Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit eines Gipsers. Verweisung auf Arbeiten der Vergütungsgruppe X BAT
Orientierungssatz
Ein Facharbeiter, der seine erlernte Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, ist außer auf angelernte Tätigkeiten nur auf solche ungelernte Tätigkeiten verweisbar, die sich so deutlich aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten herausheben, daß sie einem Ausbildungsberuf entsprechen. Ob das bei Tätigkeiten der Vergütungsgruppe X BAT der Fall ist, bedarf im einzelnen der Feststellung, ebenso wie die Frage, ob der Versicherte über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die zur Ausübung einer solchen Tätigkeit erforderlich sind (vgl BSG 1980-12-03 4 RJ 35/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 73).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23; BAT
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.10.1980; Aktenzeichen L 2 J 96/80) |
SG Speyer (Entscheidung vom 14.02.1980; Aktenzeichen S 11 J 689/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Der im Jahre 1940 geborene Kläger hat den Beruf eines Gipsers erlernt; er mußte die Ausübung dieses Berufes im Jahre 1974 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Die darauf folgenden Umschulungsmaßnahmen blieben ergebnislos. Den im Januar 1977 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 29. April 1977 ab. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos. In seinem Urteil vom 13. Oktober 1980 führt das Landessozialgericht (LSG) ua aus, der Kläger sei als gelernter Gipser dem Leitberuf eines Facharbeiters zuzuordnen und könne noch leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen vollschichtig verrichten. Er sei aber noch nicht berufsunfähig, weil er sich auch auf berufsfremde Tätigkeiten, zB der Vergütungsgruppe X des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT), verweisen lassen müsse. Hierbei handele es sich um Tätigkeiten einfacher, aber nicht einfachster Art, die ohne einschlägige Vorkenntnisse von jedem Arbeitnehmer nach weniger als dreimonatiger Einweisung und Einarbeitung verrichtet werden können. Eine Tätigkeit könne nicht unzumutbar sein, die zu verrichten sich Arbeitnehmer in nicht unerheblicher Zahl unter freiwilliger Lösung vom erlernten Beruf selbst zumuteten. Es könne nicht außer Betracht bleiben, daß sich beim LSG Mainz sieben Facharbeiter verschiedener Berufsrichtungen, nämlich ein Glas- und Gebäudereiniger, ein Bäcker, ein Tischler, ein Schichtführer, Maler sowie zwei Tapezierer erfolgreich um eine Beschäftigung nach der Vergütungsgruppe BAT X beworben hätten. Der Kläger könne noch leichte körperliche Arbeiten vollschichtig verrichten und sei zur Ausübung dieser Verweisungstätigkeit intellektuell befähigt.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das LSG sei hinsichtlich der Verweisung auf Tätigkeiten der Vergütungsgruppe BAT X von der Rechtsprechung des BSG abgewichen. Für diese Abweichung bestehe kein Anlaß.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Speyer vom 14. Februar 1980 - S 11 J 689/78 - in
Gestalt des Urteils des LSG Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 1980 -
L 2 J 96/80 - aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab
1. Januar 1977 Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits nicht aus.
Erwerbsunfähig ist nach § 1247 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) der Versicherte, der eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nur noch geringfügige Einkünfte erzielen kann. Berufsunfähig ist nach § 1246 Abs 2 RVO der Versicherte, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Das LSG hat den Kläger zutreffend der Gruppe der Facharbeiter zugeordnet, insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Eine Berufsunfähigkeit des Versicherten hat das Berufungsgericht deshalb als nicht gegeben angesehen, weil der Kläger auf alle Tätigkeiten der Vergütungsgruppe X des BAT verwiesen werden könne. Dabei ist es vom Urteil des BSG vom 27. Mai 1977 (5 RJ 28/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 19) abgewichen. Das LSG stützt seine Auffassung ua darauf, daß zur Ausübung dieser Tätigkeiten eine Einweisung von höchstens drei Monaten erforderlich sei. Dies allein genügt aber nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 - = SozR 2200 § 1246 Nr 73) noch nicht, um eine derartige Verweisung eines Facharbeiters zu begründen. Vielmehr ist zu fordern, daß sich die Verweisungstätigkeit so deutlich aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten heraushebt, daß sie einem Ausbildungsberuf entspricht (so zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 26. November 1981 - 4 RJ 79/80 - mwN). Derartige Feststellungen hat das LSG nicht getroffen. Sie können auch nicht aus der Tarifgruppe X BAT entnommen werden, denn diese ist dadurch gekennzeichnet, daß sie für Tätigkeiten aus mechanischer Arbeit gilt. Das LSG wird demnach unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG die für den Kläger noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten feststellen müssen.
Die Zumutbarkeit der von ihm in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten begründet das LSG im wesentlichen damit, daß eine nicht unerhebliche Zahl von Facharbeitern aus freien Stücken bereit sei, sich vom erlernten Beruf zu lösen und diesen Tätigkeiten zuzuwenden. Es mag dahinstehen, ob einige Facharbeiter eine nicht weiter qualifizierte Tätigkeit im öffentlichen Dienst einer Ausübung ihres erlernten Berufes vorziehen. Die Gründe hierfür können vielfältiger Art sein - Unzufriedenheit im erlernten Beruf, fehlender Berufserfolg, die Lage des Arbeitsmarktes oder andere, bedürfen hier jedoch keiner weiteren Untersuchung. Es ist aber schlechthin unzulässig, bereits aus dem Verhalten von sieben Facharbeitern - wie es das LSG tut - einen allgemeinen Erfahrungssatz zur Frage der Zumutbarkeit einer Verweisung von Facharbeitern abzuleiten und aus diesem die Verweisung des Klägers zu begründen.
Das LSG verknüpft zwei Arten des Berufswechsels, die jedoch auf völlig unterschiedliche Sachverhalte zurückgehen: Die freiwillige Lösung vom bisherigen Beruf und die durch Krankheit uä erzwungene Aufgabe des Berufs. Der Berufsschutz durch die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung erfaßt nur den zweiten Sachverhalt; die freiwillige Lösung vom Beruf wird rentenrechtlich nicht geschützt und kann daher mit der erzwungenen Aufgabe des Berufs nicht gleichgesetzt werden.
Dem LSG kann schließlich auch nicht darin gefolgt werden, daß ein Facharbeiter, der für sich den Berufsschutz in Anspruch nimmt, zwangsläufig über die intellektuellen Fähigkeiten zur Ausübung eines Verweisungsberufes verfügen muß. Der eingangs erwähnte Bereich der zumutbaren Verweisungstätigkeiten erfordert nicht nur das für einen Facharbeiter möglicherweise typische Intelligenzniveau, sondern darüberhinaus spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten, die ein nicht einschlägig ausgebildeter Facharbeiter normalerweise nicht besitzt und auch nicht notwendig im Rahmen einer Einweisung bzw Einarbeitung erwerben kann. Die Eignung eines Versicherten zur Ausübung einer Verweisungstätigkeit ist vielmehr für jeden Versicherten und jede Tätigkeit gesondert festzustellen. Diese Feststellungen wird das LSG im vorliegenden Fall noch zu treffen haben.
Nach allem war auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen