Leitsatz (redaktionell)
Ein im Hauptberuf als Lehrhauer tätig gewesener Versicherter ist nicht vermindert bergmännisch berufsfähig iS von RKG § 45 Abs 2, wenn er noch Tätigkeiten der Lohngruppe 1 über Tage der Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau (zB Probenehmer, Kokereiarbeiter) verrichten kann.
Normenkette
RKG § 45 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juni 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der im Jahre 1932 geborene Kläger war von 1947 bis 1950 als Berglehrling über- und untertage, von 1950 bis 1951 als Knappe und Gedingeschlepper und von 1951 bis 1955 als Lehrhauer tätig. Im Jahre 1955 wurde er wegen beginnender leichtgradiger Silikose nach übertage verlegt; die Bergbau-Berufsgenossenschaft (BG) zahlte ihm deshalb eine Übergangsrente. Seit Oktober 1957 ist der Kläger als Aschefahrer im Kesselhaus beschäftigt.
Der vom Kläger im November 1958 gestellte Antrag auf Gewährung der Bergmannsrente wurde von der Beklagten durch Bescheid vom 31. März 1959 und Widerspruchsbescheid vom 17. April 1959 abgelehnt, weil der Kläger nicht vermindert bergmännisch berufsunfähig sei; er könne nach ärztlichem Befund noch alle Arbeiten der Lohngruppen I bis V übertage verrichten.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg verurteilte dagegen die Beklagte durch Urteil vom 26. April 1960 zur Gewährung der Bergmannsrente vom 1. November 1958 an. Es vertrat den Standpunkt, die vom Kläger noch zu verrichtenden Tätigkeiten übertage seien der Lehrhauertätigkeit, die dem Vergleich zugrunde zu legen sei, nicht im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig.
Mit ihrer Berufung hatte die Beklagte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen wies durch sein am 29. Juni 1961 verkündetes Urteil die Klage ab.
Es führte aus, der Kläger könne jedenfalls auf Tätigkeiten der Lohngruppe I übertage verwiesen werden, die keine besondere Ausbildung erfordern und von einem Lehrhauer nach kurzer Einweisung verrichtet werden könnten, wie z. B. die Tätigkeiten eines Probenehmers, eines Maschinisten für Füllwagen, Druckmaschinen, Türheber, Führungswagen, Löschwagen und Gasumstellung. Diese Tätigkeiten seien der Lehrhauertätigkeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig, da der Lohnabfall nach der Lohnordnung vom 1. Juli 1957 lediglich 18 v. H. und nach der Lohnordnung vom 1. Oktober 1960 nur 17,7 v. H. betragen habe. Die Bergmannsprämie, die nicht als Entgelt anzusehen sei, müsse bei der Errechnung des Lohnabfalls außer Betracht bleiben. Bei den genannten Tätigkeiten handele es sich auch um solche von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten. Der Lehrhauer habe keine abgeschlossene Ausbildung, sondern befinde sich noch in der Ausbildung zum Hauer und habe in der Regel auch nicht dessen Kenntnisse und Fähigkeiten. Hauer und Lehrhauer könnten daher nicht gleichbehandelt werden, wie dies früher hinsichtlich der Gleichartigkeit (§ 35 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG - aF) geschehen sei. Da die Lehrhauertätigkeit keine Ausbildung voraussetze, sondern noch der Ausbildung diene, könne sie rechtlich nicht anders gesehen werden als sonstige Tätigkeiten, die eine gewisse Anlernung erforderten. Der in der Anlernung stehende Arbeiter könne in weiterem Umfange auf andere Tätigkeiten verwiesen werden als ein Facharbeiter oder ein Arbeiter, der einem Facharbeiter gleichzustellen sei. Demgemäß müsse sich der Lehrhauer auf die angeführten Arbeiten verweisen lassen, auch wenn sie der Art nach keine Ähnlichkeit mit der Lehrhauertätigkeit aufweisen und auch die Anlernung zur Gedingearbeit andersgeartet sei als die im Kokereibetrieb. Die erwähnten Tätigkeiten erforderten gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Lehrhauertätigkeit. Sowohl die Arbeit eines Probenehmers als auch die genannten Maschinistentätigkeiten in der Kokerei setzten ebenso wie die Lehrhauertätigkeit Geschicklichkeit und ein gewisses Verantwortungsbewußtsein voraus. Das ergebe sich auch daraus, daß diese Arbeiten in der Lohnordnung verhältnismäßig hoch eingestuft seien, obwohl sie körperlich nicht besonders schwer seien.
Gegen das ihm am 10. August 1961 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30. August 1961 unter Antragstellung Revision eingelegt und diese am 1. September 1961 begründet.
Er führt unter Berufung auf die Entscheidung des erkennenden Senats in BSG 14, 207 aus, der Lehrhauer, der im wesentlichen dieselbe Tätigkeit verrichte wie der Hauer, müsse auch versicherungsrechtlich wie dieser behandelt werden. Damit, daß der Lehrhauer noch in der Ausbildung stehe, könne eine unterschiedliche Behandlung nicht begründet werden, da er in der Regel eine Knappenprüfung abgelegt und somit eine ordentliche Lehrausbildung erhalten habe. Im übrigen sei auch der Begriff der ähnlichen Ausbildung und gleichwertigen Kenntnisse von dem Reichsversicherungsamt - RVA - (AN 1931, 130) nur als Erläuterung des Begriffs der Gleichartigkeit eingeführt worden. § 45 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF könne deshalb nicht anders als § 35 RKG aF verstanden werden, auch wenn in seinem Wortlaut der Begriff "Gleichartigkeit" fehle. Schließlich seien die Tätigkeiten der Lohngruppe I übertage, auf die der Kläger verwiesen werde, hinsichtlich der Kenntnisse und Fähigkeiten mit der Tätigkeit eines Lehrhauers nicht vergleichbar; das folge schon daraus, daß der Lehrhauer eine umfassende mehrjährige Ausbildung mit anschließender Knappenprüfung erhalte, während für die angeführten Tätigkeiten eine kürzere Einweisung genüge.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. § 45 Abs. 2 RKG spreche nicht von Tätigkeiten mit gleicher, sondern von solchen mit ähnlicher Ausbildung. Würde man den Kreis der zumutbaren Arbeiten durch Überbewertung der Ausbildung für den bisherigen Beruf zu eng ziehen, so entfiele die Verweisungsmöglichkeit für viele Arbeiten, die dem bisherigen Beruf durchaus wirtschaftlich gleichwertig seien und die der Versicherte auf Grund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten verrichten könne. Entgegen der Auffassung des Klägers könne man die Verweisung auch nicht auf die im wesentlichen gleichartigen Tätigkeiten erstrecken, da dieser Begriff bewußt nicht übernommen worden sei. Man müsse vielmehr die Tätigkeiten der Lohngruppen I a und I übertage allgemein in Betracht ziehen, da sie sich alle über den Kreis der Hilfsarbeitertätigkeiten hinausheben und ihre Verrichtung für einen ehemaligen Lehrhauer keinen sozialen Abstieg bedeute.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist vom LSG zugelassen; sie ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt nur davon ab, ob § 45 Abs. 2 RKG richtig angewendet worden ist.
Der Kläger ist infolge Krankheit verhindert, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Tätigkeit eines Lehrhauers auszuüben; dies hat der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung für Fälle wie den vorliegenden entschieden, bei denen der Versicherte wegen beginnender Silikose auf Grund bergpolizeilicher Bedingungen nach ärztlicher Untersuchung nicht mehr ohne Einschränkung für Arbeiten in staubhaltigen Wettern tauglich ist. Es fragt sich somit nur, ob der Kläger noch imstande ist, andere, im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben.
Nicht zu beanstanden sind die Ausführungen des LSG, daß die Tätigkeiten der Lohngruppe I übertage der Lehrhauertätigkeit im wesentlichen gleichwertig sind, da der Lohnabfall unter Berücksichtigung eines 5%igen Abzuges vom Gedingerichtsatz bei einem Lehrhauer vom dritten Jahr ab nach der Lohnordnung vom 1. Juli 1957 lediglich 18,7 v. H. und nach der Lohnordnung vom 1. Oktober 1960 nur 17,7 v. H. betrug. Dieses Bild hat sich durch die Lohnordnungen vom 1. Juli 1961 und 1. Juli 1962 mit einem Lohnabfall von ca. 17,6 v. H. nicht wesentlich verändert.
Richtig ist auch die Ansicht des LSG, daß die Bergmannsprämie bei dem Lohnvergleich nicht mitzuberücksichtigen ist, da sie für die Sozialversicherung nicht als Einkommen gilt (BSG 13, 29, 31).
§ 45 Abs. 2 RKG beschränkt die Verweisbarkeit zwar nicht mehr, wie es § 35 RKG aF tat, auf solche Arbeiten, die im wesentlichen gleichartig sind, sie läßt die Verweisung aber immerhin nur zu auf solche im wesentlichen gleichwertigen Arbeiten, die von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet werden. Es ist also die Lehrhauertätigkeit den Tätigkeiten der Lohngruppe I übertage gegenüberzustellen. Daß der Kläger, nachdem er zunächst Berglehrling und Knappe gewesen war, nach vierjähriger Tätigkeit als Lehrhauer möglicherweise früher oder später Hauer geworden wäre, ist unerheblich. Eine vielleicht mögliche Berufsentwicklung kann in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden, da § 45 Abs. 2 RKG nur von der bisher verrichteten knappschaftlichen Tätigkeit spricht, worunter allein die tatsächlich verrichtete Tätigkeit verstanden werden kann (BSG 6, 38; Schimanski, Knappschaftsversicherungsgesetz, 1962, § 45 Anm. 12).
Es ist allerdings nicht zu verkennen, daß zwischen der Ausbildung, die der Kläger durchlaufen hat, und der Ausbildung zu den Tätigkeiten der Lohngruppe I übertage, auf die der Kläger nach Ansicht des LSG verwiesen werden kann, ein nicht unerheblicher Unterschied besteht. Der Kläger hat die im Bergbau vorgesehene dreijährige Ausbildung als Berglehrling durchgemacht und war dann als Knappe, Gedingeschlepper und Lehrhauer tätig. Der Lehrhauer verrichtet auch teilweise die gleiche Tätigkeit wie der Hauer. Der Vollhauer verrichtet aber allein sämtliche Hauerarbeiten und trägt im Gegensatz zum Lehrhauer ein größeres Maß an Verantwortung. Man wird unter diesen Umständen dem LSG, wenn auch mit Einschränkungen, darin zustimmen können, daß der Kläger als Lehrhauer noch nicht voll ausgebildet war; jedenfalls muß der Vollhauer hinsichtlich seiner Kenntnisse und Fähigkeiten höher eingestuft werden als der Lehrhauer.
Bei den zur Erörterung stehenden Verweisungstätigkeiten der Lohngruppe I übertage handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um solche, die keine besondere Ausbildung erfordern und von einem Lehrhauer nach kurzer Einweisung und Umstellung verrichtet werden können, d. h. um Anlerntätigkeiten, die zwar möglicherweise eine gewisse Geschicklichkeit und ein gewisses Verantwortungsbewußtsein, aber keine besondere Ausbildung voraussetzen. Der Wortlaut des Gesetzes könnte daher für die Annahme sprechen, die Verweisung eines Bergmanns, der eine Berglehre durchgemacht und mehrere Jahre als Lehrhauer gearbeitet hat - auch wenn er nicht Vollhauer geworden ist -, auf die vom LSG ermittelten Verweisungstätigkeiten der Lohngruppe I übertage sei nicht zulässig.
Es fragt sich jedoch, ob § 45 Abs. 2 RKG so eng auszulegen ist und ob die in der allgemeinen Rentenversicherung geltenden Grundsätze, ein Facharbeiter könne nur in Sonderfällen auf ungelernte und einfache angelernte Arbeiten verwiesen werden, auf die knappschaftliche Rentenversicherung, insbesondere auf § 45 Abs. 2 RKG, übertragen werden können. Durch den Hinweis in § 45 Abs. 2 RKG auf Personen mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten soll sicherlich erreicht werden, daß einem Versicherten nur Tätigkeiten in ähnlicher sozialer Stellung zugemutet werden. Bei der sozialen Bewertung von Berufsarbeiten ist aber das Verhalten und die Anschauung der beteiligten Berufskreise von besonderer Bedeutung. Gerade in der sozialen Bewertung der Berufsarbeiten unterscheiden sich aber die bergmännischen Berufe von den übrigen Berufen. Bei den bergmännischen Berufen gehört es zum normalen Verlauf des Arbeitslebens, daß der Versicherte lange vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß die berufliche Spitzenstellung aufgeben und sich mit geringer bewerteten Arbeitsplätzen abfinden muß (BSG 17, 191). Diese dem bergmännischen Beruf innewohnende Abwärtsentwicklung, die zur Folge hat, daß die geringer bewerteten Übertageberufe häufig von ehemaligen Bergleuten ausgeführt werden, führt zwangsläufig zu einer Verminderung des sozialen Abstands zwischen den eigentlich bergmännischen Berufen und den angelernten Übertageberufen, soweit diese für den betreffenden Bergbauzweig typisch sind. Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten läßt es sich noch vertreten, einem Lehrhauer die vom LSG angeführten wirtschaftlich gleichwertigen Arbeiten der Lohngruppe I übertage zuzumuten. Hierfür spricht auch, daß das Bundessozialgericht bei Anwendung des § 35 RKG von den Tätigkeiten der Lohngruppe I übertage die des ersten Anschlägers, des Reservefördermaschinisten und des Brückenaufsehers sogar noch als der Hauertätigkeit im wesentlichen gleichartig angesehen hat (BSG 5, 84). Da § 45 Abs. 2 RKG nF, von der Weglassung des Tatbestandsmerkmals der Gleichartigkeit abgesehen, die gleiche Fassung hat wie § 35 RKG aF, muß sich demnach selbst ein Vollhauer auch jetzt noch auf die genannten Tätigkeiten verweisen lassen. Da der Lehrhauer aber in seinen Kenntnissen und Fähigkeiten hinter dem Vollhauer zurücksteht und auch geringer eingestuft wird als der Vollhauer, wird er sich auf einen weiteren Kreis von Tätigkeiten verweisen lassen müssen. Insoweit kommen die vom LSG angeführten Arbeiten in Frage. Schließlich kann auch noch darauf hingewiesen werden, daß zwischen diesen Tätigkeiten und den Arbeiten derselben Lohngruppe, auf die auch der Vollhauer noch verwiesen werden kann, hinsichtlich des sozialen Ansehens kein wesentlicher Unterschied besteht.
Die Revision des Klägers war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen