Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausfallzeit. Arbeitsunfähigkeit von mindestens einem Kalendermonat. Anrechenbarkeit bis zum Eintritt des Versicherungsfalles
Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung, ob eine - die versicherungspflichtige Beschäftigung (Tätigkeit) unterbrechende - Arbeitsunfähigkeit iS des AVG § 36 Abs 1 Nr 1 "mindestens einen Kalendermonat" gedauert hat, ist auch die Zeit zu berücksichtigen, in der die Arbeitsunfähigkeit nach Eintritt des Versicherungsfalles fortbestanden hat.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. August 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob der Kläger ein höheres Altersruhegeld unter zusätzlicher Anrechnung einer Ausfallzeit beanspruchen kann.
Unter dem Vorbehalt, daß die Beiträge nach dem im voraus bescheinigten Arbeitsentgelt noch entrichtet würden, hatte die Beklagte dem am 24. März 1907 geborenen Kläger durch Bescheid vom 10. Februar 1972 Altersruhegeld ab April 1972 bewilligt und Beitragszeiten bis Ende März 1972 berücksichtigt. Der Kläger wurde jedoch ab 22. Februar 1972 arbeitsunfähig krank und bezog seitdem kein Arbeitsentgelt mehr. Durch Bescheid vom 5. Mai 1972 berechnete die Beklagte deshalb unter Aufhebung des früheren Bescheides das Altersruhegeld neu; sie legte nunmehr nur eine Versicherungszeit bis zum 21. Februar 1972 zugrunde. Der Kläger machte die Zeit vom 1. bis 31. März 1972 als Ausfallzeit geltend. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) gaben der Klage statt. Das LSG hielt das Klagebegehren für gerechtfertigt, weil die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Ausfallzeit ausschließlich in Ziffern 1 - 6 des § 36 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) geregelt und hier in der Nr. 1 erfüllt seien; die versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers sei am 22. Februar 1972 durch die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bis zum 31. März 1972 und somit "mindestens einen Kalendermonat" unterbrochen worden. Die Ausfallzeit wäre zwar nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AVG an sich nur bis zum Eintritt des Versicherungsfalles des Alters (24.3.1972) anrechenbar; im Hinblick auf Absatz 4 sei sie aber für den vollen Monat März 1972 anzurechnen.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 36 Abs. 1 AVG. Bei Feststellung der in Nr. 1 geforderten Dauer der Arbeitsunfähigkeit von "mindestens einem Kalendermonat" seien Zeiten nach Eintritt des Versicherungsfalles nicht zu berücksichtigen.
Der Kläger ist vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Für sein Klagebegehren beruft sich der Kläger nicht auf den ihm am 10. Februar 1972 unter Vorbehalt erteilten ersten Rentenbescheid; er bestreitet nicht, daß die Beklagte mit Bescheid vom 5. Mai 1972 eine neue Rentenberechnung durchführen durfte (vgl. SozR Nr. 82 zu § 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Der Monat März 1972 kann dem Kläger deshalb nur dann rentensteigernd angerechnet werden, wenn die §§ 35, 36 AVG seine Anrechnung als Ausfallzeit zulassen. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das der Fall.
Von den in Betracht kommenden Bestimmungen des § 36 AVG ist hier nur die in Abs. 1 Nr. 1 AVG und diese auch nur insoweit streitig, als sie verlangt, daß die versicherungspflichtige Beschäftigung "mindestens einen Kalendermonat" unterbrochen worden ist (zur Auslegung des Unterbrechungsbegriffs vgl. BSG 25, 18). Die Beklagte kann dem LSG insoweit nicht vorhalten, es habe den Gesetzes text falsch ausgelegt. Das LSG weist zutreffend darauf hin, daß der Tatbestand des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG seinem Wortlaut nach erfüllt ist; die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Klägers hat seine versicherungspflichtige Beschäftigung vom 22. Februar bis 31. März 1972 und damit mindestens einen Kalendermonat unterbrochen. Abs. 1 Nr. 1 enthält keine zeitliche Grenze für die Feststellung der erforderlichen Unterbrechungsdauer; er bestimmt insbesondere nicht, daß es nur auf die Unterbrechungsdauer bis zum Eintritt des Versicherungsfalles ankommt. Das ergibt sich auch nicht aus einem Vergleich von Abs. 1 Nr. 1 mit Abs. 2 Satz 1. Nach letzterem werden Ausfallzeiten "längstens bis zum Eintritt des Versicherungsfalles angerechnet"; diese Formulierung wie auch die Eingangsworte des Absatzes 1: "Ausfallzeiten im Sinne des § 35 sind (Nr. 1) Zeiten ..." lassen sich vom Wortlaut her nur dahin verstehen, daß Ausfallzeiten noch nach Eintritt des Versicherungsfalles fortbestehen können, dann aber nicht mehr auf diesen Versicherungsfall anrechenbar sind. Von daher ist es folgerichtig, zunächst den Tatbestand des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu prüfen und die Unterbrechungsdauer insgesamt festzustellen, ohne Rücksicht darauf, ob inzwischen ein Versicherungsfall eingetreten ist.
Die Beklagte möchte ihre Auffassung demgegenüber auf allgemeine versicherungsrechtliche Prinzipien stützen. Sie weist auf Bestimmungen hin (§§ 1246 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -, 1255 Abs. 8 RVO), die für Renten wegen Berufsunfähigkeit die Erfüllung der Wartezeit vor Eintritt des Versicherungsfalles verlangen und bei der Rentenberechnung nur die Berücksichtigung der vor dem Eintritt des Versicherungsfalles entrichteten Beiträge zulassen. Diese Bestimmungen geben für die Auslegung des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG jedoch keine Hilfe; ihnen entspricht im Rahmen des § 36 AVG dessen Absatz 2; er kommt hier zur Anwendung und begrenzt die anrechenbare Ausfallzeit auf die bis zum Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegte Zeit. § 36 Abs. 4 steht dem nicht entgegen.
Allerdings beruft sich die Beklagte noch (unter Hinweis auf Hanow/Lehmann/Bogs, 5. Aufl., Anm. 50 zu § 1259 RVO) auf ein weiteres Prinzip, wonach für einen Versicherungsfall Zeiten nicht berücksichtigt werden dürften, die erst durch Tatbestände, die nach dem Eintritt dieses Versicherungsfalles liegen, anrechenbar würden. Dieser Gedanke hat zwar manches für sich; als durchgängig zu beachtendes Prinzip kann er jedoch nicht anerkannt werden. § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG verlangt z. B. auch die Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit in den Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen; ohne diesen "Tatbestand" ist die Arbeitsunfähigkeit keine Ausfallzeit im Sinne des § 35 AVG; dieser Tatbestand muß aber wohl noch nach Eintritt des Versicherungsfalles zu erfüllen sein.
Auch Sinn und Zweck des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG gebieten nicht die von der Beklagten erstrebte einengende Auslegung dieser Vorschrift. Das Zeiterfordernis für die Unterbrechungsdauer von mindestens einem Kalendermonat soll einen rentenversicherungsrechtlichen Ausgleich für kürzere Beitragsausfälle ausschließen. Damit ist die dem Wortlaut entsprechende Auslegung durch das LSG vereinbar. Zu denken ist auch nicht allein an den hier vorliegenden Fall, daß ein Versicherungsfall des Alters eingetreten ist; während einer Ausfallzeit kann z. B. auch ein Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit eintreten und ihm kann später ein Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit folgen; in diesem Falle wären gemäß § 30 Abs. 2 Satz 4 AVG beim Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit "Ausfallzeiten, die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zurückgelegt wurden, ... zusätzlich zu berücksichtigen". Würden hier jeweils allein die Zeiten vor bzw. nach dem Eintritt des Versicherungsfalles gesehen, so könnten Zeiten, obwohl sie insgesamt die in § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG bestimmte Zeit erreichen, bei beiden Versicherungsfällen unberücksichtigt bleiben.
Jedenfalls aber können die von der Beklagten vorgetragenen versicherungsrechtlichen Erwägungen nach alledem nicht als so überzeugend und zwingend erachtet werden, daß die gegenteilige, sich am Gesetzeswortlaut und -aufbau orientierende Auslegung als verfehlt erscheinen müßte; der erkennende Senat gibt ihr deshalb den Vorzug.
Hiernach ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen