Entscheidungsstichwort (Thema)
Familienhilfe. Befreiung von der Versicherungspflicht. Solidargemeinschaft. Schutzbedürftigkeit
Leitsatz (amtlich)
Dem Anspruch auf Familienhilfe für die Ehefrau des Versicherten steht nicht entgegen, daß sich diese nach 2. KVÄG Art 4 § 2 von der Versicherungspflicht hat befreien lassen.
Normenkette
KVÄG 2 Art. 4 § 2 Fassung: 1970-12-21; RVO § 205 Abs. 1 Fassung: 1970-12-21; KVLG § 32 Abs. 1 Fassung: 1972-08-10
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Familienhilfe nach § 32 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) vom 10. August 1972 für seine Ehefrau zusteht.
Als Inhaber eines Gartenbaubetriebes ist der Kläger bei der Beklagten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 KVLG versichert. Die Ehefrau ist im Betrieb gegen monatlich 800,- DM netto beschäftigt. Sie war bis zum Inkrafttreten des Zweiten Krankenversicherungs-Änderungsgesetzes (2. KVÄG) vom 21. Dezember 1970 (BGBl I 1770) nach § 175 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF versicherungsfrei; anschließend ließ sie sich gemäß Art. 4 § 2 des Gesetzes durch die damals zuständige Landkrankenkasse von der Versicherungspflicht befreien. Der Kläger hatte im Jahre 1972 Einkünfte in Höhe von über 77.000,- DM; Anhaltspunkte für eine wesentliche Änderung in der Folgezeit hat das Landessozialgericht (LSG) verneint.
Im Oktober 1973 beantragte der Kläger die Gewährung von Familienhilfe. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 29. November 1973 einen solchen Anspruch für die Ehefrau ab, weil sie sich gegen die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung und für die Selbstvorsorge entschieden habe. Die Klage wurde im ersten Rechtszug abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG die Vorentscheidungen aufgehoben und einen Anspruch des Klägers auf Familienhilfe für seine Ehefrau festgestellt. Da die Voraussetzungen des § 32 KVLG erfüllt seien, sei der Anspruch auf Familienhilfe schon dem Gesetzeswortlaut nach zu bejahen. Die gegenteilige Auffassung lasse sich nicht mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. Oktober 1970 (BSG 32, 13) begründen, die dortigen Erwägungen (zu § 205 RVO) ließen sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen. Der Ausschluß aus der Solidargemeinschaft durch den Befreiungsantrag sei nicht entscheidend; anderenfalls müßte Anspruch auf Familienhilfe auch dann verneint werden, wenn eine Möglichkeit zum freiwilligen Beitritt oder zur Weiterversicherung nicht wahrgenommen worden sei; nach der Rechtsprechung des BSG könne aber in solchen Fällen ein Anspruch auf Familienhilfe nicht versagt werden.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 32 KVLG.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger kann Familienhilfe für seine Ehefrau beanspruchen.
Nach § 32 Abs. 1 KVLG erhält der Versicherte Familienhilfe für den unterhaltsberechtigten Ehegatten, soweit dieser nicht anderweit einen gesetzlichen Anspruch auf entsprechende Leistungen hat und sich gewöhnlich im Inland aufhält. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Dies bestreitet auch die Beklagte nicht. Entgegen ihrer Auffassung steht dem Anspruch des Klägers auf Familienhilfe aber auch nicht entgegen, daß sich die Ehefrau nach Art. 4 § 2 des 2. KVÄG von der Versicherungspflicht hat befreien lassen. Das hat das LSG zutreffend dargelegt. Das Revisionsvorbringen greift demgegenüber nicht durch.
Der Anspruch auf Familienhilfe kann nicht mit der Erwägung verneint werden, daß sich die Ehefrau durch den Befreiungsantrag "von der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen" habe. § 32 KVLG macht den Anspruch davon abhängig, daß der Ehegatte keinen anderweitigen Anspruch auf entsprechende Leistungen hat. Darauf, ob er einen solchen Anspruch hätte erlangen können, kommt es nicht an (vgl. BSG 19, 282, 284). Das gilt ohne Rücksicht darauf, ob der Ehegatte eine auf Erlangung eigenen Krankenversicherungsschutzes gerichtete Handlung unterlassen oder eine diesen Schutz ausschließende Handlung vorgenommen hat. Der Versicherungsträger darf in beiden Fällen an ein derartiges Verhalten keine Rechtsnachteile anknüpfen, die das Gesetz nicht vorsieht.
Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem Sinn und Zweck, den der Gesetzgeber mit dem 2. KVÄG, insbesondere mit dessen Befreiungsvorschrift, verfolgt hat. Die bei ihren Ehegatten beschäftigten Arbeitnehmer (Ehegatten-Arbeitnehmer) unterlagen vor 1971 nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Gleichwohl konnte der Ehegatten-Arbeitgeber für den bei ihm beschäftigten Ehegatten-Arbeitnehmer nach § 205 Abs. 1 RVO, der § 32 KVLG im wesentlichen entspricht, Anspruch auf Familienhilfe haben. Mit der Streichung des § 175 RVO durch das 2. KVÄG wurden die Ehegatten-Arbeitnehmer allerdings versicherungspflichtig, sie erlangten damit eigene Versicherungsansprüche, so daß Familienhilfe für sie entfiel. Diese Rechtsfolgen konnten sie durch einen - befristeten - Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach Art. 4 § 2 des 2. KVÄG ausschließen. Hierdurch sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich einen erworbenen anderen Versicherungsschutz zu erhalten (vgl. BT-Drucks. VI/1130 Anl. 2 Nr. 4 iVm BT-Drucks. V/1047 und VI/1297). Einen solchen Versicherungsschutz bot - neben einer Privatversicherung - auch ein Anspruch des Ehegatten-Arbeitgebers auf Familienhilfe. Das auf Wahrung eines bestehenden Versicherungsschutzes gerichtete Ziel der Befreiungsvorschrift schließt es aus, hier die Rechtsänderung im Sinne einer Verschlechterung des am 1. Januar 1971 bestehenden Zustandes auszulegen. Hierzu besteht um so weniger Anlaß, als die Ehegatten-Arbeitnehmer nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 RVO der Versicherung regelmäßig hatten beitreten und damit zwischen eigenem Krankenversicherungsschutz und dem Schutz über die Familienhilfe hatten wählen können. Hätte der Gesetzgeber hier anderes gewollt, so hätte das im Gesetz seinen Niederschlag finden müssen.
Das Urteil des 3. Senats (BSG 32, 13) betrifft einen anders gelagerten Fall. Dort ging es darum, ob ein Versicherter auch für einen Ehegatten Familienhilfe erhalten kann, dessen Jahresarbeitsverdienst die Krankenversicherungspflichtgrenze überschreitet. Der 3. Senat hielt es für widersprüchlich, solchen Personen, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht schutzbedürftig seien, über die Familienhilfe den Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung zuzubilligen. Von einem solchen Widerspruch kann hier keine Rede sein. Die Befreiungsvorschrift des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG läßt nicht die Deutung zu, daß der Gesetzgeber die Ehegatten-Arbeitnehmer, die von der Befreiungsmöglichkeit Gebrauch machen, für ebensowenig schutzbedürftig erachte wie Arbeitnehmer mit einem Arbeitsentgelt über der Jahresarbeitsverdienstgrenze.
Nach alledem war die Revision zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen