Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenanpassung. Berechnungsfehler. Bindung
Orientierungssatz
Der Versicherungsträger ist bei der Anpassung der nach den §§ 30 ff AVG berechneten Renten auf Grund der Rentenanpassungsgesetze an eindeutig falsch ermittelte bisherige Berechnungsfaktoren nicht gebunden; er kann vielmehr die falschen durch die richtigen Berechnungsfaktoren ersetzen, muß jedoch in jedem Falle mindestens den bisherigen Zahlbetrag der Rente weitergewähren (vgl BSG 1966-02-15 11 RA 289/65 = BSGE 24, 236).
Normenkette
AVG § 30; RVO § 1253; RAG 6; RAG 7
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 22.04.1965) |
SG Bremen (Entscheidung vom 30.11.1964) |
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 22. April 1965 aufgehoben.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 30. November 1964 wird zurückgewiesen.
3. Kosten sind dem Kläger auch für das Berufungs- und Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I
Mit Bescheid vom 9. Oktober 1958 gewährte die Beklagte dem Kläger, geboren am 24. April 1892, vom 1. April 1957 an Altersruhegeld, das sie nach § 31 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) berechnete und auf monatlich 210,80 DM feststellte. Diese Rente erhöhte sich mehrfach auf Grund der Rentenanpassungsgesetze, sie betrug im Jahre 1963 auf Grund des Fünften Rentenanpassungsgesetzes (RAG) 270,80 DM monatlich.
Am 29. November 1963 erteilte die Beklagte dem Kläger, den sie bereits im Mai 1961 auf die Unrichtigkeit der Rentenberechnung hingewiesen hatte, einen mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenen "Bescheid", in dem sie ausführte, die Rente sei nicht richtig berechnet worden, weil für die Zeit von Juli 1920 bis Juli 1921 nur halbe Beiträge entrichtet worden seien; die Rente betrage statt monatlich 270,80 DM nur 231,20 DM; da der derzeitige monatliche Zahlbetrag jedoch besitzgeschützt sei, werde die Rente in der bisherigen Höhe weitergezahlt. Die Beklagte behielt sich vor, die Rente in Zukunft erst dann anzupassen, wenn die richtig berechnete und richtig angepaßte Rente den derzeitigen zu hohen monatlichen Zahlbetrag übersteige. Der Kläger erhob Klage beim Sozialgericht (SG) Bremen. Während des Verfahrens vor dem SG erließ die Beklagte den Bescheid vom 18. August 1964; sie "berichtigte" in diesem Bescheid zugunsten des Klägers einen weiteren Fehler in der bisherigen Rentenberechnung (zu niedrige persönliche Rentenbemessungsgrundlage), paßte gleichzeitig die richtig berechnete Rente nach dem 6. RAG an und stellte sie in Höhe von 252,20 DM fest; die Rente wurde jedoch dem Kläger weiterhin in der bisherigen Höhe von 270,80 DM gewährt. Der Kläger wandte sich auch gegen diesen Bescheid, weil bei allen späteren Rentenanpassungen von dem Rentenzahlbetrag nach dem 5. RAG in Höhe von 270,80 DM auszugehen sei. Das SG wies die Klage ab (Urteil vom 30. November 1964). Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den "Bescheid" der Beklagten vom 29. November 1963 auf; es verurteilte die Beklagte, den Bescheid vom 18. August 1964 dahin abzuändern, daß bei der Durchführung des 6. RAG als Rentenzahlbetrag der Betrag von 270,80 DM zugrunde gelegt werde, und diesen Betrag auch bei der Durchführung des 7. RAG als Rentenzahlbetrag nach dem 5. RAG zugrunde zu legen (Urteil vom 22. April 1965). Es führte aus: Die Rente des Klägers sei zwar in dem Bescheid vom 9. Oktober 1958 unrichtig - zu hoch - festgestellt worden, dieser Bescheid sei aber nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend geworden, es fehle an einer gesetzlichen Vorschrift, die etwas anderes bestimme. Die Voraussetzungen des § 79 AVG nF oder des § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien nicht gegeben. Es handele sich auch nicht um einen Rechenfehler oder eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit, die in entsprechender Anwendung von § 138 SGG "berichtigt" werden könne. Es liege ferner auch nicht eine fehlerhafte Anpassung im Sinne von § 9 Abs. 2 des 5. RAG, Art. III § 3 Abs. 2 des 6. RAG und § 14 Abs. 2 des 7. RAG vor. Die drei ersten Rentenanpassungsgesetze, die an den Rentenzahlbetrag als Anpassungsbetrag anknüpften, böten nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Dezember 1964 (SozR Nr. 1 zu § 3 des 1. RAG) keine Handhabe zu einer Korrektur von Fehlern in dem (ersten) Rentenbescheid; das 4. RAG und die folgenden Rentenanpassungsgesetze, die nicht mehr an den Rentenzahlbetrag anknüpften, hätten eine Richtigstellung nach dem Urteil des BSG vom 30. März 1965 (SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 32 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNS -) allenfalls befristet - bis 31 Dezember 1962 - zugelassen, diese Frist sei bei Erlaß des "Bescheides" vom 29. November 1963 abgelaufen gewesen. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Beklagten am 22. Juni 1965 zugestellt.
Am 2. Juli 1965 legte die Beklagte Revision ein, sie beantragte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Bremen vom 30. November 1964 zurückzuweisen.
Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist begründete sie die Revision am 6. August 1965: Die unrichtigen Berechnungsfaktoren in dem Bescheid vom 9. Oktober 1958, die zur Feststellung einer zu hohen Rente geführt hätten, nähmen an der Bindungswirkung des Bescheides nicht teil; die Bindungswirkung erstrecke sich nur auf den zuletzt in Höhe von 270,80 DM festgestellten Rentenbetrag, dieser Betrag sei durch die Bescheide vom 29. November 1963 und vom 18. August 1964 nicht angetastet worden. Falls sich aber die Bindungswirkung auf die Berechnungsfaktoren erstrecke, habe die Beklagte den Fehler in den angefochtenen Bescheiden richtigstellen dürfen, sei es nach § 138 SGG, sei es nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte, die jedenfalls dann anzuwenden seien, wenn es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung für die Berichtigung oder Rücknahme fehle, wie dies hinsichtlich der Richtigstellung fehlerhafter Berechnungsfaktoren bei den Rentenanpassungen der Fall sein würde.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Er berief sich auf die Bindungswirkung des Bescheides vom 9. Oktober 1958; da auch nach der Auffassung der Beklagten der auf der Grundlage dieses Bescheides errechnete Rentenbetrag nach dem 5. RAG in Höhe von 270,80 DM "besitzgeschützt" sei, müsse die Beklagte auch bei den Rentenanpassungen nach dem 6. RAG und den späteren Rentenanpassungen von diesem Betrag ausgehen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.
Das LSG hat der Anfechtungsklage gegen den "Bescheid" vom 29. November 1963 sehen deshalb nicht stattgeben dürfen, weil diese Klage unzulässig gewesen ist. Die Beklagte hat "Bescheide" dieser Art in zahlreichen Fällen erlassen. Wie der Senat bereits in den Urteilen vom 15. Februar 1966 (SozR Nr. 1 zum 6. RAG Art. I § 2) und vom 28. Juni 1966 - 11 RA 50/66 - entschieden hat, fehlt diesen "Bescheiden" die Eigenschaft eines Verwaltungsaktes. Die Beklagte hat damit ihr Rechtsverhältnis zu den Beteiligten nicht verbindlich geregelt, auch nach ihrer eigenen Vorstellung sollten diese "Bescheide" keine unmittelbaren Rechtswirkungen haben. Es fehlt somit an einer Maßnahme, die dem Kläger gegenüber wirksam und deshalb Gegenstand einer Anfechtungsklage sein könnte. Der "Bescheid" vom 29. November 1963 brauchte und durfte daher nicht aufgehoben werden. Er hatte ohnedies keine Rechtswirkungen. Zwar hat das auch das SG verkannt, es hat die Klage auf Aufhebung des "Bescheides" vom 29. November 1963 zu Unrecht aus sachlichen Gründen abgewiesen, insoweit ist aber die Beklagte durch das Urteil des SG nicht beschwert. Sie wendet sich jedoch mit der Revision zu Recht dagegen, daß das LSG den Bescheid vom 18. August 1964 für rechtswidrig gehalten hat. Dieser Bescheid ist nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden, obwohl der "Bescheid" vom 29. November 1963 kein Verwaltungsakt gewesen ist und der Bescheid vom 18. August 1964 diesen "Bescheid" deshalb hat weder "abändern" noch "ersetzen" können. Wie der Senat bereits in dem Urteil vom 15. Februar 1966 - 11 RA 289/65 - (veröffentlicht in "Die Angestelltenversicherung" 1966, 70) ausgeführt hat, ist § 96 SGG auch dann anzuwenden, wenn eine Verwaltungsbehörde in einem angefochtenen "Bescheid" in scheinbar verbindlicher Weise ein bestimmtes künftiges Verhalten angekündigt hat und später entsprechende Verwaltungsakte erläßt.
Das LSG ist zu Unrecht der Auffassung gewesen, die Beklagte habe mit dem Bescheid vom 18. August 1964 gegen die Bindungswirkung des Rentenfeststellungsbescheides vom 9. Oktober 1958 verstoßen. Aus den vom Senat in dem Urteil vom 15. Februar 1966 dargelegten Gründen (insoweit ist das Urteil in SozR Nr. 1 zum 6. RAG Art. I § 2 veröffentlicht) ist der Versicherungsträger bei der Anpassung der nach den §§ 30 ff AVG berechneten Renten auf Grund des 6. und 7. RAG (vgl. Art. I bzw. erster Abschnitt § 2 Abs. 1 dieser Gesetze, ferner die entsprechenden Vorschriften des 4., 5. und 8. RAG) an eindeutig falsch ermittelte bisherige Berechnungsfaktoren nicht gebunden; er kann vielmehr die falschen durch die richtigen Berechnungsfaktoren ersetzen, muß jedoch in jedem Falle mindestens den bisherigen Zahlbetrag der Rente weitergewähren (das gleiche gilt nach dem Urteil des Senats vom 28.6.1966 - 11 RA 50/66 - für die Anpassung der nach Art. 2 §§ 31 bis 34 AnVNG umgestellten Renten). Der Senat hat dies im wesentlichen mit der Erwägung begründet, das Anpassungsverfahren nach dem 4. RAG und den späteren Rentenanpassungsgesetzen für diese beiden Rentengruppen knüpfe grundsätzlich nicht mehr an den Rentenzahlbetrag im Januar des Anpassungsjahres an, im Prinzip sei jetzt nur noch das Ergebnis vorgeschrieben, das die Anpassung zu erreichen habe; das Anpassungsziel werde nunmehr in beiden Rentengruppen durch die Berücksichtigung der in den §§ 2 und 3 im ersten Artikel bzw. Abschnitt des 6. und 7. RAG erwähnten Berechnungsfaktoren erreicht; die Bindungswirkung des Bescheids erfasse nicht die Berechnungsfaktoren der Renten. In dem Urteil vom 15. Februar 1966 hat der Senat dargelegt, der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 des ersten Art. bzw. Abschnitts des 6. und 7. RAG - dort heißt es, die das Anpassungsergebnis bestimmende Neuberechnung müsse abgesehen von der allgemeinen Bemessungsgrundlage und der Beitragsberechnung "ohne Änderung der übrigen Berechnungsfaktoren" erfolgen - stelle für sich allein nicht ein absolutes Änderungsverbot für die von der Regel abweichenden Fälle dar, in denen Berechnungsfaktoren eindeutig falsch ermittelt worden sind. Er hat weiter dargelegt, ein solches absolutes Änderungsverbot würde auch nicht dem Wesen der Rentenanpassung entsprechen, weil durch die Anpassung die Rentner zwar auf Grund ihrer früheren Tätigkeit im Arbeits- und Wirtschaftsleben an einer etwaigen Verbesserung des Einkommens der erwerbstätigen Versicherten beteiligt werden sollen, dies aber nur insoweit sinnvoll sei, als die Anpassung der tatsächlichen Arbeits- und Beitragsleistung entspreche, sonach nicht auf der Grundlage von Berechnungsfaktoren, die der Arbeits- und Beitragsleistung der Rentner in Wirklichkeit nicht entsprechen. Schließlich hat der Senat ausgeführt, eine Bindung der Versicherungsträger an falsch ermittelte Berechnungsfaktoren sei auch nicht durch Erwägungen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geboten. Dieser Auffassung des Senats steht das Urteil des 12. Senats des BSG vom 30. März 1965, SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 31 ArVNG, nicht entgegen; dort ist darüber entschieden worden, innerhalb welches Zeitraumes fehlerhafte, den Versicherten begünstigende Mitteilungen der Deutschen Bundespost über die Umstellung einer Rente vom Versicherungsträger "richtiggestellt" oder, falls diese Mitteilungen als Verwaltungsakte anzusehen wären, zurückgenommen werden dürfen; um eine solche Mitteilung handelt es sich im vorliegenden Falle nicht; zwar hat sich das BSG in jenem Urteil für seine Auffassung, die Richtigstellung bzw. Rücknahme fehlerhafter Umstellungsmitteilungen sei nur befristet zulässig, auf die Vorschriften der Rentenanpassungsgesetze berufen (vgl. § 7 des 1. RAG und die entsprechenden Vorschriften der späteren Rentenanpassungsgesetze, § 9 Abs. 2 des 5. RAG, Art. III § 3 Abs. 2 des 6. RAG, § 14 Abs. 2 des 7. RAG), die eine "Berichtigung" fehlerhafter Anpassungen befristen; im vorliegenden Falle handelt es sich aber nicht um die Berichtigung einer fehlerhaften Anpassung; abgesehen davon, daß im vorliegenden Falle der Fehler nicht bei der Anpassung gemacht worden ist, sondern bei Erlaß des Rentenbescheids, geht es hier allein um die Frage, ob Fehler des Rentenbescheides, die sich auf die Höhe der Rente in früheren Anpassungsbescheiden ausgewirkt haben, auch bei weiteren Anpassungen fortwirken dürfen. Dies ist zu verneinen.
Das SG hat sonach im Ergebnis zu Recht die Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 18. August 1964 abgewiesen.
Das LSG hat das Urteil des SG zu Unrecht aufgehoben.
Auf die Revision der Beklagten ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen