Orientierungssatz
1. Die in der allgemeinen Rentenversicherung geltenden Grundsätze, ein Facharbeiter könne nur in Sonderfällen auf ungelernte und einfache angelernte Arbeiten verwiesen werden, können nicht uneingeschränkt auf die knappschaftliche Rentenversicherung übertragen werden. Bei der sozialen Bewertung von Berufsarbeiten ist das Verhalten und die Anschauung der beteiligten Berufskreise von besonderer Bedeutung.
2. Gerade in der sozialen Bewertung der Berufsarbeiten unterscheiden sich aber die bergmännischen Berufe von den übrigen. Bei den bergmännischen Berufen gehört es zum normalen Verlauf des Arbeitslebens, daß der Versicherte lange vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß die berufliche Spitzenstellung aufgeben und sich mit geringer bewerteten Arbeitsplätzen abfinden muß. Diese dem bergmännischen Beruf innewohnende Abwärtsentwicklung mit der Folge, daß die geringer bewerteten Übertageberufe häufig von ehemaligen Bergleuten ausgeübt werden, führt zwangsläufig zu einer Verminderung des sozialen Abstands zwischen den eigentlichen bergmännischen Berufen und den angelernten Übertageberufen, soweit diese für den betreffenden Bergbauzweig typisch sind. Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten läßt es sich noch vertreten, einem Lehrhauer wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten der Lohngruppe 1 über Tage zuzumuten.
Normenkette
RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Juni 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Kläger, der seit 1947 als Gedingeschlepper und Lehrhauer gearbeitet hatte, darf wegen beginnender Silikose nicht mehr unter Tage beschäftigt werden. Er beantragte deshalb im Januar 1959 die Gewährung von Bergmannsrente. Die Beklagte lehnte ab, weil die vorhandene Silikose ersten Grades weder ein Gebrechen noch eine Schwäche der körperlichen Kräfte und damit auch keine Krankheit im Sinne des § 45 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) sei. Auf die Klage hin verurteilte das Sozialgericht (SG) die Beklagte; das Landessozialgericht (LSG) wies auf die Berufung der Beklagten die Klage ab: Der Kläger sei noch in der Lage, anstelle der von ihm bisher verrichteten Tätigkeit eines Lehrhauers andere Arbeiten zu verrichten, die jener im wesentlichen gleichwertig seien und die von Personen mit einer ähnlichen Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben ausgeübt würden; denn er könne auf andere Tätigkeiten der Lohngruppe I über Tage verwiesen werden wie die des Probenehmers, des Laboratoriumshelfers und des ersten Maschinisten. Diese Tätigkeiten seien auch wirtschaftlich gleichwertig, weil der Lohnunterschied nach den verschiedenen Lohnordnungen nur etwa 18 v. H. betrage. Diese Tätigkeiten mögen zwar mit der Lehrhauertätigkeit im wesentlichen nicht gleich artig sein; aber darauf komme es in § 45 Abs. 2 RKG nF im Gegensatz zu § 35 RKG aF nicht mehr an; es genüge, wenn es sich um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung und gleich wertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handele. Die Lehrhauertätigkeit könne der eines Hauers nicht gleichgestellt werden, weil der Lehrhauer noch nicht die abgeschlossene Ausbildung habe wie der Vollhauer. Deshalb könne die Tätigkeit eines Lehrhauers rechtlich nicht anders gesehen werden als sonstige Tätigkeiten, die eine gewisse Anlernung oder Eingewöhnung erforderten. Die Tätigkeiten eines Probenehmers, Laboratoriumshelfers und ersten Maschinisten setzten eine gewisse Geschicklichkeit und ein Verantwortungsbewußtsein voraus, wie es vom Lehrhauer in nicht wesentlich höherem Maße gefordert würde. Die Kenntnisse und Fähigkeiten, die zu diesen Tätigkeiten notwendig seien, seien denen des Lehrhauers auch gleichwertig.
Die Revision wurde zugelassen.
Der Kläger legte gegen das Urteil Revision ein.
Er trägt vor: Auch wenn in § 45 RKG nF im Gegensatz zu § 35 RKG aF der Begriff der Gleichartigkeit nicht mehr enthalten sei, so dürfe doch ein Lehrhauer nicht anders als ein Hauer bewertet werden, weil er im wesentlichen dieselbe Tätigkeit verrichte. Es sei deshalb auch die gleiche versicherungsrechtliche Beurteilung beider Tätigkeiten geboten. Die Herausnahme der Gleichartigkeit aus § 45 Abs. 2 RKG nF habe nicht die Bedeutung, die das LSG angenommen habe. Der Begriff der Gleichartigkeit sei schon früher ausgefüllt worden durch den jetzt noch im Gesetz enthaltenen Begriff der ähnlichen Ausbildung und der gleichwertigen Kenntnisse und Fähigkeiten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 8. Juni 1961 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund vom 12. Dezember 1960 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.
Da der Kläger seinen Antrag erst 1959 gestellt hat und Rente erst von diesem Zeitpunkt an begehrt, beurteilen sich seine Ansprüche nach § 45 Abs. 1 RKG nF. Hiernach erhält Bergmannsrente der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, noch imstande ist, andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertiger Kenntnisse und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben. Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht gegeben. Der Kläger kann zwar seine frühere Tätigkeit als Lehrhauer wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr ausüben. Er kann aber, wie das LSG - von der Revision nicht angegriffen und damit für das Bundessozialgericht (BSG) bindend - festgestellt hat (§ 163 SGG), noch Arbeiten der Lohngruppe I über Tage wie die des Probenehmers, des Laboratoriumshelfers und des ersten Maschinisten verrichten. Wie der Senat in seinem Urteil vom 4. April 1963 - 5 RKn 64/61 - ausgeführt hat, beschränkt § 45 Abs. 2 RKG die Verweisbarkeit nicht mehr, wie es § 35 RKG aF tat, auf solche Arbeiten, die im wesentlichen gleichartig sind, sondern läßt die Verweisung auf solche im wesentlichen gleichwertigen Arbeiten zu, die von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet werden. Es ist also die Lehrhauertätigkeit den Tätigkeiten der Lohngruppe I über Tage gegenüberzustellen. Daß der Kläger nach längerer Tätigkeit als Lehrhauer möglicherweise früher oder später Hauer geworden wäre, ist unerheblich. Eine vielleicht mögliche Berufsentwicklung kann in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden, da § 45 Abs. 2 RKG nur von der bisher verrichteten knappschaftlichen Tätigkeit spricht, worunter allein die tatsächlich verrichtete Tätigkeit verstanden werden kann (BSG 6, 38). Auch wenn zwischen der Ausbildung, die der Kläger durchlaufen hat, und der Ausbildung zu den Tätigkeiten der Lohngruppe I über Tage ein nicht unerheblicher Unterschied besteht, so kann doch der Kläger, der als Lehrhauer noch nicht voll ausgebildet ist, auf diese Tätigkeiten verwiesen werden. Bei den Tätigkeiten der Lohngruppe I über Tage handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um solche, die keine besondere Ausbildung erfordern und von einem Lehrhauer nach kurzer Einweisung und Umstellung verrichtet werden können, d. h. um Anlerntätigkeiten, die zwar eine gewisse Geschicklichkeit und ein gewisses Verantwortungsbewußtsein, aber keine besondere Ausbildung voraussetzen.
Die in der allgemeinen Rentenversicherung geltenden Grundsätze, ein Facharbeiter könne nur in Sonderfällen auf ungelernte und einfache angelernte Arbeiten verwiesen werden, können nicht uneingeschränkt auf die knappschaftliche Rentenversicherung übertragen werden. Bei der sozialen Bewertung von Berufsarbeiten ist das Verhalten und die Anschauung der beteiligten Berufskreise von besonderer Bedeutung. Gerade in der sozialen Bewertung der Berufsarbeiten unterscheiden sich aber die bergmännischen Berufe von den übrigen. Bei den bergmännischen Berufen gehört es zum normalen Verlauf des Arbeitslebens, daß der Versicherte lange vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß die berufliche Spitzenstellung aufgeben und sich mit geringer bewerteten Arbeitsplätzen abfinden muß (BSG 17, 191). Diese dem bergmännischen Beruf innewohnende Abwärtsentwicklung mit der Folge, daß die geringer bewerteten Übertageberufe häufig von ehemaligen Bergleuten ausgeübt werden, führt zwangsläufig zu einer Verminderung des sozialen Abstands zwischen den eigentlichen bergmännischen Berufen und den angelernten Übertageberufen, soweit diese für den betreffenden Bergbauzweig typisch sind. Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten läßt es sich noch vertreten, einem Lehrhauer die vom LSG angeführten wirtschaftlich gleichwertigen Arbeiten der Lohngruppe I über Tage zuzumuten.
Das LSG hat daher den Kläger mit Recht auf die oben genannten Tätigkeiten verwiesen; denn diese sind der bisher vom Kläger ausgeübten Tätigkeit des Lehrhauers auch gleichwertig, wie das LSG ebenfalls zutreffend festgestellt hat.
Die Revision des Klägers muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.
Fundstellen