehr hat der Gesetzgeber die typisierende Lösung einer unbedingten Ausschlußfrist „absolute zeitliche Rücknahmegrenze”, vgl Meyer in Festschrift für Krasney, München 1997, S 324) gewählt. In die Regelung des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X ist insbesondere kein dem § 937 Abs 2 BGB entsprechender Ausnahmetatbestand aufgenommen worden. Nach der genannten BGB-Vorschrift tritt ein Rechtserwerb durch Ersitzung nur ein, wenn der Eigenbesitzer während der gesamten für die Ersitzung vorgesehenen Frist in gutem Glauben war. Es gibt auch keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, daß ein einmal durch Gutgläubigkeit erlangter Rechtsvorteil (hier Inlaufsetzen einer den Gutgläubigen begünstigenden Ausschlußfrist) durch spätere Bösgläubigkeit wieder verlorengeht. Schließlich wird auch in dem Fall, daß ein begünstigender Verwaltungsakt aufgrund von (schuldlos) unzutreffend gemachten Angaben ergangen ist (§ 45 Abs 3 Satz 3 iVm Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X), der ungehinderte Ablauf der Zweijahresfrist nicht von Umständen abhängig gemacht, die erst nach Bekanntgabe des begünstigenden Verwaltungsakts eintreten. Es ist in diesem Fall ohne Belang, ob derjenige, der weder vorsätzlich noch grob fahrlässig falsche Angaben gemacht hat, nach der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes von der Unrichtigkeit seiner Angaben erfährt, aber diese dennoch nicht innerhalb der Zweijahresfrist richtigstellt.
Was die vom Beklagten angesprochene Regelung des § 47 KOVVfG aF angeht, so betraf diese Vorschrift nicht die Aufhebung des der Leistung zugrundeliegenden Verwaltungsakts, sondern stellte auf den Erhalt der Leistung selbst ab. Deshalb steht auch die Entscheidung BSGE 13, 56 (= SozR Nr 8 zu § 62 BVG) der hier vertretenen Meinung nicht entgegen. Der Senat verkennt nicht, daß der Gesetzgeber bei der Schaffung des SGB X durch die Verlagerung des Vertrauensschutzes in den Rücknahmetatbestand und durch die Entlastung der Rückforderungsvorschriften (§ 50 SGB X) von Vertrauensschutzgesichtspunkten die Rechtsstellung des Leistungsbeziehers gestärkt und die Fälle vermehrt hat, in denen Leistungen nicht zurückgefordert werden können. Es ist aber nicht anzunehmen, daß er dieses Ergebnis nicht vorhergesehen hat und vermeiden wollte.
Die mithin seit 14. Oktober 1993 (vgl § 37 Abs 2 SGB X und § 188 Abs 2 BGB) eingetretene „gesteigerte” Bestandskraft des Bescheides vom 2. Oktober 1991 erfaßte auch die – vor Feststellung seiner Rechtswidrigkeit ergangenen – Folgebescheide vom 12. Oktober 1992 und vom 6. Mai 1994, welche noch die Leistungshöhe für Zeiten vor Zugang des Bescheides vom 19. Mai 1994 regelten. Denn diese Anpassungsbescheide enthielten gegenüber dem Bescheid vom 2. Oktober 1991 keinen neuen (selbständigen) Fehler, sondern schrieben lediglich den bereits im Bescheid vom 2. Oktober 1991 begangenen Fehler (Nichtberücksichtigung des § 14 Abs 4 AusglV) fort. Sie konnten aufgrund ihres begrenzten Regelungsgehalts ebenfalls nicht zurückgenommen werden, auch wenn sie noch in den Zweijahreszeitraum des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X fielen. Das ergibt sich aus der Rechtsprechung des Senats zur sog „konstitutiven Fehlerwiederholung” (BSGE 79, 92, 94 = SozR 3-1300 § 45 Nr 30; BSGE 63, 266, 267 ff = SozR 3642 § 9 Nr 3; SozR 1300 § 45 Nr 37, S 115 ff).
Zu Recht hat das LSG den Bescheid vom 19. Mai 1994 auch insoweit aufgehoben, als damit der Verzinsungsbescheid vom 18. Oktober 1991 zurückgenommen wurde. Insofern ist der Bescheid vom 19. Mai 1994 in sich widersprüchlich. Denn der Beklagte hat den zugrundeliegenden Bescheid vom 2. Oktober 1991 erst mit Wirkung ab 1. Oktober 1993 aufgehoben, während die Zinsen für den Zeitraum vom Mai 1990 bis September 1991 zuerkannt worden waren.
Was die Rücknahme dieses Bescheides und des Bescheides vom 2. Oktober 1991 für die Vergangenheit, dh für die Zeit vom 1. Oktober 1993 bis 31. Mai 1994 angeht, so ergibt sich ihre Rechtswidrigkeit zusätzlich aus § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X. Denn da, wie weiter oben ausgeführt, nicht einmal die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X vorlagen, war eine Rücknahme für die Vergangenheit unzulässig.
Der Bescheid vom 19. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1994 war auch insoweit rechtswidrig, als er die Höhe der wiederaufgelebten Versorgungswitwenrente für die Zeit nach seiner Bekanntgabe, also ab 1. Juni 1994, ohne Berücksichtigung der Bestandskraft des Bescheides vom 2. Oktober 1991 neu festsetzte. Da es sich bei dem zurückgenommenen Bescheid vom 2. Oktober 1991 und seinen Folgebescheiden vom 12. Oktober 1992 und vom 6. Mai 1994 um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung handelte, war der diesen Bescheiden gemeinsame, sich zugunsten der Klägerin auswirkende Rechtsfehler auch für die Zukunft nur noch in den Grenzen des § 48 Abs 3 SGB X zu korrigieren. Insbesondere war die Höhe der Leistung – bis zu einer etwa eintretenden relevanten Änderung der Verhältnisse – bestandskräftig festgestellt (vgl BSGE 63, 259, 263). Würde der bestandskräftig festgestellte Zahlbetrag – abgesehen von der Regelung des § 48 Abs 3 Satz 1 SGB X – nicht geschützt, käme es zu einer Umgehung der Regelung des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X. Sie soll den (gutgläubigen) Bezieher einer langjährigen wiederkehrenden Sozialleistung vor einem plötzlichen, allein auf der Entdeckung der Rechtswidrigkeit des zugrundeliegenden Bescheides beruhenden Einkommensverlust bewahren. Dies würde aber nicht erreicht, wenn bei künftigen Anpassungen des Bescheides der bisher bezogene Betrag nicht auch für die folgenden Anpassungszeiträume erhalten bliebe, soweit er nicht durch eine relevante Änderung der Verhältnisse überholt worden ist. Mithin darf der von dem Beklagten zu leistende Betrag der wiederaufgelebten Witwenversorgungsrente auch nach Zugang des Bescheides vom 19. Mai 1994 grundsätzlich nicht unter die im rechtswidrigen Bescheid und seinen Folgebescheiden festgestellte Leistungshöhe von zuletzt 1.122 DM absinken (vgl BSGE 69, 208 = SozR 3-1300 § 48 Nr 11). Diese Leistungshöhe durfte der Beklagte auch für die Zukunft nur nach Maßgabe des § 48 Abs 3 SGB X „einfrieren”, nicht aber die Leistung ohne Berücksichtigung der Bestandskraft feststellen. Daher ist der Bescheid vom 19. Mai 1994 auch insoweit rechtswidrig und mithin von den Vorinstanzen zu Recht aufgehoben worden, als er die laufende Leistung (auch) ab 1. Juni 1994 mit nur noch 574 DM bemißt.
Ob nach dem 19. Mai 1994 auf der Grundlage der unzulässigen Neuberechnung der Leistung weitere Anpassungsbescheide ergangen sind, welche die Bestandskraft des Bescheides vom 2. Oktober 1991 nicht berücksichtigen und daher fehlerhaft sind, wäre hier nur zu entscheiden, wenn bereits das LSG davon ausgegangen wäre, daß derartige Bescheide vorhanden und Gegenstand des Verfahrens geworden sind. Das ist aber nicht der Fall. Insofern hat auch die ggf dadurch allein beschwerte Klägerin weder ein Rechtsmittel eingelegt noch Gegenrügen vorgebracht, so daß ein entsprechender Verfahrensfehler vom Senat nicht geprüft werden kann (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, RdNr 12 zu § 96, RdNr 4 zu § 170 und RdNrn 12 und 13 zu § 164).
Erfolgreich ist die Revision des Beklagten insofern, als der Bescheid vom 19. Mai 1994 aufrechtzuerhalten ist, soweit mit ihm die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 2. Oktober 1991 feststellt wurde. Gemäß § 48 Abs 3 Satz 1 SGB X ist nämlich der Leistungsträger berechtigt und verpflichtet, bei zukünftigen Änderungen der Verhältnisse zugunsten des Berechtigten die Leistung nicht über den Betrag hinaus zu erhöhen, der sich ohne Berücksichtigung der Bestandskraft des Grundlagenbescheides ergibt. Daraus ergibt sich, daß zukünftige für den Berechtigten günstige Änderungen der Verhältnisse (§ 48 Abs 1 SGB X), die bei fehlerfreier Berechnung nur zu einer unterhalb des bestandsgeschützten Betrages verbleibenden Leistungshöhe führen würden, nicht zu berücksichtigen sind und insbesondere keine Erhöhung des bestandsgeschützten Betrages bewirken (sog „Einfrieren” der Leistung). Bevor jedoch so verfahren werden darf, ist die Rechtswidrigkeit des Grundlagenbescheides – entweder in Form eines Teiles des „Abschmelzungsbescheides” (negativen Anpassungsbescheides) oder durch selbständigen Feststellungsbescheid festzustellen (BSGE 63, 266, 269 = SozR 3642 § 9 Nr 3 S 9 ff mwN; Steinwedel in Kasseler Kommentar, RdNrn 67 ff zu § 48 SGB X; auch BSG SozR 1300 § 48 Nr 54 S 155; Urteil vom 2. November 1988 – 2 RU 39/87 – Leitsatz veröffentlicht in SozSich 1989, 192). Ein solcher – nur mit Wirkung für die Zukunft zulässiger – Feststellungsbescheid fehlt hinsichtlich der schon ergangenen Anpassungsbescheide vom 12. Oktober 1992 und 6. Mai 1994 und konnte schon mit dem Bescheid vom 19. Mai 1994 nicht mehr nachgeholt werden. Die Anpassungsbescheide durften daher auch nicht etwa wegen eines Verstoßes gegen § 48 Abs 3 SGB X zurückgenommen werden (BSGE 63, 266, 269 = SozR 3642 § 9 Nr 3). Für (negative) Anpassungsbescheide (Abschmelzungsbescheide), die nach der Bekanntgabe des Rücknahmebescheides vom 19. Mai 1994 erlassen werden oder worden sind, kann aber nunmehr vom Vorliegen eines solchen Feststellungsbescheides ausgegangen werden. Denn als Rücknahmebescheid iS des § 45 SGB X enthielt der Bescheid vom 19. Mai 1994 – begriffsnotwendig – zugleich die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 2. Oktober 1991. Trifft zwar diese Feststellung zu, fehlen jedoch eine oder mehrere sonstige Rücknahmevoraussetzungen nach § 45 SGB X, so bestehen keine Bedenken dagegen, den nur im übrigen rechtswidrigen Rücknahmebescheid insofern aufrechtzuerhalten, als er – selbständig – die Rechtswidrigkeit des Grundlagenbescheides feststellt, wenn diese Feststellung – wie hier – zutrifft und dem Willen des Leistungsträgers entspricht. Ein derartiges Verfahren rechtfertigt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie, weil so spätere Streitigkeiten über die Rechtswidrigkeit des Grundlagenbescheides vermieden werden. Entsprechend dem im Revisionsverfahren zum Ausdruck gelangten Willen des Beklagten behält daher der Rücknahmebescheid vom 19. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1994 als selbständiger Feststellungsbescheid Bestand. Einen – hinsichtlich der formalen Rücknahmevoraussetzungen – rechtswidrigen Rücknahmebescheid als Feststellungsbescheid zur Vorbereitung der Abschmelzung nach § 48 Abs 3 SGB X aufrechtzuerhalten, hat der Senat bereits in seiner Entscheidung BSGE 79, 92, 96 ff für zulässig erachtet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175927 |
SozR 3-1300 § 45, Nr. 39 |
SozSi 1998, 438 |
SozSi 1999, 78 |